»Merci«, sagte Ben, als er aus dem alten VW Passat Variant kletterte. Er war schon mal bequemer Taxi gefahren. Der Fahrer hatte es eindeutig eilig. Die Straßenbeschaffenheit nahm zusehends beängstigendere Züge an, je höher Schnee lag und weiter das Tageslicht schwand. Ben hatte versucht, ein paar dienstliche E-Mails abzuarbeiten, aber beim Blick hinten im Wagen auf seinen Bildschirm, während das Auto eine weitere vereiste Haarnadelkurve nahm, wurde ihm schlecht.
Er hatte seine Tochter Natalie zu Hause in London anzurufen versucht, aber nicht mehr zuwege gebracht, als »Hi, wie läufts?« zu sagen und ihre langsame, leise, verstörende Antwort zu vernehmen: »Tja, okay, schätze ich. Bei Mom nicht.« Dann riss die Verbindung ab, und nach neuerlichem Wählen schaltete sich sofort die Mailbox ein. Natalies Mum – seine Ex-Frau Alex – war für gewöhnlich wohlauf, gut gelaunt und hatte alles voll im Griff. Was war los? War sie krank?
Unterwegs zum Hoteleingang spürte Ben, und das nicht zum ersten Mal, den Abstand zwischen seinem früheren Leben und seinen gegenwärtigen Verhältnissen.
Das Hotel, funkelnd wie ein lasergeschliffener Edelstein mitten in den Hochalpen, mitten im Winter und erstaunlicherweise ganz für sich – es mochte für manche ein unschätzbar wertvoller Rückzugsort sein. Für Ben war es Arbeit, weshalb er sich ein abgeranztes altes Taxi den ganzen Weg von Martigny hoch hatte antun müssen anstelle, sagen wir, eines modernen SUVs oder auch Hubschraubers. Denn sein Arbeitgeber, die Hideaway-Hotelgruppe, mochte wohl in der Luxushotelsparte angesiedelt sein, war jedoch hinsichtlich Reisespesen seiner Angestellten für Knauserei be- rüchtigt.
Er fror bereits, als er seine Tasche durch die gewaltigen gläsernen Eingangstüren zog, die leiser als ein Flüstern aufgeglitten waren. Zusätzlich sorgte für Verdruss, dass der Fahrer ihm nicht mit seinem Gepäck behilflich gewesen war und ihn gut fünfzig Meter vor dem Eingang abgesetzt hatte. Mit einem Mal hatte er von Glatteis zu murmeln begonnen und befürchtet, nicht mehr wenden zu können, was einfach lächerlich war angesichts seiner nächtlichen Rallyefahrt soeben den Berg hoch. Überdies war Ben beim Betreten der Empfangshalle überrascht und gelinde gesagt fast schon bestürzt, keinen Türsteher vorzufinden oder sonst ein Belegschaftsmitglied, das sich beeilte, ihn zu begrüßen. Als ob sich das Hotel bereits bettfertig gemacht hätte.
Fast zwei Stunden verspätet, da er einen Anschlusszug ausgerechnet in Genf verpasst hatte, hoffte Ben inständig, dass das Restaurant noch offen war. Er wollte sich an einen Tisch setzen und eine ordentliche Mahlzeit zu sich nehmen, wie es zu seinen Dienstpflichten gehörte, statt kurzerhand den Zimmerservice testen zu müssen.
Immerhin war die Halle warm, und es stand niemand Schlange vorm Empfangstresen. Wer sonst sollte auch um diese Zeit ein- oder auschecken, außer vielleicht ein Hotelinspektor beim Versuch, jemanden kalt zu erwischen? Natürlich wusste niemand, wer er war oder warum er hier war. Ben hatte sich inzwischen in die Rolle reingefuchst, als Hochvermögender die Welt zu bereisen oder zumindest als solcher in Luxushotels abzusteigen, wobei der Reiseteil immer noch sehr zum Spartarif erfolgte. Doch eingedenk Natalies knapper Bemerkung neulich war er sich ungewiss, ob die Luxuskomponenten noch so ansprechend waren wie früher einmal.
Exotische Örtlichkeiten verloren immer mehr an Kontur, ebenso wie Luxuselemente. Entfernung war das größte Problem, Entfernung von den Liebsten, Entfernung von zu Hause und einem festen Arbeitsplatz, Entfernung zu routinierten Abläufen. Im Grunde Entfernung von Realität.
»Hallo«, sagte Ben und trat auf die Frau hinter dem Tresen zu. Er hatte sie aufgeschreckt, und sie brauchte einen Moment, um sein Lächeln zu erwidern. »Ich checke ein«, hängte er an, falls sie ihn für ein randständiges Subjekt hielt, das einfach von der Straße hereinspaziert gekommen war. Als ob das hier wahrscheinlich wäre. Abgelegener hätte das Hotel gar nicht sein können. Ben schaute unwillkürlich über die Schulter und sah sich dann in der Empfangshalle um, die in eine Designerlounge überzugehen schien. Sie war angefüllt mit den üblichen ultramodernen Möbelstücken und bar menschlicher Gegenwart. Niemand saß je in diesen Nischen. Wem könnte man es verdenken?
»Ja, selbstverständlich, Sir«, sagte die Frau auf Englisch mit starkem Akzent. Ben glaubte sicher, dass sie Italienerin war. »Und Ihr Name, bitte?«
»Ben Martin«, sagte er langsam. Unter falschem Namen reiste Ben nicht mehr. Es gab einfach zu viele Rückfragen und Sicherheitsbedenken. Überdies bekräftigte Hideaway nur zu gern, dass die firmeneigenen Hotelinspektoren schwerlich Bekanntheitswert hätten, nicht einmal im Gastgewerbe selbst. Abgesehen davon gehörten so viele Hotels dem Verbund an, dass es Jahre dauern würde, ehe derselbe Inspektor ein und dasselbe Hotel ein zweites Mal aufsuchen würde. Noch so eine Ironie, an der Ben sich störte. Wie konnten so viele Hotels exklusiv sein, diskret und der Gipfel des Luxus? Und das waren nur die an Hideaway angeschlossenen Häuser. Es gab viele weitere Luxushotelgruppen, die mutmaßlich alle ihre eigenen Inspektoren hatten.
Wie weit waren Hochvermögende verbreitet? Kriege, Pandemien, Ökokatastrophen, und immer noch gab es Leute, die Geld wie Heu zum Ausgeben hatten. Was sollte nur aus der Welt werden? Was war aus der Welt geworden?
Ben wurde zügig und umstandslos eingecheckt, wenn ihm auch seine trendige mattschwarze Hideaway-Treuekarte keine Zimmeraufwertung einräumte – denn das Hotel war unversehens nahezu voll belegt. »Wir sind regelrecht überrumpelt worden«, teilte ihm die Italienerin mit.
Gewöhnlich buchten ihm seine Betreuer nur Zimmer in Hotels mit genügend Leerstand, um keines an einen Inspektor zu vergeuden, für das ein zahlender Gast zur Hand war. Obgleich der Job eines Inspektors entscheidend war, hatte ihm jedenfalls seine Chefin Emily Muller beim Einstellungsgespräch freudig verkündet. »Unsere Inspektoren sind nicht bloß unsere Augen und Ohren«, hatte sie gesagt, »sondern unsere Qualitätsgewähr. Wir erwarten von ihnen, ebenso gründlich und genau zu sein wie scharfsichtig, so kenntnisreich wie neugierig. Außerdem haben wir gern Inspektoren, die sich ins Bild fügen, weshalb mir an Ihnen liegt, Ben.«
Erst viele Monate später war sich Ben so recht im Klaren darüber geworden, wie sehr Emily Muller an ihm lag. Unterdessen war es ein mehr als gegenseitiges Empfinden geworden. Wenngleich es genauso kompliziert war wie zwingend bei diesen auf Arbeit wie Vergnügen beruhenden On-off-Beziehungen. Tatsächlich gestaltete sich Emilys Privatleben sogar noch komplizierter als seines.
Zum Glück unterrichtete die Italienerin Ben ebenso davon, dass des unverhofften Ansturms wegen – einschließlich einer Reisegruppe, die in letzter Minute eingetroffen war – das Restaurant noch einige Zeit geöffnet bleibe. Ob er gern reservieren wolle?
»Ja«, sagte er mit Blick auf seine Armbanduhr, »unbedingt. In zwanzig Minuten?« Eine rasche Dusche, frische Kleidung, ein Anruf bei Natalie und eine Auftaktbegutachtung seines Zimmers für den Abschnitt »Erste Eindrücke« im neuen richtsformular der Hideaway-Hotelinspektoren, und er wäre mehr als bereit für ein Glas Hausmarken-Champagner und ein Amuse-Bouche. Nun, da er endlich im Hotel war, wurde er für aufwendige Wünsche bezahlt und dafür, alles im Angebot zu probieren. Es wurde von ihm erwartet. Außerdem konnte er ein reichhaltiges Abendessen morgen auf den Pisten abarbeiten. Früher mal war er ein sehr geübter Skifahrer gewesen. Und nun ziemlich aufgekratzt davon, nach so langer Zeit wieder ein Paar Skier unterzuschnallen. Etwas nervös war er auch.
»Ausgezeichnet«, sagte sie und blickte von ihrem Bildschirm hoch. »Sie sind rundum eingebucht.«
»Oh, und für morgen muss ich ein Paar Skier und Stiefel mieten.«
»Ja, natürlich. Wir haben eine Gratisauswahl samt Service neben einer Boutique im Hotel, gleich beim Spa. Da ist allerdings für heute Abend schon geschlossen, fürchte ich. Wobei sie früh um acht öffnen, wie übrigens auch das Spa. Die Vorhersage für morgen sieht sehr gut aus nach dem vielen Schnee, den wir hatten. Müsste richtig toll werden.«
»In dem Fall«, sagte Ben begeistert, »wäre ich gern Erster am Lift, um der Warteschlange zuvorzukommen.« Er entsann sich einstiger Skiausflüge und dem Bedürfnis, jede Minute auszunutzen. Nicht zuletzt der Kosten wegen.
»Das werden Sie bestimmt«, sagte sie. »In diesem Resort geht es sehr entspannt zu. Morgens lassen sich unsere Gäste gern mal Zeit. Im Übrigen gibt es hier keine Schlangen.« Sie lächelte, als hätte Ben das wissen müssen.