Mittwoch, 11:10 Uhr

»Das Wetter ist ganz abscheulich«, sagte Ben, während sie einen weiteren Flur entlanggingen, dessen gläserne Wand ein schneeweißes Rauschen einrahmte. »Sieht auch am Horizont nicht sehr nach Besserung aus.« Er war sich ziemlich sicher, dass diese Gebäudeseite zum Berg hin lag. Er fand sich endlich wieder zurecht, obwohl er den Luxus seines Telefonkompasses entbehren musste.

»Dermaßen heftiges Wetter hat selbst uns überrascht«, entgegnete Eric, der weit ausschritt. »Die Erderwärmung dürfte etwas damit zu tun haben, schätze ich.«

»Woher wird Hilfe, woher werden die Einsatzkräfte kommen?«

»Im Augenblick halte ich das für unmöglich.«

»Ich soll heute Nachmittag abreisen. Ich muss eine Fahrt nach Martigny bestellen.« Sie näherten sich der Empfangshalle.

»Auch das wird vielleicht nicht möglich sein.«

»In dem Fall werde ich meinen Aufenthalt verlängern müssen.« Unter keinen Umständen würde Ben an diesem Nachmittag aufbrechen, nicht mal bei strahlendem Sonnenschein.

»Das Hotel ist zwar ausgebucht, aber wenn die neuen Gäste nicht anreisen können, werden wir Platz haben. Und für Sie bestimmt.«

»Was ist mit der Tagung zur Gebietsentwicklung, die gestern lief – sind die Teilnehmer noch alle hier?«

»Ich glaube, dass viele spät gestern Abend oder sehr früh heute Morgen dem Schneesturm zuvorgekommen sind. Die kennen diese Berge, das Wetter. Sie wissen es zu vermeiden, eingeschneit zu werden. Ein paar Mitglieder des Konsortiums mögen zu Freizeitzwecken geblieben sein. Entschuldigen Sie mich kurz.«

Eric hastete hinüber zum Empfangstresen und ließ Ben mitten in der Halle zurück. Es herrschte mehr Betrieb als zuvor, da Grüppchen die verschiedenen Sitzgelegenheiten belegten und andere plaudernd umherstanden. Die meisten trugen lässige Garderobe, hatten sichtlich jeden Gedanken ans Skifahren heute aufgegeben. Da das Spa gegenwärtig gesperrt war, konnte sich Ben ausmalen, dass in Bar und Küche heute mehr denn je los sein würde.

Während er abermals den Gesellschaftsraum überflog, ging ihm auf, nach wem er suchte – irgendwen aus John Brenans Clique. Von denen war allerdings keiner in Sicht. Er wechselte hinüber zur Library Bar, doch auch die ermangelte reicher, lauter Amerikaner. Einmal hier und das auf einem guten Platz an der Theke mit reichlich Ellbogenfreiheit, ertappte er sich dabei, einen Schnaps zu bestellen. Immerhin war es neuerlich ein erschütternder Morgen gewesen.

Die streng aussehende Barfrau lächelte, als sie Ben den Drink vorsetzte. Ben lächelte zurück. »Danke und Verzeihung, darf ich Sie einfach mal was fragen?« Mochte ihr Haar scharf auf Kante geschnitten sein, ihr Lächeln war liebenswert und freundlich. Er war froh, dass John Brenan nicht mit einer krassen Bemerkung zur Stelle war. Obgleich er nicht im Mindesten froh war, dass John Brenan nie wieder die Library Bar betreten würde, zumal beim Gedanken daran, wie sehr der arme Mann seinen Wein, seinen Obstbrand, seine Freunde, das Hotel geschätzt hatte.

Was hatte er noch gleich gesagt? »Dieser Ort ist so besonders wie sonst keiner.« Könnte er wirklich einfach verschieden und in den Pool gefallen sein? Der Mund des Toten kam Ben in den Sinn – die seltsamen weißlichen Spuren.

»Ja, Sir?«

»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«

»Das ist jetzt meine vierte Saison.«

»Dann kennen Sie sich hier ziemlich gut aus?«

Sie nickte.

»Gibt es je mal Ärger unter den Angestellten oder den Gästen?«

»Ärger, was meinen Sie damit?«

»Meinungsverschiedenheiten oder Missverständnisse. Dass sich Leute unpassend benehmen, schlecht.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Irgendwelche Sachen, die vielleicht mal aus dem Ruder laufen könnten?«

»Aus dem Ruder?«

»In Gewalt ausarten.«

»Nein.« Sie klang erschrocken. »Das ist ein sehr angenehmes Hotel hier. Alle haben viel Spaß. Paare kommen für ein paar romantische Tage her.«

Ben wusste nur zu gut, wie leicht Romantik, Liebe, Eifersucht und Betrug in Gewalt umschlagen konnten. Davon las man doch ständig in der Zeitung. Es war genau der Stoff, den er bei seiner eigenen Schreiberei zu spinnen versucht hatte.

»Wurden Sie je gewahr, dass Dinge abhandenkamen, gestohlen wurden, von Angestellten oder anderen?« Jetzt dachte er eher an John Brenans Fünfundzwanzigtausend-Dollar-Uhr, weniger an sein eigenes Handy.

Sie schüttelte heftig den Kopf. Vielleicht zu heftig. »Nein, überhaupt nicht. Warum stellen Sie mir diese Fragen? Über solche Sachen müssen Sie mit der Hotelleitung sprechen.«

»Sorry, ich wollte Sie in keine peinliche Lage bringen. Mir sind zwei sehr unselige Vorfälle untergekommen, seit ich hier bin«, sagte er. Seinen Schnaps hatte er in einem Zug getrunken und bestellte daher noch einen. Er wusste, dass er ihr keine solchen Fragen hätte stellen sollen. Aber nach seiner Erfahrung ließ sich aus Nachwuchskräften stets mehr herausholen als aus der Geschäftsführung.

»Was für Vorfälle?«, frage sie.

»Todesfälle«, sagte Ben ernst.

Sie schenkte Schnaps in ein frisches Glas ein und stellte es vor ihm auf den Tresen. »Meinen Sie die Lawinenopfer?«

»Nicht nur die. Mir ist bekannt, was letzte Woche geschehen ist, wenn ich auch kaum Einzelheiten kenne.«

»Der Sicherheitschef wurde getötet und der Generaldirektor schwer verletzt. Er liegt im Krankenhaus.«

»So viel weiß ich auch.«

»Eine weitere Person in der Gruppe, ein Skiguide, der hatte Glück und blieb gänzlich unverletzt.«

Ben dachte darüber nach. »Was für eine Sorte Guide würde andere so einer Gefahr aussetzen und es fertigbringen, selber davonzukommen?« Könnte das mit den Toten dieser Woche zusammenhängen? Hatte jemand den Generaldirektor und den Sicherheitschef Tage vor dem großen Treffen der Gebietsentwickler ausschalten wollen?

»Abseits der Piste kann es immer gefährlich werden, egal wie geübt man ist«, warf die Barfrau ein.

»Fahren Sie Ski?«

»Ich fahre Snowboard, wenn ich die Zeit habe und der Schnee gut ist. Aber dieses Jahr hat das Wetter verrücktgespielt, und wir haben so viel zu tun.«

Diesmal schüttete Ben seinen Schnaps in zwei Schlucken hinunter. »Gestern fand hier eine wichtige Tagung statt«, sagte er. »Die waren anscheinend da, um ein Ausbauvorhaben für diese Gegend durchzusprechen. Ganz klar ist mir nicht, warum einige der Teilnehmer Leibwächter brauchen. Wussten Sie davon? Kommt es öfters zu so hochrangigen Treffen?«

»Uns wird nichts Näheres gesagt. Ich arbeite in der Library Bar. In den Sitzungsräumen bediene ich nicht.«

»Aber Ihre Kollegen, haben die irgendwas erzählt? Oh, und warum nicht, ich nehm noch einen, danke.« Er winkte ihr mit dem kleinen Glas zu.

»Einige hatten mit der Tagung zu tun, ja, mehr weiß ich auch nicht.« Sie schenkte ihm einen weiteren Schnaps in noch einem frischen Glas ein.

»Sind irgendwelche der Teilnehmer hierher in die Bar gekommen, tagsüber, abends?«

»Wäre eher schwierig zu erkennen, denke ich. Die Bar ist unter allen Gästen des Hotels beliebt.«

»Ich hatte hier gestern am frühen Abend einen Drink und später nach dem Essen noch einen mit einem anderen Gast – einem großen amerikanischen Burschen. Dröhnende Stimme. Reißt fürchterliche Witze. Da haben Sie auch bedient.«

Sie nickte. »Ja, ich weiß, wen Sie meinen. Er kommt jedes Jahr.«

»Mir ist nicht klar, wann ich die Bar verlassen habe. War wohl ziemlich spät. Aber mein Freund blieb da, trank und lachte in einem fort weiter.«

Ihr Nicken hielt an.

»Wissen Sie, um welche Zeit er gegangen ist?«

»Die Bar hat um zwei Uhr früh zugemacht. Das weiß ich, weil wir uns in unseren Dienstplänen austragen müssen.«

»War er da schon fort?«

»Ja, muss er gewesen sein, denn die Bar schließt erst, wenn der letzte Gast gegangen ist. Wir können aber auch die ganze Nacht offen bleiben, solange Gäste hier sind und weitertrinken wollen.«

»War irgendwer sonst noch hier? Ist er allein gegangen?«

»Spielt das denn eine Rolle?«

Ben warf einen Blick über die Schulter. Niemand anderes war in Hörweite. »Schon, weil ich Ihnen leider sagen muss, dass er tot ist. Seine Leiche wurde heute Morgen gefunden, wie sie im Pool schwamm. Das ist einer der Toten, auf die ich seit meiner Ankunft hier gestoßen bin.«

Die Barfrau keuchte regelrecht auf, und das bisschen Farbe auf ihren Wangen schwand jäh. »Woher wissen Sie das?«

»Ich half ihn gerade rausziehen, gemeinsam mit den Spa-Angestellten und dem Duty Manager.«

»Davon habe ich rein gar nichts gehört. Hab um acht die Bar aufgeschlossen und seitdem den ganzen Morgen gearbeitet.«

»Bedaure erneut, die Nachricht zu überbringen.«

Sie blieb bestürzt und verwirrt. »Und Sie wollen noch jemanden sterben sehen haben?«

»Gestern früh stieß ich auf eine weitere Leiche, das ja. Im Skilift. Ich wurde nicht Zeuge, wie der Mann starb, sondern habe seine Leiche in einer Gondel recht bald nach seinem Tod vorgefunden.«

Sie schmunzelte, brach dann in Gelächter aus, ein nervöses. Lachen stand ihr nicht. »Sie scherzen doch, ja? Jetzt blick ich durch – der berühmte britische Sinn für Humor.«

Warum glaubten hier alle, er würde Scherz mit solchen Dingen treiben? »Bin mir gar nicht sicher, ob es den berühmten britischen Sinn für Humor wirklich gibt. Wenn doch, dann bestimmt noch nicht lange. Die britische Regierung mag ja ein Witz sein, aber der britische Sinn für Humor ist darüber ziemlich abgestumpft. Jedenfalls scherze ich nicht. Ich meine es todernst.« Er hatte dringend noch einen Schnaps nötig, zwang sich aber zum Verzicht. »Hinzu kommt«, sagte er, »dass ich Zweifel habe daran, ob es in beiden Fällen ein natürlicher Tod war, aus verschiedenen Gründen, auf die ich gerade noch nicht eingehen kann. Und jetzt stecken wir in diesem Hotel in einem Schneesturm fest.« Ben warf rasch noch einen Blick über die Schulter. »Wir sitzen in der Falle, allesamt, weshalb es mir wirklich lieb wäre, Sie würden sich erinnern, mit wem John Brenan letzte Nacht zusammen war, ehe er die Bar verließ. Womöglich geht von irgendwem wer weiß was für eine Gefahr aus.«

»Was lässt Sie glauben, das aufklären zu können? Wer sind Sie überhaupt, dass Sie solche Fragen stellen?«

»Ich bin jemand, der in diesem Gewerbe arbeitet, und ich habe Erfahrung in solchen Dingen. Ich glaube, behilflich sein zu können.«

Die Barfrau dachte lange nach, bevor sie schließlich sagte: »Sie wollen wissen, mit wem der Amerikaner vergangene Nacht vor seinem Aufbruch zugange war? Die letzte Person?«

Ben nickte.

»Sie«, sagte sie schließlich. »Sie waren als Letzter bei ihm, ehe er ging.«

Ben langte darauf nach seinem Schnapsglas, um zu merken, dass es leer war. »Kann ich Sie um einen Gefallen bitten?«, sagte er langsam.

Sie nickte wachsam.

»Macht es Ihnen was aus, diesen Umstand vorerst für sich zu behalten? Die Sachlage ist sehr stark im Fluss, und ich möchte nicht, dass irgendwer vorschnell falsche Schlüsse zieht.« Er kletterte vom Barhocker, während ihm allerlei Szenarien durch den Kopf schwirrten sowie der aufkeimende Verdacht, für etwas benutzt zu werden.

Sie nickte nicht. Sie sah wie versteinert aus.

»Wie heißen Sie eigentlich?«

»Petra. Petra Bauer. Bitte, ich möchte in nichts davon verwickelt werden.«

»Werden Sie nicht, glauben Sie mir. Ich bin es aber, darum habe ich diese Fragen gestellt.«

»Weil Sie in dieser Branche arbeiten, der Hotelleriebranche?« Sie schien sich etwas zu entspannen. »Sie haben Erfahrung mit solchen Vorfällen? Wie? Warum? Was genau machen Sie in dieser Branche, Mr Martin?«

Natürlich kannte sie seinen Namen, seine Zimmernummer. Er hatte genügend Drinks auf letztere anschreiben lassen. »Ich erstelle Gutachten«, sagte er. »Ich bin Hotelinspektor.« Sie verdiente ganz gewiss eine ehrliche Antwort. Außerdem wollte er nicht, dass sie das Falsche zu den falschen Leuten sagen würde darüber, wo er gestern spätabends war und gemeinsam mit wem – wenn er es vermeiden konnte.

Jetzt lachte sie doch. »Aber das hier ist eine Mordgeschichte, oder? Sie sind die verkehrte Sorte Inspektor.«

»Unsere Fähigkeiten lassen sich aber sehr leicht anpassen. Wir können uns recht nützlich machen.« Ben musste nun seinerseits lachen.