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S. Er ist derjenige, der sich um Lina kümmert. Er ist derjenige, der zuverlässig und aufmerksam auf sie aufpasst, ihr zu essen, Trost und Liebe gibt, der sie jeden Abend zudeckt, wenn Schlafenszeit ist. Das ist selbstverständlich, ja, natürlich, für die Monate, die ich weg bin. Das sage ich mir immer wieder. Ich könnte Lina hier draußen unmöglich bei mir haben. Das unberechenbare Wetter, die Touren zum Vogelfelsen, die vielen Wochen der Einsamkeit, abgeschnitten vom Rest der Welt. Ich würde gar nicht zum Arbeiten kommen, kein bisschen.

Also noch einmal: Im Grunde ist es selbstverständlich. Aber wie so viele andere Selbstverständlichkeiten im Leben von S. und mir ist auch diese das Ergebnis eines erbitterten emotionalen Kampfes. Ich habe ihm Lina überlassen, habe die Verantwortung und das Sorgerecht für sie widerspruchslos abgegeben, ohne zu protestieren, und zwar nicht, um mich von meinen Schuldgefühlen freizukaufen, und auch nicht aufgrund seines Verhaltens, wegen der vielen beunruhigenden Vorfälle. Sondern, weil er mir ganz konkret gedroht hat.

S.: Wenn du Lina kriegst, kriege ich dich.

S.: Wenn ich sie bekomme, lasse ich dich vielleicht in Ruhe.

S.: Ich kenne dich, ich kenne deinen wunden Punkt.

S.: Ich finde euch, egal, wo ihr seid.

Ich sitze am Tisch. Überprüfe die letzten Messungen, die ich vom Datenlogger und der Boje im Meer unmittelbar vor mir heruntergeladen habe. Es ist dunkel. Die einzige Lichtquelle ist der Computer, ein blauweißes Rechteck aus Licht, das ins Zimmer fällt, mich anzieht wie die Tür zu einem Geheimversteck. Natürlich muss ich mir die Frage stellen, oder besser gesagt: zugeben, was zumindest teilweise der Grund dafür ist, dass ich mich in diesem Moment so weit weg, meilenweit entfernt von anderen Menschen und der Zivilisation befinde – und bis jetzt auch noch vollkommen allein.

Ich habe mich versteckt. Das habe ich. Mich wie eine piepsende Maus vergraben, aus Angst vor der Wut, der Macht der Worte, mit denen S. mich bedroht hat. Worte, die mir schon die Kehle zuschnürten und den Atem nahmen, lange bevor es ihm gelang, mich auch physisch zu treffen. Ich kann mir nicht länger etwas vormachen. Meine Forschung ist von Ehrgeiz getrieben, von dem festen Willen, das Ziel zu erreichen, das ich mir gesteckt habe, ja; aber ich habe das Projekt auch bewusst vorangetrieben, habe vielleicht sogar überstürzte Entscheidungen getroffen, weil ich mich genötigt sah, ihm einen plausiblen Grund zu nennen, warum ich wegmusste, ein konkretes Vorhaben, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Die Finanzierung hatte ich bereits geklärt. Für die Vorbereitungen brauchte ich ein halbes Jahr. Und jetzt bin ich hier. S.’ allsehendem Blick entzogen, und hoffentlich auch aus seinen Gedanken verschwunden. Aber für wie lange?

Es ist dunkel, so furchtbar dunkel. Ich zünde die Wandleuchten an. Die Lampe über dem Herd. Die Dunkelheit ist wie Erde, ich grabe mich weiter voran, bis zu dem Punkt, an den ich bei Tageslicht, in der leichten Durchsichtigkeit der Dinge, selten komme. Ich fröstele, reibe mir die Oberarme. Wenn es doch nur eine objektive Wahrheit gäbe! Eindeutig und unerschütterlich. Aber ebenso wie für Gefühle gibt es für sie keinen Maßstab. Keinen festen Richtwert. Sie ist unstet, ändert Richtung und Farbe, und in diesem Moment hat sie zwei Seiten, lässt sich von einer konkreten, vermeintlich objektiven Absicht herleiten, unterliegt zugleich aber auch meinen subjektiven Gefühlen. Denn wahr ist auch das: Ich habe einen Freiraum geschaffen, Platz für Jo und mich. Ein Nest, in dem wir miteinander schlafen und uns lieben und in einer konturlosen, allumfassenden Sphäre verschwinden können, ohne Einmischungen, Konfrontationen und Störungen, weit, weit weg von S., der nichts davon weiß, nicht die geringste Ahnung von meinem eigentlichen Plan hat und welchen Lohn ich für meine Mühen vorgesehen habe.