Bei allem Talent und aller Hingabe hängt der Aufstieg zu wahrer Größe – und der Erhalt – manchmal auch allein vom Glück ab.
Noch heute bekommt Marc Rosset bei dem Gedanken an den gemeinsamen Skiausflug mit Federer im Januar 2000 feuchte Hände. Nach einer Dreisatzniederlage gegen den Franzosen Arnaud Clement bei den Australian Open war Federer gerade erst in die Schweiz zurückgekehrt. Als Nächstes stand das Davis-Cup-Heimspiel gegen Australien in Zürich an, doch vor dieser Herausforderung wollte Federer noch den Schweizer Winter genießen. Er schloss sich Rosset und dessen Bruder in dem Wintersportort Crans-Montana an.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, und sie waren auf der Strecke unterwegs, auf der jedes Jahr die Weltcup-Abfahrt der Frauen stattfindet.
Rosset berichtete: „Du fährst immer wieder dieselbe Piste runter. Du fängst vorsichtig an, und dann wirst du bei jedem Mal schneller, bis irgendwann der Moment kommt, wo du zu schnell bist.“
Zwei Sprünge folgten kurz aufeinander, Federer nahm den ersten mit Bravour, doch dann verschätzte er sich und ging den zweiten zu schnell an. Er schien in die Erdumlaufbahn katapultiert zu werden. Rosset sah entsetzt die Zukunft des Schweizer Tennis aus seinem Blickfeld verschwinden.
„Er verlor die Kontrolle und hob ab, richtig hoch, und ich sah ihn nicht wieder landen“, sagte Rosset. „Das war furchtbar. Er lag da, weit unten am Hang, die Ski waren weg, das ganze Programm. Damals trug ja niemand einen Helm, und ich hatte Angst, richtige Angst.“
Solche Momente können über Wohl oder Wehe von Karrieren entscheiden. Federer hätte eine Knieverletzung davontragen können oder Schlimmeres, er hätte monatelang auf der Tour ausfallen können oder Schlimmeres. Doch er klopfte sich nur den Schnee herunter, schüttelte den Schrecken ab und versicherte dem geschockten Rosset, dass nichts passiert sei.
In Zürich gewann Federer zwei seiner drei Matches, dennoch konnte er die Schweizer 2:3-Niederlage gegen Australien mit Mark Philippoussis und Lleyton Hewitt (schon wieder Hewitt!) nicht verhindern. Hewitt besiegte Federer am Schlusstag in vier Sätzen.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Erdkugel, in Adelaide, machte es sich Darren Cahill am Vorabend seiner Hochzeit bequem, um sich die Partie gemeinsam mit Peter Carter anzuschauen. Carter hatte den langen Weg nach Australien auf sich genommen, um als Cahills Trauzeuge an der Feier teilzunehmen.
„Wir blieben auf, genehmigten uns ein paar Bierchen und schauten den Jungs zu“, sagte Cahill. „Uns war egal, wer gewann oder verlor. Wir hatten das Gefühl, unsere Kinder spielen zu sehen, und fanden es toll.“
Carter und Cahill wagten einen Blick in die Zukunft und malten sich aus, wie sich ihre Schützlinge eines Tages in einem Grand-Slam-Finale gegenüberstehen würden. Allzu lange sollte es bis dahin tatsächlich nicht mehr dauern, doch noch waren die Einsätze niedriger und die Lernkurven steil.
Von Zürich brach Federer gen Süden nach Marseille auf, wo er erstmals in ein ATP-Einzelfinale einzog, in dem er es mit niemand anderem als Rosset zu tun bekam – er hatte ihn erst kürzlich als bestplatzierten Schweizer in der Weltrangliste abgelöst.
Am Tag vor dem Finale sagte Federer: „Marc ist ein echter Freund. Er gibt mir vor meinen Matches wertvolle Tipps, denn er kennt alle Spieler auf der Tour. Diesmal werde ich es wohl allein schaffen müssen.“
Das erste rein Schweizer ATP-Einzelfinale war nicht nur ein Kampf der Generationen, es trafen auch zwei unterschiedliche Stile aufeinander: Federer bewegte sich bereits mit 18 leichtfüßig über den Platz; um den Hals trug er eine Kette mit künstlichen Perlen, und er hatte seine langen dunklen Haare nach Samurai-Art zum Dutt hochgebunden. Der 29-jährige Rosset hatte einen strubbeligen Bart, und sein Spiel sah eher nach harter Arbeit als nach Poesie in Bewegung aus.
Doch beide spielten Powertennis und versuchten, mit der Vorhand Druck zu machen und auf dem schnellen Hallenboden ans Netz vorzurücken. Als Rosset beim Stand von 5:4 im dritten Satz zum Matchgewinn aufschlug, wehrte Federer drei Matchbälle ab, zwei davon mit gewagten Rückhandpassierschlägen. Der Satz ging in den Tiebreak, und beim 5:6 umlief Federer seine Rückhand, um eine Inside-Out-Vorhandpeitsche auszupacken, die jedoch an der Netzkante hängenblieb.
Rosset hatte den Titel gewonnen: 2:6, 6:3, 7:6 (5).
Die beiden Freunde kamen am Netz zusammen, und der 2,01 Meter große Rosset – bis zum Auftauchen von veritablen Riesen wie Ivo Karlovic und John Isner der größte Mann im Spitzentennis – beugte sich hinab und drückte Federer einen brüderlichen Kuss auf den Kopf.
Federer brach in echter Federer-Manier einmal mehr in Tränen aus.
„Er dachte, das wäre seine einzige Chance auf den Gewinn eines ATP-Turniers“, erklärte Rosset. „Und ich sagte ihm: ‚Immer mit der Ruhe!‘“
Rosset, der nunmehr bei 14 Titeln stand, war überzeugt, dass Federer noch jede Menge Turniersiege feiern würde, und äußerte dies auch nach dem Match bei der Siegerehrung, als er Federer dankte, ihm diesen noch überlassen zu haben.
Rosset sprach nicht laut aus, dass er davon überzeugt war, Federer würde irgendwann einen Grand-Slam-Titel gewinnen.
„Das konnte ich damals nicht sagen, weil mich alle für verrückt gehalten hätten“, erklärte Rosset. „Für mich stand fest, dass er einen holen würde. Andererseits erfordert das neben allem Talent natürlich auch jede Menge Arbeit.“
Seit Langem wird darüber diskutiert, ob man als Champion geboren oder dazu gemacht wird – oder ob, am logischsten, beides erforderlich ist.
Was Tennis betrifft, stimme ich Martina Navratilovas salomonischem Spruch zu: „Du wirst als Champion geboren, doch dann brauchst du das richtige Umfeld, um zu einem gemacht zu werden.“
Ganz egal, wie ausgeklügelt ein Plan sein mag, wie viel Arbeit jemand investiert oder wie viel Geld die Eltern mitbringen: Ein Spieler von geringer Körpergröße und mit unterdurchschnittlicher Augen-Hand-Koordination und Schnelligkeit wird niemals einen Grand-Slam-Pokal in die Höhe halten.
Ein Spieler mag noch so flink, geschickt und ehrgeizig sein, doch ohne qualifiziertes Training und die nötigen äußeren Voraussetzungen wird er niemals seine vermeintliche Bestimmung verwirklichen können.
Navratilova erklärte mir: „Wie man so sagt: Es braucht ein ganzes Dorf, aber auch viele glückliche Fügungen. Die Mischung macht es also, und dann wachsen sie da außerdem hinein. Sieh dir Roger [Federer] und Björn [Borg] an. Als junge Spieler waren sie beide Heißsporne, dann hatten sie diesen Erweckungsmoment und wurden absolute Emotions-Kontrollfreaks.“
Wie viele potenzielle Tennis-Champions mit den erforderlichen Fähigkeiten und der nötigen mentalen Stärke haben niemals die Gelegenheit gehabt, den Sport überhaupt auszuüben? Wie viele entscheiden sich für einen anderen Sport, eine andere Leidenschaft?
Seit vielen Jahren bekomme ich immer wieder mit, dass sich professionelle Tennistrainer fragen, inwiefern Michael Jordan oder LeBron James das Herrentennis verändert hätten, wenn sie sich für diesen Sport entschieden hätten.
Federer hätte zweifellos einen anderen Weg einschlagen können. Fußball war seine erste Leidenschaft und lange Zeit sein Plan B. Und wer weiß, wenn er in der heutigen Zeit aufwachsen würde, wäre er vielleicht ein E-Sport-Star.
Peter Lundgren erzählte: „Der Kerl ist ein wahrer Meister. Ich werde niemals vergessen, wie er sich James Bond von Nintendo besorgt hat und wir zu einem Turnier gefahren sind. Er musste in dem Spiel durch irgendein Tor und rief mich zu sich und sagte: ‚Peter, ich schaffe es nicht durch dieses blöde Tor!‘ Und ich sagte: ‚Deswegen rufst du mich? Ich habe keine Ahnung.‘ Eine Stunde später dann rief er mich erneut: ‚Ich hab’s!‘ Er war mit dem Spiel an einem Tag durch, wofür ein normaler Mensch vielleicht einen Monat brauchen würde. Der Kerl ist ein Monster, was Computerspiele betrifft. Das ist etwas, womit man geboren wird, diese Fähigkeit, Probleme zu lösen. Und wenn er in einem Match unter Druck geriet, wenn er die Maus und der andere die Katze war, entdeckte er immer wieder ein Schlupfloch, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.“
Ein Glücksfall für den Tennissport, der aus dem 19. Jahrhundert stammt und dessen Anziehungskraft auf die europäische Jugend des 21. Jahrhunderts nachlässt. Denn hier fand Federer, wonach er suchte, und seine Ziele verfolgte er mit Leidenschaft.
Trotz aller Anstrengungen gab es jedoch auch weiterhin Momente, in denen dem Glück eine entscheidende Rolle zukam. Sein Sturz in Crans-Montana war ein Beispiel.
Ein Ereignis bei seinen ersten Olympischen Spielen in Sydney im selben Jahr hatte womöglich den größten Einfluss auf sein Durchhaltevermögen an der Spitze.
Es waren unvergessliche Sommerspiele, die besten der vielen, von denen ich berichtet habe. Die Australier sind Sportfanatiker, und in jener zweiten Septemberhälfte bildete Sydney mit seinem schimmernden Hafen eine großartige Kulisse.
Normalerweise ist Tennis in Australien ein Zuschauermagnet, doch in diesem Fall stand es nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das nationale Interesse konzentrierte sich auf die Schwimmwettbewerbe, bei denen der 17-jährige Australier Ian Thorpe zum Weltrekord schwamm. Vor allem jedoch richteten die Australier ihren Blick auf die Laufbahn und die Aborigine Cathy Freeman. Freeman war zur nationalen Ikone aufgestiegen und über 400 Meter die Favoritin auf Gold.
In den Jahren vor den Olympischen Spielen hatte ich Freeman zweimal für die New York Times interviewt, davon einmal in einem Melbourner Café. Sie stand mit beiden Beinen auf der Erde, während die Erwartungen in schwindelerregende Höhen stiegen. Eine sanftmütige Person in einer außergewöhnlichen Situation. Ihr war klar, warum sie zu einem Symbol geworden war, und sie hatte bewusst ihre Siege mit den Fahnen Australiens und der Aborigines gefeiert. Doch als die Olympischen Spiele näher rückten, wollte sie nicht, dass ihre Erfolge politisch instrumentalisiert wurden. Aber es war bereits zu spät, um der Geschichte den Wind aus den Segeln zu nehmen.
„Mir geht es nur darum, Spaß zu haben und die Zeit zu genießen“, sagte sie mir. „Irgendwann möchte ich eine größere Rolle in der Politik und für die Aborigines übernehmen. Aber ich denke, dass ich im Moment bereits viel erreiche, indem ich einfach laufe.“
Freeman entzündete bei der Eröffnungszeremonie das Olympische Feuer, und am Abend des 400-Meter-Finales trug sie einen grün-goldenen Ganzkörperanzug mit Kapuze, der sie aerodynamischer machen sollte, doch auch wie ein Schutzschild gegen die elektrisierte Atmosphäre und die Erwartungshaltung in dem riesigen Olympiastadion wirkte.
Aus meiner Warte hoch oben auf der Tribüne erschien sie winzig inmitten all der Menschen, doch sie hielt sich tapfer angesichts der sie lautstark anfeuernden Rekordkulisse von 112.524 Zuschauern. Es waren die lautesten 49,11 Sekunden, die ich je miterlebt habe, der Lärmpegel hätte sie sowohl tragen als auch erdrücken können. Möglicherweise tat er beides. Als sie den Zielstrich überquerte und nach dem Gewinn der Goldmedaille auf die Laufbahn sank, wirkte sie eher verwirrt als glückselig, wie eine Freitaucherin, die gerade wieder aufgetaucht ist und in das Sonnenlicht blinzelt, nachdem sie die Tiefen des Meeres erkundet und ihre eigenen Grenzen ausgelotet hat.
Das Geschehen auf der nahegelegenen Tennisanlage an der Homebush Bay konnte damit nicht Schritt halten. Doch das Turnier bot Federer die Gelegenheit, Olympische Spiele mitzuerleben, ohne dass alle Scheinwerfer auf ihn gerichtet waren.
Bei den nachfolgenden Spielen dann sollte er im Rampenlicht stehen, und bei den Eröffnungszeremonien von Athen 2004 und Peking 2008 war er Schweizer Fahnenträger. Auch 2012 in London wurde jeder seiner Schritte auf dem vertrauten Rasen des All England Club genauestens beobachtet. Doch in Sydney war er ein einfacher Bewohner des Olympischen Dorfs, einer, der die Stars anstarrte und nicht selbst angestarrt wurde.
Während sich Venus und Serena Williams bei ihren ersten Olympischen Spielen vor der Aufmerksamkeit ihrer Kolleginnen und Kollegen in ein Hotel in der Innenstadt von Sydney flüchteten, teilten sich Federer und der Rest des Schweizer Tennisteams einschließlich ihrer Betreuer, darunter auch Lundgren, mit weiteren Schweizer Olympioniken ein Haus in Homebush Bay.
In einem Interview mit L’Équipe bemerkte Federer launig: „Zum Glück war ich im zweiten Stock und die Ringer im ersten, sodass ich keine Angst haben musste. Wir hatten eine Riesengaudi. Ich kann gar nicht sagen, wie viel Spaß ich bei den Spielen hatte.“
Als Kind hatte Federer die Olympischen Spiele im Fernsehen verfolgt, und obwohl er ein begeisterter NBA-Fan war, schaffte er es aus irgendeinem Grund nicht zu einem Basketballspiel. Allerdings konnte er einige Schwimmwettbewerbe und Badmintonpartien besuchen. Darüber hinaus verbrachte er eine tolle Zeit mit seinen Tennismannschaftskameraden und -kameradinnen, darunter auch ein weiterer Schweizer Olympia-Neuling, die damals 22-jährige Miroslava Vavrinec.
Miroslava, die von allen Mirka gerufen wird, war in dem Jahr in die Top 100 vorgestoßen. Doch zu den Olympischen Spielen hatte sie es nur geschafft, weil sich die beiden Schweizer Spitzenspielerinnen Martina Hingis und Patty Schnyder gegen einen Start entschieden hatten. Zudem hatte Vavrinec, deren Ranking nicht für die automatische Qualifikation ausreichte, eine Wildcard der International Tennis Federation benötigt.
Sie unterlag in der ersten Runde des Einzels mit 1:6, 1:6 gegen Elena Dementiewa, die spätere Silbermedaillengewinnerin, und schied auch mit ihrer Doppelpartnerin Emmanuelle Gagliardi in der ersten Runde aus. Doch zumindest konnte Vavrinec überhaupt im Doppel antreten. Federer dagegen, der mit Rosset hatte spielen wollen, stand ohne Partner da, als Rosset in allerletzter Minute auf die Teilnahme verzichtete.
Damit war nicht nur Federer seine wahrscheinlichste Chance auf eine Medaille genommen worden, sondern auch einem anderen Schweizer Spieler (Lorenzo Manta oder Michel Kratochvil) die Gelegenheit, Rosset zu ersetzen.
„Ich hatte keine Ahnung“, erklärte Federer nach der Ankunft in Sydney und klang verstimmt, weil Rosset ihn trotz ihrer Freundschaft im Stich gelassen hatte.
Federer wusste nur zu gut um die Bedeutung der Olympischen Spiele für die Karriere von Rosset, der 1992 die Goldmedaille im Herreneinzel gewonnen hatte. Doch der Verzicht von Rosset und Hingis zeigte überdeutlich, dass Olympia für viele Tennisspieler keine hohe Priorität hatte: In diesem Sport sind die Terminkalender randvoll, und es herrscht kein Mangel an bedeutenden Events und großen Zahltagen.
Auch Pete Sampras und Andre Agassi, die seit Langem die dominierenden Figuren im Herrentennis waren, ließen die Spiele von Sydney aus: Agassi aus familiären Gründen, Sampras, weil er sich lieber auf die reguläre Tour konzentrierte und eine Olympia-Medaille nicht auf der Liste seiner Karriereziele stand.
Tennis war seit dem Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen im Programm gewesen, jedoch von 1928 bis 1984 gestrichen worden, ehe es in Los Angeles als Demonstrationssportart zurückkehrte und 1988 wieder regulär aufgenommen wurde. Die Rückkehr war ein Ergebnis der Lobbyarbeit der International Tennis Federation und ihres französischen Präsidenten Philippe Chatrier. Der gewitzte Journalist und Funktionär hatte auch einen wesentlichen Anteil an der Renaissance der French Open.
Es ließ sich jedoch nicht leugnen, dass Tennis die Feuertaufe nicht bestanden hatte. Gold bei den Olympischen Spielen war eben nicht das höchste der Gefühle, nach wie vor zählte ein Triumph bei einem der vier Grand-Slam-Turniere am meisten. Allerdings: Auch im Basketball stellte eine olympische Goldmedaille für die besten NBA-Spieler nicht den Höhepunkt ihrer Karriere dar, dennoch kehrten sie 1992 zu den Spielen zurück.
Die Olympischen Spiele befanden sich in einem Veränderungsprozess, sie wurden kommerzieller und legten zunehmend Wert darauf, so viele Weltstars des Sports wie möglich zusammenzubringen. Auch Rugby, Golf und Surfen sollten sich schließlich dem vierjährlichen Sommerzirkus anschließen.
Anders als Sampras und seine Generation hatte der 1981 geborene Federer die Olympischen Spiele nie ohne seinen Sport gekannt.
„Als Kind gehörten die Olympischen Spiele für mich zum Tennis dazu“, sagte Federer. „Sie waren immer ein Ziel und haben mich in ihren Bann gezogen.“
Dazu kam noch seine Verbundenheit mit Australien und Sydney, wohin er 1995 kurz vor seinem Eintritt in das nationale Leistungszentrum der Schweiz in Ecublens mit seiner Familie gereist war. Sein Vater Robert hatte sogar kurzzeitig mit einer Stelle in Australien geliebäugelt, aber sich letztlich dagegen entschieden.
Die australische Kultur passte zu Federers extrovertierter Persönlichkeit und seiner Liebe zu Strand, Sonne und weiten Landstrichen; diese Mischung hatte er auch bei seinen Kindheitsbesuchen in Südafrika geliebt.
Dennoch kam er natürlich auch mit sportlichen Ambitionen nach Sydney.
„Ich würde gern mit einer Medaille nach Hause zurückkehren, am liebsten einer goldenen“, erklärte er vor seiner Abreise nach Australien – starke Worte für einen 19-Jährigen, der auf Rang 43 der Weltrangliste stand und noch auf seinen ersten ATP-Titel wartete.
Immer wieder wird behauptet, dass sich Federer und Vavrinec bei den Olympischen Spielen kennengelernt hätten. Doch ihre Wege hatten sich bereits bei Turnieren und im nationalen Leistungszentrum von Biel/Bienne gekreuzt, wo Vavrinec gelegentlich an Trainingslagern teilnahm oder mit ihren eigenen Trainern zu Gast war.
Doch die selbstbewusste und mehr als drei Jahre ältere Vavrinec war offenbar zunächst nicht sonderlich beeindruckt von dem Teenager.
In einem ihrer seltenen Interviews erzählte sie der Schweizer Zeitung Le Matin: „Ich war eher ruhig und diszipliniert; Roger veranstaltete einen ziemlichen Lärm. Er schmetterte lauthals Songs der Backstreet Boys.“
Doch bei allen Unterschieden in ihren Persönlichkeiten fand sie ihn amüsant.
„Er war lustig, voller Leben und brachte mich zum Lachen“, erzählte sie. „Manchmal mussten die Trainer ihn vom Platz schicken, um ein bisschen Ruhe zu haben.“
Die Einstellung der beiden zum Training war in jener Zeit höchst gegensätzlich. Doch beide hatten große Träume. Und ein Elternhaus mit migrantischem Hintergrund. Federers Mutter stammt aus Südafrika, die Eltern von Vavrinec wanderten aus der Tschechoslowakei ein.
Vavrinec wurde am 1. April 1978 als einziges Kind ihrer Eltern in Bojnice geboren, einer Kleinstadt, die vor allem für ihr historisches Schloss bekannt ist und in der heute unabhängigen Slowakei liegt. Für eine Stadt mit lediglich 5000 Einwohnern hatte sie einen überproportionalen Einfluss auf den Tennissport. Bojnice ist der Geburtsort von Miloslav Mecir, der in den späten 1980er-Jahren einer der weltbesten Spieler war, das Finale der US Open und der Australian Open erreichte und 1988 bei den Olympischen Spielen von Seoul Gold gewann. Wegen seiner Geschmeidigkeit trug er den Spitznamen „die Katze“, und er war ein betörender Spieler mit gefühlvollem Händchen, schwebender Beinarbeit und einer verblüffenden Fähigkeit, das Spiel zu lesen und überflüssigen Aufwand zu vermeiden. Auf die Frage nach seiner Hundertmeterzeit antwortete Mecir scherzhaft, die wisse er nicht, da er noch nie 100 Meter gelaufen sei. Auch Karina Habsudova, 1997 die Nummer 10 der Damen-Weltrangliste, wurde in Bojnice geboren.
Vavrinec blieb jedoch nicht lange in der Stadt. Mit zwei Jahren siedelte sie mit ihren Eltern in die Schweiz über. Die Familie ließ sich in Kreuzlingen am Bodensee nieder, wo ihr Vater seine Arbeit als Goldschmied und Juwelier aufnahm und eine Firma gründete.
Vavrinec’ ernsthafte Tenniskarriere begann, als ihr Vater Ende der 1980er-Jahre den in der Tschechoslowakei geborenen Superstar Martina Navratilova und deren Stiefvater Miroslav um Rat bat. Auch Navratilova war eine tschechoslowakische Exilantin: Sie hatte sich wegen des kommunistischen Regimes in die Vereinigten Staaten abgesetzt.
Immer wieder wird kolportiert, dass die neunjährige Vavrinec und ihr Vater unangekündigt bei dem WTA-Turnier in Filderstadt aufgetaucht und von Navratilova empfangen worden seien, weil es Vavrinec’ Vater gelungen sei, den Sicherheitsmann zu beschwatzen, sodass seine Tochter Navratilova zum Geburtstag ein Paar handgefertigte Ohrringe überreichen konnte.
Navratilova soll den Vavrinec’ der Legende nach erklärt haben, dass Mirka gute athletische Voraussetzungen mitbringe und es zu einer hervorragenden Tennisspielerin bringen könne. Anschließend habe sie die Verbindung zu dem tschechischen Trainer Jiri Granat hergestellt, der in der Schweiz lebte und mit dem sie in der Jugend gespielt hatte.
Und so nahm alles seinen Anfang. Angeblich.
Doch diese außergewöhnliche Ursprungsgeschichte ist womöglich ein wenig zu außergewöhnlich. Auch wenn Vavrinec, die seit mehr als einem Jahrzehnt kein offizielles Interview mehr gegeben hat, es nicht bestätigte, hat mir Navratilova berichtet, dass Vavrinec’ Vater bereits zuvor ihren Stiefvater in der Tschechoslowakei um eine Expertenmeinung zu dem Potenzial seiner Tochter gebeten habe.
„Mein Vater hatte eine Stunde mit ihr und sagte, ja, sie habe das Potenzial, auf der Tour zu spielen“, erzählte Navratilova. „Ich weiß nur, dass mein Vater grünes Licht gab und sagte, sie werde gut. So viel weiß ich. Und dann habe ich mich mit der Familie getroffen, als sie zu dem Turnier kam. Meine Eltern waren auch da, denn sie durften zu der Zeit reisen, also haben wir alle zusammen zu Mittag oder zu Abend gegessen und beisammengesessen. Das war ungefähr ein Jahr danach.“
Navratilovas Eltern ließen sich scheiden, als sie vier war; ihr biologischer Vater spielte in ihrem Leben nicht annähernd eine vergleichbare Rolle wie ihr Stiefvater. Dieser hatte Navratilovas Mutter durch das Tennis kennengelernt und der jungen Martina den Sport nähergebracht. Er wurde ihr erster Coach und eine starke Vaterfigur für sie bis zu seinem Tod 2001.
Navratilova sagte: „Ich glaube, Mirkas Vater wusste, dass mein Vater immer sagt, was er denkt – genau wie ich, obwohl wir nicht dieselbe DNA haben. Er nahm kein Blatt vor den Mund. Er hätte ihnen gesagt, wenn sie ihre Zeit verschwenden, genauso wie er ihnen sagte, dass sie eine reelle Chance hatten. Mein Vater war geradeheraus, und Talent kann man sehen. Ob ein Kind das gewisse Etwas hat, weiß man schon sehr früh. Was man nicht weiß, ist, wie weit es das Kind bringen wird.“
Laut Navratilova kann man allein am Gang eines Kindes sehen, ob es sich in besonderer Weise für den Sport eignet. Vavrinec, die als junges Mädchen getanzt hatte, besaß diesen gewissen Gang – natürlich, rhythmisch, elegant – und entwickelte sich rasch zu einer hervorragenden Juniorin, die bereits mit 15 den Titel bei den Schweizer U18-Meisterschaften gewann.
In der Schweiz lag die Messlatte inzwischen außergewöhnlich hoch. Hingis, ebenfalls als junges Mädchen aus der Slowakei ins Land gekommen, war zwei Jahre jünger als Vavrinec und hatte als Nummer eins der Welt bereits zahlreiche große Titel gewonnen. Schnyder, eine künftige Top-10-Spielerin, war genauso alt wie Vavrinec; ihr Bruder hatte zu Federers Rivalen in der frühen Jugend gehört.
Doch Vavrinec war zielstrebig. Sie bekam schließlich nicht nur einen Schweizer Pass, sondern auch die wertvolle Unterstützung von Walter Ruf, einem Schweizer Geschäftsmann, der in ihre Karriere investierte. Solch eine Vereinbarung ist nicht ungewöhnlich für talentierte Junioren und ihre Familien, die die finanziellen Mittel für die Trainer und die Reisen aufbringen müssen.
Vavrinec entwickelte sich zu einer soliden Profispielerin. Doch ihr Spiel war limitiert.
„Sie hatte nicht die für eine absolute Topspielerin erforderliche Qualität, sie hätte es trotzdem sicherlich unter die Top 50 schaffen können“, erklärte Eric van Harpen, der als Coach die Grand-Slam-Siegerinnen Arantxa Sanchez Vicario und Conchita Martinez betreute.
Groeneveld stellte fest: „Sie war eine gute Grundlinienspielerin, sehr athletisch, sehr dynamisch, sehr kraftvoll, doch ein wenig mechanisch. Sie hatte keine entscheidenden Waffen, das glich sie durch ihre Fähigkeit aus, den Ball im Spiel zu halten und unermüdlich zu rennen. Sie verbiss sich in eine Partie, sie war eine Kämpferin.“
Vavrinec war nicht die einzige Sportlerin, bei der Navratilova früh eine entscheidende Rolle zukam. Im Jahr 1993 entdeckte Navratilova bei einem Lehrgang in Moskau das Talent der sechsjährigen Maria Sharapova und riet Sharapovas Vater Juri, nach einer Trainingsmöglichkeit im Ausland zu suchen. Die Familie siedelte mit einem Startkapital von nicht einmal 1000 US-Dollar nach Florida um und setzte darauf, dass Maria Profi werden würde. Dieses Ziel erreichte sie, und noch viel mehr: Mit 17 gewann sie Wimbledon, sie stieg zur Nummer eins auf und war jahrelang die bestverdienende Sportlerin der Welt.
Ich wollte von Navratilova wissen, ob ihr das häufiger passiert sei, dass sie aufgrund einer kurzen Begegnung entscheidend in den Verlauf eines Lebens – und der Tennisgeschichte – eingegriffen habe.
„Nein“, sagte sie lachend. „Ich glaube, Maria und Mirka waren die beiden einzigen Fälle.“
Vavrinec erklomm als Spielerin nie auch nur annähernd dieselben Höhen wie Sharapova und beendete 2002 wegen chronischer Fußprobleme de facto ihre Laufbahn. Zwei Jahre zuvor jedoch, in Sydney, als sie und Federer ihre ersten Olympischen Spiele erlebten, schienen beide am Beginn einer langen Karriere zu stehen.
Für Federer hatte sich das Jahr 2000 zu einer schwierigen Saison entwickelt, es gab viele Rückschläge und Erstrundenniederlagen und einige schwerwiegende Entscheidungen.
Schon früh im Jahr hatte er sich entschlossen, sich vom Schweizer Verband abzunabeln und nach Olympia mit einem Privatteam weiterzumachen. Das Problem war die Auswahl eines Coaches. Sollte er Carter nehmen, seinen langjährigen Mentor? Oder Lundgren, der im Gegensatz zu Carter regelmäßig auf der Tour gespielt hatte und unter den Top 30 gewesen war?
„Das Problem ist, dass ich mit beiden gern zusammenarbeite“, erklärte Federer.
Die Lösung hätte auch keiner der beiden Peter sein können.
Wie Groeneveld berichtete, wurde er im Jahr 2000 von Federer und seiner Familie gefragt, ob er den Posten übernehmen wolle. Groeneveld lehnte ab.
„Robbie, Rogers Vater, macht sich immer über mich lustig und sagt, dass ich der Einzige sei, der einen Job bei Roger ablehnte“, meinte Groeneveld.
Groeneveld hatte seinen Leitungsposten im nationalen Leistungszentrum in Biel/Bienne 1998 nach nur einem Jahr aufgegeben, um den britischen Spitzenspieler Greg Rusedski zu trainieren. Laut Gronevelds eigener Aussage habe er den Federers erklärt, dass Carter oder Lundgren die Chance zustehe.
„Die beiden Peter hatten so viel Zeit in Roger investiert, und ich hatte so eine gute Beziehung zu beiden. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Job nicht übernehmen kann, weil die beiden ihn sich verdient hatten“, so Groeneveld.
Daraufhin fragten die Federers Groeneveld, für welchen Peter er sich entscheiden würde.
„Für mich war klar, dass Roger in den darauffolgenden Jahren mit jeder Menge Kritik konfrontiert werden würde, und in meinen Augen genoss Peter Lundgren international ein größeres Ansehen. Die Schweizer Medien konnten ihn nicht niedermachen“, sagte Groeneveld. „Mit Peter Carter hätten sie leichteres Spiel gehabt, weil er nie in den Top 50 gestanden hatte. Er hatte nie ein ATP-Turnier gewonnen. Er kam aus einer kleinen Stadt in Australien. Er hatte nicht denselben Status wie Lundgren. Und wegen dieses Hintergrunds und Lundgrens Erfahrung mit Marcelo Rios, seinen eigenen Erfahrungen als Spieler und seinen Beziehungen zu den schwedischen Spielern votierte ich für Lundgren. Ich wusste, dass es hart werden würde. Und jene drei Jahre sollten sich als wirklich hart erweisen.“
Groeneveld war nicht der Einzige, der um Rat gebeten wurde. Da war auch noch Paul Dorochenko, der forsche französische Konditionstrainer und Physiotherapeut, der oft mit Federer zusammengearbeitet und ihn auf Reisen begleitet hatte, bis er zu Beginn des Jahres 2000 den Schweizer Verband verlassen hatte.
„Eines Tages kam Roger zu mir und fragte mich: ‚Was meinst du, Paul? Wer sollte mich auf die Tour begleiten?‘“, erinnerte sich Dorochenko. „Und ich sagte: ‚Ganz ehrlich, ich denke, dass du mit Lundgren sehr viel besser fährst als mit Carter.‘ Lundgren verfügte über die nötige Erfahrung auf diesem Niveau, außerdem hat er immer gute Laune, sehr angenehm. Er ist kein Techniker, wie Peter Carter es war, aber er ist ein Coach, der weiß, wie er dich motiviert.“
Federer gab seine Entscheidung in einer Mitteilung bekannt, die sein Vater am 23. April, Ostersonntag, an die Schweizer Presse faxte. Nach reiflicher Überlegung war die Wahl auf Lundgren gefallen.
Federer erklärte später: „Das war eine Fifty-fifty-Entscheidung. Ich kannte Peter Carter, seit ich acht war. Es war die härteste Entscheidung meines Lebens, und am Ende gab mein Bauchgefühl den Ausschlag.“
Carter, der Architekt von Federers Spiel, äußerte sich betroffen, öffentlich jedoch stellte er sich im Großen und Ganzen hinter die Entscheidung. Hinter den Kulissen, hieß es, war er am Boden zerstört.
Peter Smith, Carters Jugendtrainer und enger Freund, erzählte, dass dieser ihn im März in Australien angerufen habe, nachdem ein aufgewühlter Federer ihm einige Zeit vor der öffentlichen Bekanntgabe die Entscheidung mitgeteilt habe: „Wir haben uns sehr lange unterhalten, und er war zutiefst enttäuscht. Er hatte der Arbeit mit Roger einen guten Teil seines Lebens gewidmet, er hat ihn geliebt.“
Carter war überzeugt, er könne einen besseren Einfluss auf Federer ausüben, doch Federer hatte in seinen knapp drei Jahren in Biel/Bienne viel Zeit mit Lundgren verbracht und war sich über dessen eher beruhigende Persönlichkeit im Klaren.
Laut Lundgren führte die Entscheidung nicht zu Spannungen zwischen ihm und Carter. Doch Lundgren spürte Carters Enttäuschung und schätzte, wie dieser damit umging. Dasselbe galt für Federer.
Lundgren erinnerte sich: „Als Roger sich für mich entschied, sagte Peter: ‚Wenn du meine Hilfe brauchst, bin ich für dich da. Ich stehe hinter dir. Einhundert Prozent.‘“
Doch Smith zufolge war Carter verbittert. Das bestätigte auch Dorochenko, der zu jener Zeit eng mit Carter zusammenarbeitete.
„Danach war er nicht mehr ganz derselbe alte Peter Carter“, erklärte Dorochenko. „Er hatte wirklich schwer an der Entscheidung zu knabbern.“
Das war nicht das erste Mal, dass Federer sich aus Carters Einflusssphäre verabschiedete. Mit 14 war er von Basel nach Ecublens gegangen. Nur dieses Mal war die Entscheidung für Carter weitaus schwerer zu akzeptieren, da Federer auf dem Sprung stand, einer der besten Spieler der Welt zu werden.
Carter tat alles, um die Sache hinter sich zu lassen. Er ersuchte den Schweizerischen Tennisverband um eine Beförderung und ein höheres Gehalt und trainierte weiterhin Nachwuchsspieler im nationalen Leistungszentrum. Derweil stellte Federer sein Team zusammen. Diesem sollte auch Pierre Paganini angehören, der Schweizer Konditionstrainer, der Federer in Ecublens mit seiner seltenen Mischung aus Strenge, Kreativität und Einfühlungsvermögen beeindruckt hatte.
Der Plan war, dass das Team nach den Olympischen Spielen die Arbeit aufnehmen sollte. In der Zwischenzeit häuften sich die Niederlagen. Federer gab zu, dass er mit dem Druck seiner eigenen Erwartungen zu kämpfen hatte, noch verstärkt durch seinen Entschluss, sich vom Verband zu lösen.
Darüber hinaus hatte er zu Beginn des Jahres 2000 die Zusammenarbeit mit dem Psychologen Christian Marcolli beendet.
Marcolli erklärte mir: „Alles, was ich mache, wird von dem Gedanken geleitet, dass ich eines Tages überflüssig werde. Ich will keine Abhängigkeit schaffen, keine Beziehung, wo der andere sagt, ich kann nur gut sein, wenn du dabei bist. Mein Mantra, und das kommuniziere ich vollkommen transparent, lautet: ‚Ich möchte, dass du irgendwann sagst: Danke, ich habe es begriffen. Ab jetzt schaffe ich es auch ohne dich.‘ Natürlich ist das dann ein emotionaler Tag, aber genau darin sehe ich meine höchste Verantwortung.“
Federer kam jedoch kaum voran. Ab April schied er bei fünf Turnieren in Folge bereits in der ersten Runde aus, unter anderem durch ein 1:6, 1:6 gegen Sergi Bruguera in Barcelona. Zu jenem Zeitpunkt war Dorochenko nach seinem Abschied vom Schweizerischen Verband seit rund zwei Wochen wieder im Team von Bruguera.
Er erzählte: „Ich habe Sergi gesagt: ‚Spiel Roger einfach hohe Topspinbälle auf die Rückhand, dann kann nichts schiefgehen.‘ Bruguera war gerade erst nach einer Schulter-OP zurückgekommen, und das war sein erstes Match, doch wenn man es schafft, Federer auf Sand hoch mit Topspin auf die Rückhand zu spielen, kann man nur gewinnen. Nur gibt es nicht viele Spieler, die das wirklich gut hinkriegen. Federers Schläge kommen so schnell, dass man keine Zeit hat, sich richtig vorzubereiten.“
Rafael Nadal, damals noch ein Teenager, sollte in späteren Jahren und French-Open-Endspielen Federers Rückhand mit durchschlagendem Erfolg attackieren.
Doch für den Moment hatte Federer andere Sorgen.
David Law, seinerzeit für die ATP als Kommunikationsmanager tätig, sagte: „Der Durchbruch wollte einfach nicht gelingen. In Monte Carlo verlor er gegen Jiri Novak, mit 5:7 im Dritten, und ich weiß noch, wie er auf dem Weg zur Pressekonferenz fragte: ‚Warum verliere ich die engen Matches alle?‘“
Die French Open 2000 ließen sich gut für ihn an. Er setzte sich in den ersten drei Runden durch, ehe er Alex Corretja unterlag, einem weiteren spanischen Sandplatzspezialisten mit jeder Menge Topspin. Doch schon kurz darauf kehrte bei Federer wieder Trübsal ein nach sechs weiteren Erstrundenniederlagen in Nottingham, Wimbledon, Gstaad, Kanada, Cincinnati und Indianapolis.
Law spürte, dass Federer sich an einem Scheideweg befand und die ernsthafte Gefahr bestand, dass er sein spielerisches Potenzial nie würde umsetzen können.
„Ich muss sagen, dass sich alles auch in die entgegengesetzte Richtung hätte entwickeln können, denn ihm gefiel das Leben als Tennisprofi, das Herumreisen, Spaß zu haben“, erklärte Law. „In der Umkleide spielte er kleine, nette Streiche, aber er hatte so viel Energie. Und die Frage ist letzten Endes: Was machst du mit dieser Energie? Wofür verwendest du sie?“
Der US-Amerikaner John Skelly, der unter anderem Vince Spadea und Bob und Mike Bryan trainierte, erinnert sich noch an seine Begegnungen mit Federer und Lundgren außerhalb des Platzes.
„Federer war damals ziemlich entspannt“, sagte Skelly. „Er hat viel gefeiert und gern mal ein Bier getrunken, genau wie sein Coach. Ich weiß noch, wie Federer bei Wimbledon 2000 in einer Kneipe in der Altstadt sturzbetrunken war. Er war ohne Frage ein fröhlicher Trinker und hat als junger Mann die Spielerpartys genossen.“
Federer hatte einmal unabsichtlich für Skellys Entlassung gesorgt. Nachdem Spadea in Monte Carlo Federer noch in überzeugender Manier besiegt hatte, war er später in der Saison in Wien chancenlos gewesen. Laut Skelly gab Spadeas Vater, Vincent senior, aus lauter Wut darüber eine der größten Fehleinschätzungen der Tennisgeschichte von sich.
Skelly erinnerte sich: „Unmittelbar nach der Partie schimpfte Papa Spadea: ‚Du bist gefeuert! Dieser Typ ist eine Null! Aus dem wird nie was!‘“
Skelly kehrte später wieder zu Spadea zurück, ohne Groll gegen Federer.
„Wirklich ein toller Typ“, sagte er. „Er hat sich kein bisschen verändert, trotz all seiner Erfolge. Er hat mich immer gut und respektvoll behandelt, hatte immer ein Lächeln für mich, wenn wir uns über den Weg gelaufen sind.“
Bei den Olympischen Spielen kehrte das Lächeln auf Federers Gesicht zurück, da er die ersten vier Partien ohne Satzverlust gewann und durch Siege über David Prinosil, Karol Kucera, Mikael Tillstrom und Karim Alami ins Halbfinale einzog.
Auf dieser Liste befanden sich wahrlich keine Tennisgiganten, auch wenn der leichtfüßige Slowake Kucera einst in den Top 10 gestanden hatte. Dennoch war es eine ermutigende Serie, und Federer zog mit wiedergewonnenem Selbstvertrauen in die Medaillenrunde ein, wo er es mit Tommy Haas zu tun bekam, dem Deutschen mit einhändiger Rückhand und gleichfalls fließendem, den gesamten Platz abdeckendem Stil. Haas war anders als Federer in der frühen Jugend aus Europa in die Vereinigten Staaten gegangen, um in Bradenton, Florida, an der Bollettieri Academy zu trainieren. Hier baute er ein außergewöhnlich enges Verhältnis zu dem Gründer der Akademie, Nick Bollettieri, auf. Die gesellige, stets braungebrannte Naturgewalt Bollettieri war achtmal verheiratet, wirklich treu war er nur seiner Arbeit. Sein Bedürfnis nach Selbstvermarktung war unstillbar, zugleich hegte er eine wahre Liebe für das Spiel, in dem er als Trainer sehr viel besser war als jemals in seiner aktiven Zeit.
Der damals 22-jährige Haas hatte bereits einmal, 1999 bei den Australian Open, das Halbfinale eines Grand Slam erreicht und sollte 2002 die Nummer zwei in der Welt werden, ehe schwerwiegende Verletzungen seinen Aufstieg stoppten. Doch wie für Federer war auch für Haas die Saison 2000 bis zu den Olympischen Spielen enttäuschend verlaufen.
Er fertigte Federer ziemlich mühelos mit 6:3, 6:2 ab. Federer fand nie die Sicherheit in seinem Spiel und kickte im letzten Spiel sogar frustriert seinen Schläger in die Luft. Haas brachte seinen Aufschlag zum Sieg durch, zog ins olympische Finale ein und hatte damit bereits eine Medaille sicher.
Der Gedanke an eine Bemerkung Lundgrens im Verlauf des Turniers drängte sich auf: „Wenn er zurückliegt, hat Roger manchmal immer noch Probleme, zu fighten.“
Doch noch hatte Federer wegen des tennisunüblichen Olympiaformats die Chance auf eine Medaille. In der Partie um die Bronzemedaille traf er auf eine andere Turnierüberraschung, den 21-jährigen Franzosen Arnaud Di Pasquale.
Di Pasquale, lediglich auf Rang 62 der Weltrangliste geführt, und Federer verstanden sich eigentlich gut, doch bei ihrem unerwarteten Duell in Sydney herrschte von Beginn an eine gespannte Atmosphäre. Di Pasquale gewann mit 7:6 (5), 6:7 (7), 6:3, wobei er im Tiebreak des zweiten Satzes einen Matchball vergab, ehe er im dritten Satz nach einem frühen Break gegen sich zurückkam.
Anschließend erklärte Di Pasquale: „Ich hatte Angst, große Angst, aber ich habe mir gesagt, dass ich den Platz nicht als Verlierer verlassen darf. Das ist der größte Moment meiner Karriere.“
Noch war nicht absehbar, dass es auch der größte Moment seiner Karriere bleiben sollte. Di Pasquale verabschiedete sich 2007 mit einer negativen Bilanz von der Tour.
Federer musste sich am Ende als Vierter mit dem Platz direkt neben dem Podium abfinden, dem schmerzlichsten Platz bei Olympischen Spielen. Die Niederlage gegen Haas hatte er emotional nur schwer verdaut, und auch die Partie gegen Di Pasquale setzte ihm hart zu.
„Das ist ziemlich frustrierend“, bekannte er nach dem Match im Interview, die Augen unter der tief ins Gesicht gezogenen Schirmmütze verborgen. „Im Halbfinale gegen Tommy Haas habe ich ganz schlecht gespielt. Heute war mein Tennis besser. Details haben den Ausschlag gegeben. Wenn eine Medaille in Reichweite ist, tut es weh, sie auf diese Weise zu verlieren.“
Doch Federers erste Olympische Spiele sollten noch ein erfreuliches Ende nehmen. An seinem letzten Abend in Sydney kam es zum ersten Kuss mit Mirka Vavrinec.
Dass sie überhaupt die Gelegenheit erhielten, so viel Zeit miteinander zu verbringen, war im Grunde höchst unwahrscheinlich gewesen, denn Vavrinec hätte die Olympischen Spiele auch genauso gut verpassen können.
Sie sollten sich erst im Dezember wiedersehen, den Kontakt hielten sie per Telefon. Sie hatten im jeweils anderen einen besonderen Menschen gefunden, und niemand sonst hatte einen vergleichbaren Anteil daran, dass Federer über einen derart langen Zeitraum das Beste aus seiner überragenden Tennisbegabung herausholte.
Groeneveld stellte fest: „Sie war auf einer Mission.“
Zu Beginn hatte der Zufall zweifellos eine Rolle gespielt, doch es bedurfte neben unendlich viel harter Arbeit auch zahlreicher kluger Entscheidungen, damit Roger zu Federer werden konnte, wie es der Schweizer Journalist Laurent Favre einmal gewitzt formulierte.
Federer erzählte mir viele Jahre nach den geschilderten Ereignissen: „Mirka war felsenfest davon überzeugt, dass ich mein Talent nicht vergeuden dürfe. Denn ihr war klar, dass sie selbst in gewissem Maße limitiert war. Sie war extrem fleißig, aber sie wusste, dass ich mit meinem Talent so viel mehr erreichen konnte, und diese Überzeugung hatte enormen Einfluss auf mich.“