Kapitel 12
NEW YORK, VEREINIGTE STAATEN

„Der beste Schlag meines Lebens“, sagte Roger Federer bei den US Open 2009.

Man könnte gut behaupten, dass er seitdem dafür bezahlt.

Den besagten Ball schlug Federer kurz vor dem Ende des Halbfinales gegen Novak Djokovic. Federer lag mit 2:0 Sätzen in Führung, und beim Stand von 5:6 und 0:30 aus Sicht von Djokovic servierte dieser gegen den drohenden Matchverlust. Im weiteren Verlauf schlug Djokovic einen Stoppball, Federer parierte. Djokovic konterte mit einem Lob-Volley, der Federer zu einem Sprint zurück an die Grundlinie zwang. Kurz bevor der Ball zum zweiten Mal aufschlug, traf ihn Federer zwischen seinen Beinen, mit dem Rücken zum Netz stehend. Der Ball flog cross und unerreichbar am verdutzten Djokovic vorbei.

0:40. Und obwohl Federer beim nächsten Punkt einen Return-Winner mit der Vorhand schmetterte und damit seinen 40. Matchgewinn in Folge bei den US Open besiegelte, wollten alle nur über jenen „Tweener“ sprechen (der Begriff leitet sich vom englischen Ausdruck „between-the-legs shot“ ab).

Es gibt schwierige Herausforderungen im Tennis: Man versuche nur einmal, einen kraftvollen Aufschlag mit einem Stopp zu kontern oder einen tiefen Lob mit einem angewinkelten Rückhand-Schmetterball zu beantworten (oder Nadal auf Sand zu besiegen).

Doch ein Tweener, der 2009 nur selten gespielt wurde, ist pure Show. Mit einer Handgelenksbewegung verwandelt er eine hochdefensive Position in einen Angriff. Obwohl er oft schiefgeht und häufig die falsche Schlagentscheidung darstellt, war Federers Tweener perfekt – anders als jener, den er Jahre zuvor beim Matchball gegen Safin in Australien versucht hatte.

„Dass ich ihn mit so viel Tempo und Präzision schlagen konnte, ist etwas, was einem nur sehr, sehr selten passiert“, sagte Federer.

Der ausnehmend gut getimte Winner ging vielleicht auf Federers tiefe Zufriedenheit nach seinen Titelgewinnen bei den French Open und in Wimbledon und der Geburt seiner Töchter zurück. Es war zudem der letzte Beweis seiner Fähigkeit, in New York über sich hinauszuwachsen, insbesondere gegen Djokovic, den er nun in drei aufeinander folgenden US Open besiegt hatte, darunter im Finale von 2007.

„Ich habe das Gefühl, dass er entspannter spielt“, sagte Djokovic. „Weil er jetzt Vater ist und geheiratet und alle Rekorde gebrochen hat. Er geht einfach auf den Platz und möchte so gut wie möglich spielen und gewinnen. Das macht ihn noch gefährlicher. Dieser Ball, den er da geschlagen hat – du hast die Reaktion des Publikums ja gesehen. Was soll ich dazu noch sagen?“

Wer hätte angesichts dieses schwindelerregenden Höhepunkts Federers die Vorhersage gewagt, dass seine Siegesserie bei den US Open bald abreißen und von einer langen Reihe von unerklärlichen Niederlagen abgelöst werden würde? Oder dass er nie wieder Djokovic in New York oder in irgendeinem anderen Best-of-Five-Match auf einem Hartplatz schlagen sollte?

Von den vielen Wendungen in Federers Karriere war diese eine der überraschendsten. Als ich an jenem Sonntagabend im Pressezentrum der US Open zwischen klappernden Tastaturen und unter Abgabedruck meinen neuesten Bericht für die New York Times verfasste, hatte ich jedenfalls keinerlei Vorahnung.

Juan Martin del Potros Kantersieg gegen Nadal mit 6:2, 6:2, 6:2 im anderen Halbfinale dieses Tages gab mir zwar zu denken, aber Nadal spielte mit einem Bauchmuskelriss und hatte sich durch ein Jahr voller Verletzungen gekämpft. Federer hatte alle sechs seiner bisherigen Spiele gegen den 20-jährigen del Potro gewonnen, einen mit seinen 1,98 Meter Länge bedrohlich großen, aber sanftmütigen Spieler, der für seine harten, flachen Grundlinienschläge bekannt ist. Seiner argentinischen Heimatstadt verdankt er den Spitznamen „Turm von Tandil“. Zwar hatte del Potro Federer kürzlich bei den French Open auf Sand in einen fünften Satz gezwungen, doch zu Jahresbeginn hatte Federer ihn bei den Australian Open vernichtend geschlagen. Die schnelle Oberfläche in New York, auf der die Bälle flacher abspringen, schien perfekt für Federer, um del Potro mit seinem wegrutschenden Slice Kopfschmerzen zu bereiten.

„Obwohl del Potro am Sonntag hervorragend gespielt hat, ist Federer der große Favorit“, schrieb ich.

Das Finale fand am frühen Montagabend statt, da Regen den Turnierplan durcheinandergewirbelt hatte. Es entpuppte sich als harter Schlagabtausch über fünf Sätze, mit Vorhand-Winnern und Zwischenrufen von Zuschauern, die bisweilen die Aufschlagbewegungen der Spieler störten.

Federer hatte gute Chancen, das Spiel zu bestimmen, schwächelte überraschenderweise aber. Im zweiten Satz gelang es ihm nicht, seinen Aufschlag zum Satzgewinn durchzubringen, und im Tiebreak des vierten Satzes spielte er nicht sein bestes Tennis und gab mit einem Doppelfehler den ersten Punkt ab. Es gelang ihm noch nicht einmal, ruhig zu bleiben: Gegen Ende des dritten Satzes legte er sich mit dem US-amerikanischen Stuhlschiedsrichter Jake Garner an, als del Potro sich nach einem Aus-Ruf des Linienschiedsrichters zu viel Zeit mit einer Challenge ließ.

Federer, der im Herzen Traditionalist ist, hatte die Einführung der elektronischen Ballverfolgung 2006 abgelehnt. Auch drei Jahre später ärgerte er sich noch darüber, dass ihm das System aufgezwungen wurde. Vielleicht erklärt das, warum ein Mann mit grandiosem Platzgefühl so oft mit seinen Interventionen falsch lag.

„Jetzt mal ehrlich!“, rief Federer, als er sich hinsetzte. „Ich durfte schon nach gefühlten zwei Sekunden nicht mehr challengen, aber er gönnt sich jedes Mal zehn oder so. Warum lassen Sie das zu? Haben Sie da drin irgendwelche Regeln oder was?“

Federer hatte hinsichtlich der späten Challenges nicht ganz unrecht, und Garner versuchte ihn zu beruhigen.

„Hören Sie auf, mir Ihre Hand zu zeigen“, schnauzte Federer ihn an. „Erzählen Sie mir nicht, dass ich den Mund halten soll, okay? Wenn ich reden will, dann rede ich. Mir ist scheißegal, was er gesagt hat. Ich sage nur, dass er zu lange wartet.“

Das war nicht der vorbildliche Federer, an den sich das Publikum gewöhnt hatte. Die Szenen erinnerten an Zeiten, in denen er reizbarer gewesen war, ein Anzeichen dafür, dass er Gefahr witterte – wie Monate zuvor in Miami, als er beim Spiel gegen Djokovic seinen Schläger zertrümmert hatte.

Del Potro, dessen Karriere durch schwere Handgelenks- und Knieverletzungen später beeinträchtigt war, ließ sich diese Chance nicht entgehen: Er preschte vor, konterte Federers Topspin-Bälle und fand erstaunlich mühelos Lücken, die es ihm ermöglichten, sich zu einem 3:6-7:6-4:6-7:6-6:2-Überraschungssieg durchzukämpfen.

Wer glaubt, dass das Publikum immer fest hinter Federer stünde, war bei diesem Finale nicht dabei. Die Sympathien waren gut verteilt, und als es ans Eingemachte ging, wirkte del Potro in seinem ersten Grand-Slam-Finale deutlich cooler als Federer in seinem 21.

Als ich den Wortwechsel mit Garner Revue passieren ließ, erinnerte ich mich an eine Beobachtung von Paul Dorochenko, Federers ehemaligem Konditionstrainer.

„Der Federer, den wir heute auf dem Spielfeld erleben, ist ein Kunstprodukt – ein Kunstprodukt des Marketings von Nike, es spiegelt die Werte wider, die das Tennis ausstrahlen soll: den Gentleman und so weiter“, erzählte er mir. „Aber tief im Inneren ist Federer nie ein Gentleman gewesen. Er ist ein Kämpfer. Wenn er Nadal lächelnd seine Hand ausstreckt, überzeugt mich das überhaupt nicht.“

Mit dieser Meinung ist er in der Minderheit, sie ist dazu ziemlich provokativ. Sind wir am Ende die Summe unserer Handlungen oder die Summe unserer Gedanken, gleich ob unterdrückt oder offen gezeigt?

Das Finale der US Open 2009 wirkte wie ein unbedachter Moment Federers. Er stach heraus, weil sein Verhalten auf dem Platz und abseits davon jahrelang so vorbildlich gewesen war. Zwei seiner Kindheitshelden – Sampras und Stefan Edberg – hatten dieselbe Zurückhaltung an den Tag gelegt, was aber auch irreführt, wenn man an andere große Meister denkt, die ihm vorausgingen: Jimmy Connors, John McEnroe und selbst Agassi, der jedenfalls zu Beginn seiner Karriere, bevor er seine philosophische Ader entdeckte, gern fluchte, bisweilen mit der Wahrheit auf Kriegsfuß stand und einmal in Richtung des Schiedsrichters gespuckt hatte.

Doch von allen Grand-Slam-Turnieren hat die US Open das größte Potenzial, an den Nerven zu zehren. Es ist das letzte der vier Turniere und kündigt das Ende einer langen Saison an, inklusive Jetlag und Rangkämpfen. Die Spieler müssen sich ebenso wie die Fans durch den Verkehr von Manhattan und Queens kämpfen, um das Gelände zu erreichen. Es ist ein Endsommer-Happening mit Cocktails, Tennisfanatikern, sonnengebräunten Bewohnern von Long Island und nächtlichem Gebrüll. Trotz des mittlerweile weitläufigen Geländes kann das Gedränge sehr erdrückend sein.

Federer, der an einem friedlicheren Ort aufgewachsen ist, hat der ganze Lärm lange nichts ausgemacht. Er hatte Manhattan lieben gelernt und bezog jedes Jahr ein anderes Hotel, um die Stadt auf neue Art zu erleben.

Am Freitag vor Beginn der US Open 2009 konnte ich ihn in seiner Suite im Peninsula mitten in Manhattan interviewen. Das makellose Zimmer zeugte von Mirkas Einfluss: Elf frisch bespannte Schläger waren auf dem Kamin aufgereiht; alle Griffe lehnten im gleichen Winkel an der Wand.

„Mirka greift mir unter die Arme, weißt du“, sagte Federer. „Ich schätze Ordnung. Ich war früher so unordentlich. Es gab mal eine Zeit, da wollte ich nicht, dass es aufgeräumt ist.“

„Vielleicht ist es heute schön, Ordnung in einer ungeordneten Welt zu haben“, schlug ich vor.

„Genau“, sagte Federer. „Vor allem hier, wo ich doch drei Wochen zu bleiben hoffe.“

Das hieß jedoch nicht, dass er hier Wurzeln schlagen wollte.

„Anfangs reden alle davon, was für ein Aufwand es ist“, sagte er. „Es geht immer nur darum, wie lange man zum Turnier unterwegs ist, das Gelände sei so groß, und da ist New York und der Verkehr und so weiter. Aber ich habe mir angewöhnt, diese Turniere mit anderen Augen zu betrachten. Was gibt es abseits des Spielfelds zu entdecken? Ich weiß, wie es auf der Anlage aussieht, das allein macht ein Turnier doch nicht aus. Man sollte auch schauen, was die Stadt zu bieten hat, und dies hier ist eine unglaubliche Stadt. Sie wird nie langweilig, es gibt immer etwas zu tun, die besten Restaurants, hervorragendes Shopping. Es ist wie ein großer Rausch.

Die Zeiten, als ich nur fernsehen und aufs Gelände und mit den anderen abhängen wollte, sind vorbei“, sagte er. „Ich bin jetzt in einer Phase, wo ich mehr von meinen Reisezielen sehen und die Geschichte des Landes verstehen will. Früher war alles ganz anders, denn wenn man seine Sache gut machen will und als kommender Champion gilt, dann saugt es einen auf. Dann will man dem gerecht werden, steht unter Druck und denkt den ganzen Tag lang nur ans Tennis. Das hat sich definitiv verändert. In den letzten drei Jahren und vor allem, seit ich die Nummer eins bin, habe ich eine neue Sicht aufs Tennis, das hat mir geholfen. Ich bin ausgeglichener. Ich spüre den Druck nicht mehr, obwohl er objektiv natürlich vorhanden ist. Dadurch habe ich viel mehr Spaß am Spiel.“

Ganz sicher haben ihm seine fünf Finalteilnahmen in Folge bei den US Open Spaß gemacht: in chronologischer Reihenfolge besiegte er Lleyton Hewitt, Andre Agassi, Andy Roddick, Djokovic und Andy Murray, ohne jemals in einen fünften Satz gezwungen zu werden.

Doch del Potro verhinderte 2009 einen sechsten Titelgewinn in Folge, ähnlich wie Nadal ihm einen sechsten Titelgewinn in Folge in Wimbledon verwehrt hatte.

„Fünf ist fantastisch“, sagte Federer in New York. „Sechs wäre ein Traum gewesen. Aber man kann nicht alles haben. Ich glaube, diesmal werde ich es schnell wegstecken, weil ich einfach einen tollen Sommer hatte.“

Trotzdem war es natürlich eine verpasste Chance, eine, die Federer in seinen besten Zeiten nicht verspielt hätte. Aber mit seiner Affinität zu schnellen Plätzen würde es sicher ein nächstes Jahr in Flushing Meadows geben.

Und tatsächlich gelangte Federer 2010 wieder in Reichweite des Titels: Am Ende eines weiteren Halbfinales gegen Djokovic erspielte er sich im fünften Satz beim Stand von 5:4 zwei Matchbälle.

Djokovic konnte seine ersten Aufschläge nicht durchbringen, machte aber dennoch beide Punkte. Mit einem furchtlos durchgeschwungenen Volley-Winner verkürzte er auf 30:40, und ein fast ebenso furchtlos geschlagener Vorhand-Winner brachte ihn zum Einstand.

Federer hätte beim zweiten Matchball sicherlich mehr riskieren können, doch Djokovic war wagemutiger, brachte daraufhin seinen Aufschlag durch und nahm Federer das nächste Spiel ab.

Er schlug zum Matchgewinn auf, wobei er einen Breakball mit einer weiteren starken Vorhand abwehrte, die Federer nicht parieren konnte. Es hieß erneut Einstand, und zwei Punkte später stand Djokovic – und nicht Federer – im Finale.

„Das war eines dieser Spiele, die du nie vergisst“, sagte Djokovic zu Mary Joe Fernandez, der einfühlsamen CBS-Reporterin, die das Interview nach dem Match führte (obwohl sie mit Federers Manager Tony Godsick verheiratet ist – ein für die Tenniswelt typischer Konflikt). „Um ehrlich zu sein, habe ich nur die Augen geschlossen und die Vorhand beim Matchball so schnell wie möglich geschlagen. Ich dachte mir: Wenn sie reingeht, dann geht sie rein; wenn sie ins Aus geht, dann eben eine weitere Niederlage gegen Federer bei den US Open.“

Zwölf Monate später wiederholte sich die Szene auf demselben Platz und wieder beim Halbfinale. Inzwischen war Djokovic nach ganz oben aufgestiegen: Er hatte Titel auf sämtlichen Belägen eingeheimst und stand nach seinem ersten Wimbledon-Sieg im Juli erstmals auf Platz eins der Weltrangliste.

Federer hatte in Paris den Spielverderber gegeben: Er hatte Djokovics Serie von 43 Siegen beendet, indem er ihn im Halbfinale der French Open schlug. Nun aber, in New York, trieb Djokovic Federer erneut in die Enge.

Es war ein mühsames, kräftezehrendes Match. Federer gewann die ersten beiden Sätze. Djokovic kämpfte sich zurück ins Spiel und gewann die nächsten beiden. Im fünften Satz ging Federer mit 5:3 in Führung und schlug zum Finaleinzug auf.

Beim Stand von 40:15 hatte Federer abermals zwei Matchbälle und wurde von den 23.000 Zuschauern im steilwandigen Arthur-Ashe-Stadion angefeuert. Ein geringerer Kontrahent wäre in sich zusammengesackt, aber – wie schon im Vorjahr – nicht so Djokovic. Er stolzierte über den Platz, nickte und nahm dann mit gespitzten Lippen seine Return-Position ein. Manche glaubten, er hätte resigniert und würde Federers Überlegenheit anerkennen. Mein Eindruck war ein anderer.

Federer entschied sich für einen weiten Slice-Aufschlag. Djokovic machte einen Satz nach rechts und spielte knapp hinter dem Doppelfeld eine wilde und unerreichbare Vorhand cross, die so präzise geschlagen war, dass Federer sich kaum bewegte.

Djokovic kostete den Moment voll aus; er ging zu seinem Handtuch und reckte dem Publikum dabei beide Arme entgegen. Das trug ihm einige Jubel-, aber auch Spottrufe ein: ein Vorgeschmack darauf, wie die Fans auf nahezu alles, was er in den nächsten zehn Jahren im Tennis produzieren sollte, reagierten. Mit einem Lächeln kehrte er dann für den zweiten Matchball auf das Spielfeld zurück, als ob er sagen wollte: „Was immer auch passiert, meine Moral zerstörst du nicht.“

Mit grimmigem Gesichtsausdruck führte Federer einen Aufschlag auf Djokovics Körper aus, den dieser mit einer Rückhand parierte. Der Return landete recht tief, aber nicht zu tief. Federer umlief den Ball, um eine Inside-Out-Vorhand zu schlagen. Doch sein sonst so erfolgreicher Schlag prallte an der Netzkante ab.

Im zweiten Jahr hintereinander hatte Djokovic zwei Matchbälle abgewehrt, diesmal bei Aufschlag Federer, und der sichtbar angegriffene Federer gab bald danach sein Aufschlagspiel mit einem Doppelfehler ab. Bei den nächsten drei Spielen, gleichzeitig die letzten, hatte man eher den Eindruck, einem Trauerspiel beizuwohnen.

Für Federer war das ein harter Moment, Djokovic fühlte sich dagegen bestätigt. Nach dem Handschlag am Netz feierte er seinen Sieg: Er spannte seinen ganzen Körper an und sandte einen Urschrei in Richtung seines Teams in der Spielerbox aus. Mary Joe Fernandez holte Djokovic wie im Jahr zuvor ans Mikrofon.

„Sehr ähnliche Situation“, sagte Djokovic. „Ich habe die Vorhand so hart wie möglich geschlagen, und das ist immer ein Glücksspiel. Wenn der Ball im Aus ist, hast du verloren. Wenn er drin ist, hast du vielleicht eine Chance. Ich hatte also heute Glück.“

Das Interview war deutlich fröhlicher als Federers Pressekonferenz nach dem Match, es stellte einen der Tiefpunkte in einer ansonsten meist souveränen Karriere dar.

„Ich habe nicht den besten Aufschlag erwischt“, sagte er über den ersten Matchball. „Aber wie er den zurückgebracht hat … Er hat an seinen Sieg nicht mehr wirklich geglaubt, und dann gegen so jemanden zu verlieren, ist sehr enttäuschend; wenn man spürt, dass er mental damit eigentlich schon abgeschlossen hat. Und dann gelingt ihm der Glücksschlag, und man ist raus.“

Ein Reporter fragte ihn, ob der Vorhand-Winner mit Glück, Risiko oder Selbstvertrauen zu erklären sei.

„Selbstvertrauen? Soll das ein Witz sein?“ Federer strich sich mit den Händen übers Gesicht. „Manche spielen einfach so. Ich erinnere mich an einige Niederlagen bei den Junioren. Wenn sie 2:5 im dritten Satz zurücklagen und dann einfach irgendwie draufhauten. Ich habe nie so gespielt, weil ich mehr daran glaube, dass sich harte Arbeit auszahlt. Darum fällt es mir so schwer zu begreifen, wie man bei einem Matchball einen solchen Schlag spielen kann. Aber wer weiß, vielleicht hat er das schon die letzten 20 Jahre so gemacht. In dem Fall wäre es für ihn völlig normal. Da müssen Sie ihn fragen.“

Die US Open 2011 wirkten wie ein weiterer unbedachter Moment Federers, obwohl ihm manche Beobachter auch zustimmten.

„Novak war doch am Abstürzen, er hatte schon aufgegeben“, sagte Jim Courier. „Und er profitierte davon, im Augenblick des Zorns einen Winner zu schlagen. So sollte man nicht spielen, und Roger hat es ausgesprochen. Ich behaupte nicht, dass keine Missgunst im Spiel war. Ich meine, Novak hat das Recht, diesen Schlag zu wählen. Es gibt keine Regel, die das verbietet. Aber wenn es die richtige Art zu spielen wäre, dann würde Novak es immer so machen. Er spielt Statistiktennis. Das war das Gegenteil davon. Roger weiß das, Novak weiß das, und es ärgert Roger.“

Federers verbitterte Äußerung wäre vielleicht anders aufgenommen worden, wenn Djokovic in dem Moment nicht das Herrentennis dominiert hätte. Seine Bilanz zu diesem Zeitpunkt im Jahr 2011 lautete 63 Siege versus zwei Niederlagen, und er stand kurz davor, mit einem Viersatzsieg im Finale gegen Nadal seinen dritten Grand-Slam-Titel des Jahres zu gewinnen.

Die Behauptung, Djokovics großes Selbstvertrauen habe keine Rolle gespielt, als er unter Druck gut spielte, erschien mir wesentlich weniger freundlich als Djokovics selbstkritisches Interview auf dem Platz.

Federer, der Niederlagen sonst mit klarem Blick analysiert, klang wie ein schlechter Verlierer. Und man sollte schon darauf hinweisen, dass Djokovic beim zweiten Matchball weder mit offenen noch mit geschlossenen Augen einfach nur draufhauen musste. Denn Federer verschlug seine Vorhand, bevor Djokovic eine weitere Chance bekam, das Schicksal herauszufordern.

Dieser Fehler von Federer war nicht der Schlag, der im Gedächtnis haften blieb; ein anderer Schlag beendete die Doppelherrschaft Federer/Nadal und zeigte, dass Djokovic seinen Claim als erfolgreichster Spieler der Open-Ära absteckte.

„Wenn man nach vier Stunden im fünften Satz Matchbälle gegen sich hat und dann diesen Vorhand-Winner schlägt, ist man sicher etwas erstaunt über die Umstände, unter denen man diesen Ball geschlagen hat“, sagte Djokovic. „Man rechnet keinesfalls damit, sowas aus dem Ärmel zu schütteln. Am Ende ist alles eine Einstellungsfrage, glaube ich – ob man mit dem Druck umgehen kann, oder ob man einsteigen und seine Chancen nutzen kann.“

Für mich ist Djokovic der faszinierendste Spieler von allen, die in dieser goldenen Tennisära große Siege errungen haben. Mit seinem Bürstenschnitt und seiner ganz eigenen Mischung aus Großzügigkeit und Kampfgeist scheint er ebenso engagiert seinen inneren Zen-Garten zu harken wie nach der Verwandlung eines Matchballs sein Tennishemd zu zerreißen.

Seine Ambivalenz und Komplexität stellen Journalisten vor große Rätsel, und selbst wenn man sie zu lösen geglaubt hat, weisen einen seine Fans online und offline umgehend darauf hin, dass der Mann von den westlichen Medien einfach falsch verstanden wird. Dazu ist er laufend bestrebt, nicht nur sein Spiel zu verändern, sondern auch sich selbst.

Unbestritten ist, dass er eine schwerere Kindheit hatte als Federer oder Nadal. Djokovic wuchs eben nicht in einer bequemen Mittelklassefamilie oder in einem stabilen Staatswesen auf, sondern in der Zeit des blutigen Auseinanderbrechens Jugoslawiens. Im Alter von elf, zwölf Jahren musste er während des Trainings immer wieder Zuflucht in Luftschutzräumen suchen, weil das serbische Belgrad zwischen März und Juni 1999 von NATO-Flugzeugen bombardiert wurde. Es war jene Zeit, die von Serben oft als „die 78 Tage der Schande“ bezeichnet wird.

„Was dich nicht umbringt, härtet ab“, sagte mir Djokovic einst. „Wir erinnern uns an all diese Dinge und werden sie nie vergessen, weil sie so stark und tief im Inneren nachwirken. Das sind traumatische Erfahrungen. Zweieinhalb Monate lang hörten wir täglich mindestens dreimal die Sirenen, die die Flieger mit ihren Bomben ankündigten. Ständig, wirklich ständig war ein furchtbarer Lärm in der Stadt. Deshalb löst ein lautes Geräusch heute noch ein kleines Trauma in mir aus.“

In einem Beruf, in dem die Schreie des Publikums zum Klangteppich gehören (jedenfalls sofern nicht eine Pandemie für leere Reihen sorgt), muss das schwierig zu ertragen sein. Wie Federer und Nadal hätte sich Djokovic leicht für einen anderen Sport entscheiden können. Sein Vater Srdjan und sein Onkel Goran nahmen im ehemaligen Jugoslawien an Skirennen teil. Djokovic stand zum ersten Mal mit drei Jahren im serbischen Bergkurort Kopaonik auf den Brettern. Seiner Familie gehörten dort einige kleinere Saisongeschäfte, darunter eine Pizzeria mit Kunstgalerie.

„Natürlich dachten wir, dass Novak einmal Skifahrer werden würde, denn wir waren ja alle Skifahrer“, erzählte mir Goran Djokovic.

Ohne Peter Carter in Basel hätte sich Federer vielleicht für den Fußball entschieden. Ohne seinen Onkel Toni in Manacor hätte Nadal womöglich dasselbe getan. Djokovics Tennismuse war eine charismatische und kluge Frau in den 50ern: Jelena Gencic, eine frühere jugoslawische Handball-Nationalspielerin mit hellen blauen Augen und einer sanften, kultivierten Stimme, die bei Schülern (und reisenden Sportreportern) für Gänsehaut sorgte. Mit Monica Seles und Goran Ivanisevic hatte Gencic schon zwei junge Tennistalente gecoacht, die später Grand-Slam-Champions wurden. Doch davon ahnte Novak Djokovic nichts, als er im Sommer 1993 auf den drei Hartplätzen auftauchte, die neben dem Restaurant seiner Familie entstanden waren – einer dieser Zufälle, die ein Leben verändern können.

Gencic gab dort gerade einen Tenniskurs.

„Es war am ersten Tag meines ersten Jahres in Kopaonik“, sagte mir Gencic, als ich im November 2010 für die New York Times und die International Herald Tribune in Serbien unterwegs war. „Und er stand den ganzen Morgen vor den Tennisplätzen und sah uns zu, und ich sagte: ‚Hey, gefällt es dir? Weißt du, was das ist?‘“

Auf Gencics Einladung hin kam Djokovic am Nachmittag mit sorgfältig gepackter Ausrüstungstasche zurück, um mitzumachen. Er spielte schon seit einiger Zeit Tennis und verfolgte per Satellitenfernsehen die Profiturniere. Und hier begann seine unwahrscheinliche Reise: Er traf am richtigen Ort und zur rechten Zeit auf die richtige Mentorin.

„Schläger, Handtuch, Wasserflasche, eine Banane, ein trockenes Wechsel-T-Shirt, Armband und Kappe“, sagte Gencic. „Ich fragte: ‚Okay, wer hat dir deine Tasche gepackt? Deine Mutter?‘ Oh je, war er wütend. Er sagte: ‚Nein, ich spiele Tennis.‘“

Von Anfang an fiel ihr auf, wie sensibel er war und wie aufmerksam er zuhörte.

„Jedes Wort“, erinnerte sie sich. „Ein toller Junge. Sehr intelligent. Ich sagte immer: ‚Hast du mich verstanden?‘, und er antwortete: ‚Ja, aber bitte sag’s noch einmal.‘ Er wollte ganz sichergehen.“

Am dritten Tag wandte sich Gencic an Djokovics Eltern Srdjan und Dijana: Sie hätten ein zlatno dete, ein „goldenes Kind“.

„Ich habe dasselbe über Monica Seles gesagt, als sie acht Jahre alt war“, erzählte sie. „Nach drei- oder viermal mit Monica habe ich ihrem Vater Karolj gesagt, dass sie die weltweite Nummer eins werden würde.“

Gencic, selbst kinderlos, arbeitete sechs Jahre lang intensiv mit Djokovic in Kopaonik und Belgrad, sie beriet ihn auch später noch.

„Sie hat mir alles beigebracht“, erzählte mir Djokovic. „Meiner Meinung nach ist das Alter zwischen sechs, sieben und zwölf die wichtigste Zeit in deiner Tenniskarriere. In dieser Zeit lernst du Tennis spielen, du musst dir gute Techniken erarbeiten und brauchst einen wirklich guten Coach.“

Im Profitennis gibt es zu wenige Frauen, die auf höchstem Niveau coachen. Das muss sich ändern, aber die Feststellung lohnt, dass Djokovic nicht der einzige Weltranglistenerste ist, der in seinen prägenden Jahren von einer Frau trainiert wurde. Jimmy Connors, Marat Safin und Andy Murray wurden alle früh und gut von ihren Müttern gecoacht.

Gencic arbeitete an jedem Element von Djokovics Tennisspiel und brachte ihn vorsichtig zu der Einsicht, dass eine zweihändige Rückhand besser zu seinen Fähigkeiten passte als die einhändige Variante, die sein Idol Pete Sampras bevorzugte.

Gencic war zu Recht davon überzeugt, dass die Zukunft im Tennis darin liegen würde, den Ball nach dem Aufprall früh anzunehmen, und die äußeren Bedingungen in Kopaonik, das auf fast 1800 Meter Höhe liegt und wo die Bälle entsprechend schnell fliegen, verlangten Djokovic schnelle Reaktionen und Bewegungen ab.

Seles hatte das Damentennis verändert. Sie war die erste Spielerin, die imstande war, nahe der Grundlinie zu verharren und von beiden Seiten mit ihren kraftvollen und oft stark angewinkelten beidhändigen Grundlinienschlägen anzugreifen.

Agassi spielte bei den Herren auf ähnlich schonungslose Art, und Gencic bestand darauf, dass auch Djokovic lernte, mit Tempo umzugehen und selbst Tempo zu produzieren, ohne zurückzuweichen. Sie legte viel Wert auf das Spiel am Netz, obwohl sich Djokovic auf der Tour dann einen Ruf vor allem als Abwehrkönig mit phänomenalen Returns erarbeitete.

„In seiner Anfangszeit spielte er ausgezeichnete Volleys“, sagte sie.

Auf Stretching legte sie besonders viel Wert, was Djokovic offensichtlich ernst nahm, wie jeder weiß, der schon einmal gesehen hat, wie er einem gegnerischen Ball in eine Ecke hinterherjagt und dabei beinahe in einen Spagat hineingleitet.

„Novak war kein besonders kräftiger Junge“, erzählte mir Gencic. „Er ist heute sehr biegsam und beweglich, aber weißt du auch warum? Weil ich bewusst nicht zu hart mit ihm arbeitete.“

Gencic zeigte mir ihren Schläger, einen abgewetzten Prince, dem die Griffkappe fehlte.

„Das ist das schwerste Ding, das er handhaben musste“, sagte sie. „Wir haben nur an seinen Beinen, seiner Schnelligkeit, seiner Kondition auf dem Platz gearbeitet, nicht im Kraftraum. Wir haben uns gestreckt und spezifische Tennisbewegungen geübt, damit er flexibel, wendig und schnell wird. Und heute spielt er einfach herausragend.“

In den Augen eines breiteren Publikums zeichnet sich Djokovics Spiel vor allem durch seine Gelenkigkeit aus. Alles andere ist so stabil und kompakt, dass man es leicht unterschätzt.

„Novak ist außergewöhnlich, aber auf eine irgendwie langweilige Art“, sagte Brad Stine, der langgediente US-Coach, der unter anderem Jim Courier und Kevin Anderson betreut hat.

Dabei kann sich kein anderer Spieler so verdrehen und winden.

„Schon vor Novak sind Spieler über den Platz geglitten, aber es gab noch niemanden, der wie er nach dem Gleiten direkt wieder stehen und einen Angriffsball schlagen konnte“, sagte Ivanisevic, Wimbledon-Sieger von 2001, der Djokovic später gemeinsam mit Marian Vajda coachte.

Djokovics Gelenkigkeit ist eine Gabe, aber sie beruht auch auf jahrelangen Gewohnheiten. Wer ihn zwischen den Spielen bei einem Turnier beobachtet, erwischt ihn immer wieder dabei, wie er seinen Körper in irgendeine extreme Position verdreht oder Klimmzüge mit den Fingern an einem Türrahmen macht.

In einem Interview mit der Londoner Times wurde Djokovics Frau Jelena einmal gefragt, wie ihr Leben außerhalb der Tennis-Tour eigentlich aussehe.

„Das ist leicht zu beantworten“, sagte Jelena. „Alles dreht sich ums Stretching. Er liegt ständig auf dem Boden, mit den Beinen mal hier, mal da.“

Das brachte Djokovic zum Lachen, und auch Gencic, die 2013 im Alter von 76 Jahren starb, hätte diese Antwort sicher gefallen.

Wie Djokovic mir einmal in Wimbledon erzählte: „Sie hat mir beigebracht und mich davon überzeugt, dass ich biegsam bleiben muss. Dann kann ich mich nicht nur gut auf dem Spielfeld bewegen und mich nach einem Match gut erholen, sondern auch viele Jahre spielen.“

Todd Martin, der frühere US-amerikanische Starspieler, der einst Djokovic coachte, beobachtete ihn bei der täglichen Arbeit mit seinem Team, zu dem auch der Physiotherapeut Miljan Amanovic gehörte.

„Novak wacht auf, und bevor er auch nur seinen ersten Orangensaft getrunken hat, legt er seine Beine auf Miljans Schulter, und die beiden umarmen sich praktisch“, erzählte mir Martin. „Bevor er irgendwas anderes tut, dehnt er erst einmal den Oberschenkelmuskel, und ich sage Ihnen, das macht er eiskalt.“

Gencic arbeitete nur nebenberuflich als Coach. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Journalistin; sie war Redakteurin einer Kunstsendung beim staatlichen jugoslawischen und später serbischen Fernsehen. Sie brachte Djokovic Kultur nahe: russische Dichtung und klassische Musik, darunter auch Tschaikowskis Ouvertüre 1812.

„Ich konnte sehen, wie großartig er sie fand“, sagte Gencic. „Ich riet ihm: ‚Wenn du ein Match spielst, Novak, und plötzlich fühlst du dich nicht gut, dann denk an diese Musik, denk daran, wie viel Adrenalin du in deinem Bauch und deinem Körper hast. Diese Musik spornt dich zu größeren Leistungen an.‘“

Die Familie Djokovic hatte keinen Tennis-Hintergrund, aber natürlich kannten sie Seles. Die Spielerin ungarischer Abstammung stammt aus der serbischen Stadt Novi Sad, sie war mit ihrer Familie in die USA ausgewandert, hatte zu diesem Zeitpunkt schon acht Grand-Slam-Titel errungen und war an die Spitze der Weltrangliste vorgerückt.

Seles hatte außerdem viele Millionen US-Dollar verdient, und da Jugoslawien in der Krise steckte, schien das „goldene Kind“ Novak eine größere zeitliche und finanzielle Investition wert zu sein.

Das Problem war nur, das Geld aufzutreiben.

„Srdjan und seine Frau jammerten nicht, sondern dachten nach“, erzählte mir Gencic.

Sie liehen sich Geld von Freunden und steckten ihre eigenen mageren Ressourcen in das Familienprojekt. Es half, dass Gencic nichts für ihren Unterricht verlangte, und als Präsidentin des Tennisclubs bei Partizan Belgrad gelang es ihr auch, Djokovic eine kostenlose Ausrüstung samt Prince-Schlägern zu besorgen. Doch um sich zu entwickeln, brauchte er internationale Wettbewerbe, und das Geld dafür war furchtbar knapp.

„Srdjan machte wie verrückt Druck“, sagte Goran Djokovic über seinen älteren Bruder. „Manchmal mögen ihn die Leute nicht, aber er hat die Energie eines Bullen. Es waren keine guten Zeiten. Es gab Sanktionen, der Krieg begann. Es war keine einfache Zeit für Serbien, für Jugoslawien, und dann all das Geld, das wir in Novak investierten. Er musste derjenige sein, der vor der Familie stand, der alles bekam, was er brauchte: den neuen Schläger, gutes Essen und überhaupt. Natürlich würden wir auch sehr gut leben, wenn er nicht Tennis spielen würde, aber wir hatten diese Vision. Wir wollten keine schlechte Stimmung, nur positive Energie. Natürlich redeten die Leute manchmal: ‚Diese Familie ist verrückt, für wen halten die sich? Wie können die nur glauben, dass aus Novak mal was wird?‘“

Als ich Djokovic 2019 in Monte Carlo besuchte, wo er heute mit Jelena und seinen zwei Kindern im Luxus lebt, erzählte er mir von einem der Momente, die ihn in seiner Kindheit geprägt haben.

Sein Vater versammelte die Familie in ihrer Belgrader Mietwohnung und knallte einen Zehn-D-Mark-Schein auf den Küchentisch.

„Zehn D-Mark waren wie zehn US-Dollar, und mein Vater sagte: ‚Mehr haben wir nicht‘“, erzählte Djokovic. „Er sagte, dass wir mehr denn je zusammenhalten und das gemeinsam durchstehen und einen Weg finden müssten. Das war ein sehr starker, wirkungsvoller Moment, in meiner Entwicklung, meinem Leben, unser aller Leben.“

Als Djokovic zwölf wurde, war Gencic klar, dass er Serbien verlassen musste, um auf passende Wettbewerber zu stoßen und Fortschritte zu machen. Sie kontaktierte einen alten Freund, Nikola „Niki“ Pilic. Der frühere jugoslawische Starspieler aus Kroatien hatte 1973 das Finale der French Open erreicht, und sein Streit mit dem nationalen Tennisverband hatte dazu geführt, dass die Herren das Wimbledon-Turnier im selben Jahr boykottierten.

Pilic leitete nun eine Tennisakademie nahe München. Gencic überzeugte ihn, Djokovic aufzunehmen, obwohl die Akademie Spieler unter 14 Jahren generell ablehnte.

Djokovic reiste unter den für Serbien geltenden Restriktionen mit seinem Onkel Goran nach München. Sein Onkel kehrte bald nach Serbien zurück und ließ Djokovic für drei Monate an einem Ort, dessen Sprache er nicht beherrschte. (Als Federer mit 14 Jahren sein Elternhaus verließ, konnte er immerhin am Wochenende mit dem Zug nach Basel reisen.)

„Alles wirkt sich auf deine Einstellung, deine psychologische Stärke aus“, erzählte mir Djokovic. „Ich war schon mit zwölfeinhalb drei Monate allein, also musste ich Verantwortung lernen. Ich musste tapfer sein, um allein zu sein und mich anzutreiben. Ich lernte, unabhängig zu sein.“

Djokovic verbrachte noch mehrere Jahre in Pilics Akademie. Er gehörte zu einer Garde von herausragenden serbischen Spielern, die ihr Land verlassen mussten, um den Durchbruch zu schaffen, darunter die beiden künftigen Weltranglistenersten der Damen, Ana Ivanovic und Jelena Jankovic.

„Novak wurde wirklich sehr früh erwachsen“, sagte der kroatische Starspieler Ivan Ljubicic, der später zusammen mit Djokovic bei dem italienischen Coach Riccardo Piatti trainierte. „Novak weiß, was er will. Er weiß, wie er es bekommt, und das hilft ungemein. Alle Topspieler – Rafa, Roger – haben diese Fähigkeit. Entweder strampelt man sich ab und verrennt sich, oder du lernst schnell. Und deswegen lernten sie schnell.“

Doch Djokovic fehlte ein ähnliches Sicherheitsnetz, wie seine künftigen Rivalen es besaßen. Mehr noch als Federer oder Nadal musste er es schaffen angesichts all der Opfer, die seine Familie gebracht hatte. Und obwohl Gencic prognostiziert hatte, dass er mit 17 Jahren die Top 5 erreichen würde, brauchte er dafür doch etwas länger.

„Wir lagen um zwei Jahre daneben, weil wir nicht das Geld hatten, um alles zu erreichen, was ich wollte“, erzählte sie mir.

Immerhin trat er mit 17 erstmals bei einem Grand-Slam-Turnier an: Er qualifizierte sich bei den Australian Open 2005 für das Hauptfeld und stieß in der ersten Runde in der Rod Laver Arena auf Marat Safin.

Safin gewann mit 6:0, 6:2, 6:1 und holte sich später den Titel.

„Ich stand auf Platz vier der Weltrangliste, und er hatte gerade die Qualis überstanden, was erwartet man da also?“, sagte mir Safin. „Ich spielte gut. Ich war gekommen, um das Turnier zu gewinnen. Er war gekommen, um zu schauen, was wohl passieren würde. Aber überleg mal, wie es für ihn ausging. Er sollte mir eigentlich ein paar Abendessen spendieren!“

Wie Federer ist auch Djokovic sprachbegabt, sogar mehr noch als dieser: Er spricht vier Sprachen fließend (Serbisch, Deutsch, Italienisch und Englisch) und beherrscht weitere recht gut (Französisch, Spanisch und etwas Russisch).

Auch im Profitennis lernte er schnell. Ende 2005 hatte er die Top 100 erreicht. Ein Jahr später stand er in den Top 20, und Ende 2007 war er die Nummer drei hinter Federer und Nadal – die er beide beim ATP-Masters-1000-Turnier im kanadischen Montreal besiegte.

Er war damals 20 Jahre alt und stand kurz vor seinem ersten Grand-Slam-Titel, den er dann 2008 bei den Australian Open errang, nachdem er erneut Federer geschlagen hatte, diesmal in drei Sätzen im Halbfinale.

„Der König ist tot, es lebe der König“, verkündete Djokovics Mutter.

Doch die Weltranglistenspitze erklomm Djokovic erst 2011 durch einen Sieg über Nadal im Finale von Wimbledon.

„Vier Jahre lang hieß es Roger, Rafa, Rafa, Roger“, sagte Dijana. „Jetzt heißt es Novak, Novak, Novak, Novak.“

Damit hatte sie nicht ganz unrecht. Ihr Sohn beendete das Jahr 2011 mit einer Bilanz von 4:1 Siegen gegen Federer und 6:0 Siegen gegen Nadal (auf drei unterschiedlichen Belägen, darunter Sand). Allerdings: Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Lynette Federer in den Jahren von Federers Dominanz Ähnliches dachte, geschweige denn laut gesagt hätte. Der Djokovic-Clan war offensichtlich konfrontativer. Und diese Herangehensweise gereichte ihrem Sohn in puncto Imagebildung sicher nicht immer zum Vorteil.

Im Vergleich zu ihrem Mann war Dijana dabei noch zurückhaltend. Srdjan sagte einmal über Federer, er sei „vielleicht der beste Tennisspieler der Geschichte, aber als Mensch ist er das Gegenteil“. Srdjan machte sich auch darüber lustig, dass Federer kurz vor seinem 40. Geburtstag noch immer spielt.

„Nadal und Novak sitzen ihm beide im Nacken, deshalb kann er einfach nicht akzeptieren, dass sie irgendwann besser als er sein werden“, sagte Srdjan dem serbischen Sportsender Sport Klub. „Los, Mann, zieh Kinder groß, mach was anderes, geh Skifahren.“

Offensichtlich hatte Srdjan weder vergessen noch verziehen, dass Federer ihn und andere Personen in Djokovics Spielerbox bei den Monte Carlo Open 2008 zur Ruhe ermahnt hatte.

Diese Geschichten wirken alle etwas kleinkariert, und sie sind es auch. Federer hat nicht mit gleicher Münze zurückgezahlt. Aber die Kampflust der Djokovic-Eltern gründet wohl auch darin, dass sie sich mehr Respekt für ihren Sohn wie auch für ihr Land wünschen.

Die Djokovics sind orthodoxe Christen, sie sehen in Novaks Aufstieg eine Art göttlichen Fingerzeig. Robert Federer trägt natürlich oft eine RF-Kappe, auf der Tribüne hat er aber noch nie ein T-Shirt mit dem Abbild seines geliebten Sohnes zur Schau gestellt, wie Srdjan und Dijana anlässlich des Matches von Djokovic gegen Federer bei den US Open 2010. Als ich Srdjan bald darauf in seinem Belgrader Büro besuchte, entdeckte ich an der Wand ein Gemälde, das den verstorbenen Patriarchen Pavle zeigte, das Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche. Novaks strahlendes Gesicht war gleich darunter gemalt, im wahrsten Sinne des Wortes eine „Ikone“ des Sports.

„Im schlimmsten Moment für das serbische Volk hat Gott ihn gesandt, um allen zu zeigen, dass wir ein normales Volk sind und keine Mörder und Wilden“, sagte Srdjan 2021 in einem Interview in Serbien über Novak.

Novak machte lange Zeit die frustrierende Erfahrung, dass er allein aufgrund seiner serbischen Staatsangehörigkeit reflexartig als Außenseiter galt. In unseren frühen Interviews hat er das oft erwähnt. Seine Überlegung im Jahr 2006, für Großbritannien statt für Serbien zu spielen, gründete in wirtschaftlichen Erwägungen und in dem Bedürfnis, mehr Unterstützung zu erhalten. Letztlich entschied er sich dagegen.

„Ich hatte nie die professionellen Möglichkeiten, mich in meinem Land als Profispieler zu entwickeln und erfolgreich zu sein“, erklärte er mir. Daher habe er unter anderem in München trainieren müssen.

„Wir haben Möglichkeiten ausgelotet, woandershin zu gehen, einfach um mir und meiner Familie zu helfen, damit wir besser leben können“, sagte er. „Ich glaube, es war eine gute Entscheidung, dass wir letztlich geblieben sind. Wenn du bei deinen Leuten und deiner Religion bleibst, ist alles ganz anders. Für mich fühlt es sich völlig anders an, wenn ich nach Hause komme. Man fühlt sich zugehörig.“

Obwohl Djokovic mittlerweile seine Zelte im Steuerparadies Monaco aufgeschlagen hat, verkörpert er bis heute die bedrängte serbische Nation. Er ist ein resoluter Botschafter seines Landes – weitaus mehr als Federer, der eigentlich weltweit bekannteste Schweizer.

Im Zuge der Implosion Jugoslawiens wurde Serbien unter Slobodan Milosevic zum internationalen Paria. Das serbische Staatsgebiet und der Einfluss schrumpften stetig. Mit der Unabhängigkeit Montenegros verlor Serbien seinen Meereszugang – in dieser Region hatte die Familie Djokovic ihre Wurzeln. Auch das Kosovo sagte sich los – hier wurden Srdjan und seine Geschwister geboren.

„Ein im Kosovo geborener Serbe aus Montenegro, der hat schon ein ganz besonderes Temperament“, erzählte mir Gencic. „Die Djokovics sind ein sehr dickköpfiges Völkchen.“

Die NATO-Angriffe von 1999, die Djokovic so stark geprägt haben, waren die Antwort auf das brutale Vorgehen Serbiens gegen albanische Separatisten im Kosovo, wo ein Großteil der Bevölkerung albanischer Abstammung ist. Die abtrünnige Provinz erklärte 2008 mit Unterstützung westlicher Mächte wie der USA und Deutschlands ihre formale Unabhängigkeit, aber Serbien und zahlreiche andere Länder erkennen die Republik Kosovo bis heute nicht als souveränen Staat an.

Für die Djokovics ist dies ein heikler Punkt. Auch Novak lehnt die Unabhängigkeit des Kosovo ab.

„Ich habe die Geschichtsbücher gelesen“, so Djokovic zu mir einmal. „Es ist Teil meines Landes und Teil meiner Familie.“

Ein derartiges politisches Engagement ist Federer fremd. Er hat ein Gespür für Stimmungen und auch die Gabe, solche Stimmungen aufzunehmen.

Federer nutzt seine privilegierte Situation nicht aus und hat im Verlauf seiner Karriere politische Äußerungen sorgfältig vermieden. Seine Lobbyarbeit beschränkt sich auf tennisinterne Angelegenheiten; so sprach er sich etwa kürzlich für die Zusammenlegung der Damen- und der Herren-Tour aus oder lehnt seit Langem jede Art von Coaching während des Matches ab.

In dieser Hinsicht ist er ein Champion, dessen Diskretion besser in die 2000er-Jahre passt als in die 2020er-Jahre. Heute ist es gang und gäbe, dass Sportlerinnen und Sportler ihr Podium nutzen und ihre Meinung zu allen möglichen Themen kundtun – von Rassismus über Sexismus bis Klimawandel.

Federer wurde für einen seiner Sponsoren, die Bank Credit Suisse, kritisiert, weil sie in fossile Brennstoffe investiert. Die Aktivisten verwendeten in den sozialen Medien den Hashtag #RogerWakeUpNow, und einer ihrer Posts wurde auch von der prominenten Klimaaktivistin Greta Thunberg geteilt.

Anfang 2020 reagierte Federer darauf mit folgender Erklärung:

„Als Vater von vier kleinen Kindern und als leidenschaftlicher Förderer umfassender Bildung respektiere und bewundere ich die Klimabewegung der Jugend, und ich bin den jugendlichen Klimaaktivisten dankbar dafür, dass sie uns alle dazu drängen, unser Verhalten zu überprüfen und innovative Lösungen zu finden. Wir sind es ihnen und uns schuldig, zuzuhören. Ich bin dankbar für die Mahnungen, dass ich als Privatmensch, als Sportler und als Unternehmer Verantwortung trage, und ich verpflichte mich dazu, diese privilegierte Position zu nutzen, um mich mit meinen Sponsoren über wichtige Themen auszutauschen.“

Es gab eine Zeit, als Sponsoren nicht gern sahen, wenn sich ihre Athleten für gesellschaftliche Themen engagierten. Heute befürworten sie oft ein solches Engagement, wie 2020 im Fall von Naomi Osaka nach ihrem Sieg bei den US Open. Sie hatte während des Turniers gegen Rassendiskriminierung und Polizeigewalt protestiert.

Djokovic, der schon immer polarisierender und mit offeneren Worten auftritt als Federer, war vielleicht seiner Zeit voraus.

In dem Artikel, den ich 2019 nach meinem Interview mit Djokovic verfasste, beschrieb ich Nadal als den Kämpfer, Federer als den Publikumsliebling und Djokovic als den Suchenden. Er ist rastlos, hält stetig Ausschau nach besseren Methoden und neuen Einflüssen, was ihm fraglos dabei half, die gewaltigen Hindernisse auf dem Weg in die Spitzengruppe des Herrentennis zu überwinden.

„Federer und Nadal haben mich dazu inspiriert, das Beste aus mir und meinem Tennis herauszuholen“, sagte er mir einmal.

Als Federer in Erscheinung trat, waren die besten Spieler der Vorgängergeneration – Agassi und Sampras – alt geworden oder nicht mehr auf der Höhe ihres Könnens. Djokovics Aufstieg fiel mit den besten Jahren Federers und Nadals zusammen. Er wurde ihr Rivale und übertraf sie in mancherlei Hinsicht: mit mehr Siegen als beide Spieler und einer noch besseren Bilanz bei den Grand-Slam-Matches, die mehr denn je den Ruf und das Vermächtnis eines Spielers begründen.

„Wenn ich gegen Rafa spiele, habe ich mehr das Gefühl, das Spiel kontrollieren zu können; wenn ich den Ballwechsel abkürzen will, kann ich das machen“, sagte mir Federer einmal. „Bei Novak ist es anders. Er spielt den Ball so kräftig und flach und tief ins Spielfeld hinein, da kannst du nicht einfach sagen: ‚Okay, ich setze mal alles auf eine Karte‘, weil er dir quasi Handschellen anlegt. Da muss man schon bereit sein, sich auf harte Ballwechsel einzustellen.“

Djokovic hat Federer schon so manchen Nachmittag und Abend verdorben: So schlug er ihn in den Wimbledon-Finalspielen von 2014, 2015 und 2019. Letztere Niederlage war besonders schmerzhaft für Federer, da er vorher – erstaunlich, aber wahr – wieder einmal zwei Matchbälle abgewehrt hatte.

Die Duelle Federer gegen Nadal finden die meiste Beachtung innerhalb und außerhalb der Tenniswelt, die intensivsten Kämpfe aber finden zwischen Djokovic und Nadal beziehungsweise Djokovic und Federer statt.

Aus meiner Sicht zeichnet die Duelle zwischen Djokovic und Federer etwas aus, das den anderen Paarungen der „Großen Drei“ fehlt. Federer und Nadal sind im Laufe der Jahre Freunde und ATP-Partner geworden. Federer und Djokovic erinnern bis heute an Kollegen, die um dieselbe Beförderung konkurrieren. Zwischen beiden ist es nie zu Auseinandersetzungen etwa in der Umkleide gekommen. Aber es stellt sich ein besonderes Gefühl ein, wenn beide ihre Angriffsposition auf dem Platz einnehmen, und vielleicht ist es diese unterschwellige Spannung, die Federer dazu verleitet, einen Punkt mit viel Druck zu erzwingen, statt seiner Inspiration zu folgen.

Nadal zeigte sich in seinen Anfangsjahren Federer gegenüber enorm respektvoll, auch wenn er diesen regelmäßig schlug. Djokovic neigte zur Grenzüberschreitung; er imitierte die Spielweisen anderer Spieler hervorragend – was das Publikum wesentlich mehr amüsierte als seine Gegner. Schon früh erarbeitete er sich außerdem einen Ruf als listiger Spieler, der seine Kontrahenten zu verunsichern suchte: Oft nahm er Verletzungs- und Toilettenpausen in Anspruch, die zu Recht oder auch zu Unrecht als Versuche betrachtet wurden, den Rhythmus des Gegners zu stören.

Fairerweise sei erwähnt, dass Djokovic seine Atemprobleme nicht vorgetäuscht hat, er wurde mehrfach wegen einer Nasenscheidewandverkrümmung operiert. Seine Konditionsprobleme hat er schon vor langer Zeit gelöst, und er gehört auch zu den Spielern, die ihren Gegnern besonders oft für einen gelungenen Schlag Beifall spenden.

Aber obwohl beide sich regelmäßig außerhalb des Spielfelds im ATP-Spielerrat begegnen, stehen sich Federer und Djokovic nicht wirklich nahe.

„Ich glaube, bei Novak schwingt für Roger mehr emotionaler Ballast mit als bei Rafa“, sagte mir Paul Annacone. „Ich habe mit Roger nie darüber gesprochen. Er hat mir nie gesagt, Novak sei ein Idiot. Aber vielleicht ist es das, vielleicht gibt es da diese zusätzliche Anspannung, die Roger erhöht kampfbereit macht, wenn es gegen Novak geht.“

Wenn Federer auf Angriff schaltet, zeigt sich ein feiner Kontrast hinsichtlich der Spielart: Federers unterschätzter Aufschlag versus Djokovics unvergleichliche Returns; Federers Volleys versus Djokovics präzise Passierbälle; Federers Stoppbälle im Vorderfeld versus Djokovics temporeiches Spiel.

Im Gegensatz zu Nadal ist Djokovic ein Rechtshänder, der ohne extremen Topspin spielt. Es gelingt ihm nicht, den Ball beständig hoch auf Federers einhändige Rückhand zu spielen. Wenn beide an der Grundlinie verharren, steht Stärke gegen Stärke: Federers Inside-Out-Vorhand gegen Djokovics elastische Rückhand, Federers abwechslungsreiches Spiel gegen Djokovics Beweglichkeit. Keiner von beiden gibt gerne nach, und beide retournieren Bälle nach kurzem Abprall mit überragendem Timing, was bedeutet, dass ihnen das Spielfeld sehr beengt vorkommen muss.

„Ich glaube, dass Novak der Einzige ist, der auf jedem Belag von der Grundlinie aus mit Roger mithalten kann“, sagte mir Pete Sampras. „Er kommt mit Rogers Schlägen zurecht, weil er sich so gut bewegt, und wenn Novak es schafft, diese Bälle zurückzubringen, dann bricht Roger vielleicht ein wenig in Panik aus und denkt sich: ‚Was mache ich jetzt?‘“

Gegen Djokovic zu spielen, kann sich anfühlen, als würde man gegen eine Wand ankämpfen. Ivanisevic, der Spieler gegen Djokovic coachte, bevor er ihn selbst trainierte, sagte mir dazu:

„Wenn Novak in Topform ist, dann hat man das Gefühl, ein Videogame zu spielen, das man ums Verrecken nicht gewinnen kann. Alles kommt zurück. Wie im Terminator, wo der Androide ständig getötet wird und trotzdem immer wieder aufsteht. Es ist unmöglich, Punkte zu machen. Deshalb kann man einem Spieler kaum raten, etwas Bestimmtes zu tun. Dann heißt es nur: Spiel einfach. Spiel und bete.“

Seit jenem Tweener in New York hat Federer durchaus einige Höhenflüge gegen Djokovic erlebt. Sein Halbfinalsieg bei den French Open 2011 war aus meiner Sicht eine der besten Leistungen seiner gesamten Karriere: ein Paradebeispiel für Angriffstennis auf Sand von der Grundlinie aus, das mit Vollgas begann, nämlich mit einem 70-minütigen ersten Satz, den Federer im Tiebreak gewann.

Es war zackiges Tennis – L’Équipe nannte es „Pingpong-Tennis“ – auf der eigentlich langsamsten Oberfläche überhaupt, die in diesem Jahr aber gar nicht so langsam war, denn es blieb durchgehend trocken, und gespielt wurde mit einem neuen Babolat-Ball. Federer und Djokovic verzögerten das Match immer wieder, ohne dabei an Spieltempo zu verlieren. Ich verfolgte einen Großteil des Spiels vom Rand aus. Es war eine Sternstunde des Sports: ein präzises, mutiges, einfallsreiches, akrobatisches und intensives Spiel.

Das Publikum in Roland Garros stachelte Federer an, und so schlug er verschiedene Rückhand-Spins, traf fast immer mit seiner Vorhand und schlug in entscheidenden Spielphasen reihenweise Service-Winner, darunter das Ass, mit dem er um 21.38 Uhr, bei Einbruch der Dunkelheit, das Match im Tiebreak des vierten Satzes beendete.

„Ich hoffte einfach nur, dass wir es an dem Abend beenden könnten, denn sonst wäre es am nächsten Tag reine Glückssache gewesen“, sagte mir Federer. „Ich fühlte mich auf dem Platz richtig gut und war eigentlich auch sehr ruhig.“

Wenn er dieses Niveau und diese Stimmung beibehalten hätte, dann hätte er vermutlich auch Nadal im Finale geschlagen. Denn Nadal, der König der Sandplätze, wackelte in diesem Jahr. Doch Federers Aufstand verpuffte wieder einmal: Nachdem er den ersten Satz trotz einer 5:2-Führung abgegeben hatte, verlor er in vier Sätzen.

„Roger hätte in diesem Jahr die French gewinnen müssen“, sagte mir Annacone. „Mit Ausnahme der Matchbälle im Halbfinale der US Open gegen Novak war diese Niederlage für mich am schmerzlichsten, weil ich das Gefühl hatte, Rogers Selbstvertrauen vor diesem Finale nicht genügend gestärkt zu haben. Ich spürte, dass Nadal verwundbar war.“

Auf Federers glänzenden Sieg gegen Djokovic im Wimbledon-Halbfinale 2012 folgte dagegen keine Enttäuschung. Federer schlug Andy Murray und holte sich damit seinen 17. Grand-Slam-Titel. Als Murray bei der Preisverleihung in Tränen ausbrach, sah er mitfühlend zu.

Und doch besiegte Federer Djokovic bis heute nicht mehr bei einem Grand-Slam-Turnier. Zwar schlug er ihn in den kommenden zehn Jahren noch acht Mal, aber jeweils in Best-of-Three-Spielen, zwei davon in Gruppenspielen nach dem Round-Robin-Prinzip (jeder gegen jeden) bei den ATP Finals.

Nur einmal sollten sie sich noch bei den US Open begegnen: im Finale von 2015, wo Federer so eindeutig wie nie der Publikumsliebling war und doch verlor.

„Fast überall ist es das Gleiche, wenn ich gegen Roger spiele“, sagte Djokovic. „Das ist einfach so. Ich muss es akzeptieren. Ich muss dafür arbeiten, und vielleicht habe ich irgendwann mal eine Mehrheit der Zuschauer auf meiner Seite.“

Diese Bemerkung machte Djokovic nach dem Wimbledon-Finale im Sommer, das er in vier Sätzen gewann – ein Vorgeschmack auf das Spiel in New York.

Nadals Stern leuchtete zu der Zeit blasser. Djokovic war die klare Nummer eins und Federer die eindeutige Nummer zwei. Djokovic war der neue Marktführer, was verlässliche Grand-Slam-Form anbelangte. Im Moment aber hatte er erst ein einziges Mal die US Open gewonnen, Federer fünfmal.

Vor dem Finale 2015 hatte Federer 28 Sätze in Folge gewonnen, er war überzeugt, eine realistische Chance auf den Titel zu haben. Djokovic bereitete sich auf das Spiel vor, indem er sich am Vorabend den Film 300 ansah, der in allen brutalen Einzelheiten den heftigen, jedoch vergeblichen Kampf der zahlenmäßig unterlegenen spartanischen Krieger gegen die Perser behandelt.

Gerald Butler, der Hauptdarsteller des Films, ist ein Freund Novaks und saß während des Matches in seiner Spielerbox. Djokovic schlug sich besser als die Spartaner, aber auch er sah sich in der Unterzahl gegenüber einem beschwingten New Yorker Publikum, das seine Aufschlagfehler und Unforced Errors (unerzwungene Fehler) bejubelte und „Roger“ skandierte, so als wäre Federer ein durch und durch amerikanischer Spitzensportler und kein neutraler Schweizer.

Federer zeigte mit seinen 34 Jahren eine bemerkenswerte Leistung. Trotzdem hatte erneut der 28-jährige Djokovic die Nase vorn.

Ich fragte Djokovic einmal, wie sich aus seiner Sicht ein Spiel gegen Federer von einem gegen seine anderen Hauptrivalen wie Nadal und Murray unterscheide.

„Roger ist der am wenigsten berechenbare von allen. Er hat so viel Talent und beherrscht jeden Schlag“, antwortete Djokovic. „Ich glaube, für jeden Tennisspieler oder Sportler ist es am schwierigsten, mit Unberechenbarkeit umzugehen – nicht zu wissen, was als Nächstes kommt. Das beherrscht Roger, dieses variantenreiche Spiel, und man fragt sich: Was kommt als Nächstes?“

Djokovic sprach über SABR – „Sneak Attack by Roger“, Überraschungsangriff à la Roger: Während der Gegner noch in der Aufschlagbewegung steckt, stürmt Federer bereits ans Netz und retourniert den Service als Halb-Volley an der T-Linie. „Wird er seinen SABR auspacken? Rückt er ans Netz? Bleibt er hinten? Spielt er einen Chip? Man muss die ganze Zeit raten, und deshalb ist es so schwer, gegen Roger zu spielen.“

Federer mischte seine Karten tatsächlich neu und griff dieses Mal regelmäßig am Netz an. Damit folgte er einem Ratschlag seines Co-Trainers Stefan Edberg, der nach der freundschaftlichen Trennung von Annacone Ende 2013 zu seinem Team gestoßen war. Aber Djokovic war mittlerweile der Stoßdämpfer des Tennis par excellence und außerdem ein guter Verwandlungskünstler geworden. Eine Taktik, die im ersten Satz gegen ihn erfolgreich ist, wird im vierten höchstwahrscheinlich nicht mehr funktionieren. Auch er kann unberechenbar sein.

Federers letzte Chance, einen fünften Satz zu erzwingen, kam, als Djokovic beim Stand von 5:4 zum Matchgewinn aufschlug, aber drei Breakbälle gegen sich hatte. Doch Djokovic wehrte alle drei ab. Noch entscheidender war, dass er im Laufe des Abends 19 von 23 gegen sich gerichtete Breakbälle entschärfen konnte.

„Man muss seinen Risikoeinsatz genau dosieren“, sagte Federer. „Manchmal gelang mir das gut und manchmal weniger gut.“

Djokovics Sieg mit 6:4, 5:7, 6:4, 6:4 bescherte ihm seinen zehnten Grand-Slam-Titel, Federer hielt weiter seinen Rekord mit 17 Titeln.

Mit diesem Sieg glich Djokovic die Bilanz gegenüber Federer aus, die sich nun auf je 21 Siege belief; in den Folgejahren zog er davon, vermutlich für immer.

Federer blieb mit Bedauern zurück, aber auch mit der Erinnerung an die Sprechchöre und Jubelrufe fern der Heimat.

„Diese Gänsehautmomente sind ganz sicher einer der Gründe, warum ich noch immer spiele“, sagte Federer. „Es ist unglaublich für mich, eine solche Unterstützung in einem Land zu erfahren, das so weit weg von der Schweiz liegt und eine so großartige Sportnation ist. Die Menschen hier lieben Gewinnertypen.“

Djokovic sah das naturgemäß anders. Als wir uns am Morgen nach seinem Sieg für ein Interview trafen, erklärte er mir seinen Umgang damit.

„Tatsächlich habe ich versucht, mich selbst zu manipulieren“, sagte er, als wir in einem Van durch Manhattan fuhren. „Die Leute schrien ‚Roger‘, und ich stellte mir vor, dass sie ‚Novak!‘ schrien.“

Das war ein bemerkenswertes Geständnis – ergreifend und anrührend. Aber Djokovic schien sich fürs Erste mit seinem Schicksal abgefunden zu haben: Er wurde in Serbien verehrt, darüber hinaus eher weniger.

„Ich durchlebe auf dem Platz viele Gefühle“, sagte Djokovic. „Da geht es mir wie allen anderen. Ich glaube nur, dass ich es mit der Zeit geschafft habe, meine Erfahrung zu nutzen, um in schwierigen Situationen mit diesem Druck umzugehen. Viel hat auch mit meinem Charakter zu tun und mit der Tatsache, dass ich unter Umständen aufgewachsen bin, die eher ungewöhnlich sind. Umstände, in denen die meisten anderen Jungs eben nicht aufgewachsen sind. Das hat mich und meinen Charakter geformt, und die Erinnerungen daran geben mir das Quäntchen Stärke, das ich in Momenten wie dem gestrigen Abend einsetze.“

Djokovics Stimme klang heiser, sein Bürstenhaarschnitt war leicht derangiert. Er hatte Abschürfungen an seinem rechten Arm und Handgelenk, die er sich bei einem Sturz zu Beginn des Finales zugezogen hatte. Wir waren aus dem Van ausgestiegen und gingen nun zügig durch den Central Park zu einem Fototermin. Djokovic, der während der US Open normalerweise auf dem Anwesen seines Freundes Gordon Uehling in New Jersey übernachtete, hatte sich dieses Jahr entschieden, mit seiner Familie Quartier in einem Hotel in Manhattan zu beziehen.

„Einer meiner engen Freunde hat etwas Wahres zu mir gesagt: Diese Stadt ist so voller Energie, dass sie dir viel Kraft geben kann, wenn du eine gewisse Zeit hier bist“, sagte Djokovic. „Aber wenn du zu lange bleibst, raubt sie dir Kraft.“

Ich fragte ihn, ob ihm die Stadt die Kraft gegeben habe, die er brauche, um dieses Jahr den Titel zu gewinnen.

„Ja schon, aber ich fühle, dass sie mir seit heute wieder Kraft raubt. Deshalb muss ich allmählich sehen, dass ich nach Hause komme.“

Wir näherten uns unserem Ziel, und es blieb nur noch Zeit für eine einzige weitere Frage: Was müsste passieren, damit ein Grand-Slam-Publikum ihn auf gleiche Weise anfeuert wie Federer in New York?

Djokovic dachte einen Augenblick darüber nach und antwortete mir dann ausführlich. Er spricht eher in Absätzen als in Sätzen.

„Ehrlich gesagt glaube ich, dass es vor allem um Beständigkeit geht“, sagte er. „Echte Tennisfans respektieren jemanden, der für seinen Sport brennt – der nicht nur Siege einfährt, sondern seine Leidenschaft für das Tennis unter Beweis stellt, der das Publikum, die Turniere, seine Gegner und den Sport ganz allgemein respektiert. Es hat sicher auch damit zu tun, wofür man steht. Respektiert man Werte, auf die es im Leben ankommt, und ist man ein gewissenhafter Mensch, der Tennis spielt, aber auch viel zurückgeben kann?

Ich glaube, es kommt auf das Gesamtpaket an. Daran versuche ich zu arbeiten. So bin ich erzogen worden, und ich hoffe, dass das Publikum das anerkennt. Aber unter den jetzigen Umständen kann ich nichts anderes erwarten, wenn ich gegen Roger spiele.“

Djokovic gab mir die Hand und verabschiedete sich.

„Deine Bühne“, sagte ich und zeigte auf die Felsen, von denen man auf den Wollman Rink, eine öffentliche Eisbahn im Central Park, blicken kann.

Djokovic stieg hinauf, hinter ihm die Skyline von Manhattan und vor ihm eine Phalanx von Fotografen. Bald würde er die Trophäe der US Open erneut in seinen Händen halten.