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Es lässt sich nicht länger aufschieben. Ich muss mich mit mir auseinandersetzen, Fragen beantworten, die ich mir bisher noch nicht gestellt habe. Vor allem die: Wie kann ich mir sicher sein, dass S. sich so um Lina kümmert, wie sie es braucht?

Noch immer begreife ich den einen besonderen Zug an S.’ ansonsten so sperriger Persönlichkeit nicht: wenn er einem plötzlich und unvermittelt die größte Aufmerksamkeit schenkt, die man sich nur vorstellen kann. Normalerweise wirkt er ziemlich unnahbar und beherrscht, doch dann überrollt er einen plötzlich beinahe gewaltsam mit Zuwendung – was durchaus anziehend sein kann, weil sich darin eine grenzenlose Hingabe auszudrücken scheint. Möglicherweise war es diese überströmende Aufmerksamkeit, in die ich mich damals verliebte, denn ich fühlte mich dadurch stark und bedeutsam. Doch als sie sich nach und nach in Kontrollzwang verwandelte, er von mir eine geradezu symbiotische Nähe verlangte, fühlte ich mich einfach nur noch leer.

Es fällt mir nicht schwer, mich an das Gefühl zu erinnern, festzusitzen und nicht mehr herauszukommen, die Fliege im Spinnennetz zu sein, Lebendfutter für einen, der unter dem Deckmantel der Bedürftigkeit verlangt, dich in höherem Maße zu besitzen als du selbst. Gerade wegen dieser Haltung und wie er mich oft einfach zu sich zitierte und unmittelbare Nähe erzwang (um mich anschließend vielleicht noch zu beschuldigen, nicht präsent, nicht nah genug zu sein), wegen dieses konzentrierten Interesses, dieser intensiven Aufmerksamkeit glaube ich, dass er Lina auf seine Art guttut.

Darüber hinaus hoffe ich, dass Linas kindliche Zuneigung, ihre bloße Anwesenheit ihn besänftigt und ausgleicht, dass er mich dadurch irgendwann freigeben kann. Oder, anders gesagt: Indem ich Lina S. überlasse, stabilisiere ich ihn und rette mich selbst.

Bis dahin ist alles gut. Etwas ganz anderes ist es, wenn ich darüber nachdenke, woher seine Fürsorglichkeit kommt. Denn Fürsorge ist nicht gleich Fürsorge, wie bei den Seevögeln, wo Männchen und Weibchen sich instinktiv und natürlich die Aufgaben teilen. Nein, bei den Menschen ist Fürsorge oft ein Mittel, eine Methode, und für dich, S., bedeutet Fürsorge, Macht auszuüben; Lina ist dabei die Trophäe: Mit jeder Windel, die du in der Öffentlichkeit wechselst, vor der Familie oder vor Freunden, mit jedem Löffel, den du ihr in den Mund schiebst, jedem tröstenden Wort beweist du deine einzigartige Einsatzbereitschaft und was für eine elende, verantwortungslose Mutter ich bin. Aber das sage ich dir, S., verglichen mit einem anderen Vater, mit meinem Geliebten, deinem Rivalen, erscheint deine Fürsorge ebenso unzureichend, wie dir meine erscheint. Und ein Vergleich zwischen euch beiden ergibt:

Jo schenkt Fürsorge. Du führst sie nur aus.

Jo handelt intuitiv. Du tust nur, was du gelernt und begriffen hast.

Jo stellt seine Bedürfnisse zurück, egal wann es von ihm verlangt wird. Du tust, was man von dir erwartet, nicht mehr und nicht weniger.

Jos Fürsorge basiert auf einer natürlichen Wahrnehmung, einem Einfühlungsvermögen, das sich nicht messen lässt. Deine dagegen richtet sich nach festgelegten Standards.

Und nicht zuletzt: Für Jo ist Kümmern etwas Selbstverständliches, während du nur nach Selbstbestätigung suchst.

Also, komm nicht und erkläre mir, was Fürsorge bedeutet und dass du, S., ein aufopferungsvoller, selbstloser Vater bist. Du willst doch nur dein Selbstbild pflegen, wenn du mit Lina auf dem Arm herumstolzierst.

(Das sage ich. Ich, die es nicht einmal über sich bringt, an sie zu denken, an ihre Arme, ihre knubbeligen Finger, all das Runde, Weiche, ihr unbändiges Lachen, bei dem Brust und Schultern beben, ich, die sich nicht an die Umarmungen zu denken traut, an das Leuchten in ihren Augen, Lina am Abendbrottisch, beim Spielen, in ihrem Bett, bei mir zu Hause in meiner Wohnung. Ich, die ich mir kaum erlaube, sie zu vermissen, mich nach ihr zu sehnen, die ich meine Erinnerungen und Bilder beiseiteschiebe und mit Einbildungen und Tagträumen von einem Fremden übertöne, von Niels.)