Marc, ich muss Sie dringend sprechen. Über Teams? Marc Hoffman, der Mann für die Digitale Sicherheit, scheute FaceTime. Ich bin ohne eigenes Handy und möchte lieber nicht über das Hotelfestnetz telefonieren. Ben tippte auf Senden und lehnte sich im üppig gepolsterten, aber unbequemen Sessel zurück, den er an das Wandbord beziehungsweise den Schreibtisch gezogen hatte. So verhielt es sich ausnahmslos in solchen Hotelzimmern: Für echtes Arbeiten waren sie nicht ausgelegt.
Selbst die am stärksten auf Geschäftsreisende zugeschnittenen Häuser ließen es an vernünftigen Bürostühlen, Schreibtischen, ausreichend Beleuchtung oder Steckdosen missen. Alles war immer nicht ganz an der richtigen Stelle. Auch wenn man als Gast in einer Urlaubsanlage wie dem G fehl am Platz war, wenn man an einem Schreibtisch zu arbeiten hatte. Ben fragt sich, ob Liam Roth mit solchen Unannehmlichkeiten zu kämpfen gehabt hatte.
Frustriert und missbehaglich stand Ben auf und tat etwas, von dem er sich tagelang versichert hatte, es nie zu tun. Er langte in seine Rollentasche und zog den weißen Handschuh hervor, den er eigentlich auf Nimmerwiedersehen dort hineingestopft hatte. Doch hier war er nun in all seinem Aberwitz. Er streifte ihn über seine Rechte. Er lag eng an, dabei waren seine Hände nicht sonderlich groß. Ben hatte keine Ahnung, ob es diese Handschuhe in unterschiedlichen Größen gab. Ihm war dieses Ding einfach überreicht worden.
Umgehend spürte er die abstoßende Künstlichkeit des Materials. Die Oberfläche machte auf Sämischleder, und ihr strahlendes Weiß erinnerte Ben an das Requisit eines lers. Er winkte damit seinem Spiegelbild über dem Schreibbord zu. »Hallo«, sagte er noch immer winkend, »willkommen in Bens Zauberreich, Hort heimtückischer Taten aller Art einschließlich meuchlerischsten Mordens.« Er pausierte, wischte sich mit dem verfluchten Ding über die Stirn – was er eigentlich vermeiden müsste, denn anscheinend konnte Schweiß den schmutzaufnehmenden Eigenschaften abträglich sein.
Er winkte sich erneut zu, sah seinen Arm sinken und alle Fröhlichkeit aus sich entweichen. Unglaublich, was aus seinem Job, seinem Berufsweg geworden war. Zornig fuhr er damit fort, die Holzoberfläche mit dem Handschuh entlangzufahren, ehe er auf das falsche Wildleder starrte. Nicht ein Stäubchen oder Krümel war zu sehen, dabei war das Zimmer heute nicht einmal gemacht worden.
Natürlich war es nicht gemacht worden, denn er hätte ja nachher ausziehen sollen. Wann erführe die Zimmerreinigung, dass er wie fast alle anderen auch mindestens eine weitere Nacht bleiben würde? Keinesfalls würde er auf einen Schneepflug klettern, selbst wenn seine Lage hier zusehends zwiespältiger, wenn nicht gefährlicher wurde.
Er ging hinüber zum Nachttisch und fuhr mit der Hand darüber. Wieder nichts. Er wischte über jede Oberfläche, die er finden konnte. Immer noch nichts. Das Zimmer war makellos sauber. Doch was war mit dem Inneren der Gondel, Liam Roths Kleidung und seiner Leiche – vorausgesetzt, es war Liam Roth?
Oder dem Poolbereich? Auf John Brenan? Gab es da Spuren von jemand anderem, der in der Nähe gewesen war? Außer ihm selbst, dachte er mit einem Mal. Ben hätte Spuren, Fasern, womöglich DNA an beiden Tatorten hinterlassen – wenn es denn Tatorte waren. Wer könnte ihm eine Falle zu stellen versuchen? Warum?
Er hatte noch nicht einmal seinen Bericht geschrieben und war kaum seinen eigentlichen Prüfpflichten nachgekommen. Abermals schaute er auf seinen Handschuh. Das dämliche Ding strahlte ebenso weiß wie gerade, als er es übergestreift hatte. Er rupfte ihn sich von der Hand und warf ihn aufs Bett. Nicht mal die Polizei konnten sie derzeit herbekommen, ganz zu schweigen von der Spurensicherung.
Nach außen hin sah er kaum fragwürdig aus, welchen Umstand Ben meinte, in eigener Sache mit etwas Erleichterung aufnehmen zu können. Der Finger mochte nicht schon jetzt in seine Richtung weisen.
Was war mit dem seltsamen weißen Speichel auch um John Brenans Mund? Eine gerichtsmedizinische Untersuchung würde die Frage klären. Mord oder natürliche Ursache? Dann allerdings würde es unweigerlich zu spät sein. Irgendein Verdächtiger wäre längst über alle Berge, er selbst inbegriffen – sofern es aufklarte. Falls es das jedoch nicht tat, würden auch keine Einsatzkräfte herankommen – und die allermeisten Gäste wie Angestellte nicht fortkönnen. Verdächtige und Mörder eingeschlossen.
Der Laptop bimmelte, nahm Ben wahr – ein Anruf über MS-Teams. Er schob seinen Mauszeiger auf das grüne Annahmesymbol und tippte das Touchpad an. Marc Hoffmans gepflegt bebrilltes und bärtiges Antlitz erschien.
»Sie sehen etwas gerötet aus, Ben, wenn ich das so sagen darf. Ich dachte, Sie wären in den Alpen. Geht es da nicht kalt und verschneit zu?«
»Ich zeige Ihnen mal was«, sagte Ben, nahm seinen Laptop hoch und trug ihn durchs Zimmer. Mit der linken Hand zog er die zahllosen Vorhänge auf, drehte das Gerät herum und richtete die Kamera so, dass Marc nach draußen sehen konnte. »Das ist ein ausgewachsener Schneesturm, Marc. Verflucht kalt da draußen – richtig lebensgefährlich. Hier drin aber – na, Sie wissen ja, wie gut Heizung und Dämmung in einem schicken Alpenhotel sein können. Regelrechte Saunatemperaturen überall.«
»Werden Sie das in Ihren Bericht schreiben? Wir wollen nicht, dass unseren Kunden zu warm und unbehaglich in ihren Luxuszimmern wird.«
Ben stellte den Laptop zurück auf das Schreibbord, setzte sich erneut auf den ungeeigneten Stuhl und erhaschte einen Blick auf das rot angelaufene Gesicht im Wandspiegel. Die Temperatur war nicht das Einzige, das ihm Unbehagen bereitete. Die Höhe wirkte sich auf seinen Blutdruck aus, im Verein mit den Riesenmengen an Speisen und Getränken, die er vereinnahmt hatte, und mutmaßlich der Auffindung zweier Leichen binnen vierundzwanzig Stunden.
»Marc, wie Sie wissen, sind meine Berichte immer gründlich. Alles von Bedeutung wird vermerkt, sogar in diesen verdammten neuen Formularen, die ich verwenden soll. Wird von uns erwartet, dass wir anständige Arbeit leisten und dazu unseren Verstand, unsere Erfahrung und gute alte Beobachtungsgabe gebrauchen? Ein Spitzenhotelinspektor zu sein, besteht nicht nur aus Kästchenankreuzen. Ich habe Jahre gebraucht, um auf meiner Laufbahn so weit zu kommen.« Ben mied den Anblick seiner selbst im großen Spiegel.
»Wie kommen Sie mit dem Handschuh zurecht?«, feixte Marc.
»Zufällig habe ich ihn eben noch benutzt. Mein Hotelzimmer, kann ich freudig melden, ist frei von Staub und Schmutz.« Er sah zum Stück Stoff hinunter, das ungeliebt auf dem ungemachten Bett lag. »Was nicht heißen soll, dass es keine anderen Probleme gibt.«
»Neben den überheizten Zimmern?«
»Ja – weshalb ich Sie so dringend sprechen musste. Sind Sie bereit dafür?«
»Besser, es lohnt sich, Ben. Ich muss zu einem Meeting und bin spät dran.«
»Sie kennen mich – ich würde Sie andernfalls nicht behelligen.« Ben fuhr fort, indem er Marc die Todesfälle im Einzelnen schilderte und nichts zurückhielt. Es dauerte eine Weile.
»Warum haben Sie mich gestern nicht angerufen«, sagte Marc schließlich, »nachdem Sie auf die erste Leiche gestoßen waren?«
»Da dachte ich noch bei mir, es wird sich schon von selbst klären. Ich habe angenommen, man würde die Leiche finden und das Hotel würde hinter den Kulissen tun, was es könnte, und das Ganze würde auf irgendeine logische Erklärung wie Unfall oder Unglück oder natürliche Ursache hinauslaufen.«
»Aber gegen Ende des Tages, als die Leiche nicht gefunden und weiter nichts aufgedeckt worden war?«
»Ehrlich gesagt, Marc, habe ich mich da allmählich um meine eigene geistige Gesundheit gesorgt und ob ich mir da nicht etwas vorgaukelte, halluzinierte.«
»Zu viele Schnäpse?«
Ben zog es vor, nicht darauf einzugehen. »Es hat nicht gerade geholfen, dass mein Telefon verloren ging und ich dann feststellen musste, dass sich meine damit gemachten Fotos nicht in die Cloud hochgeladen hatten.«
»Warum nicht? Weil es kein Netz gab?«
»Entweder das, oder es hatte sich entladen, ehe ich wieder Empfang hatte. Es ist ein altes Telefon. Schrottiger Akku.«
»Und Sie glauben, dass Sie diesen John Brenan als Letzter lebend gesehen haben?«
»Nein, nicht ganz. Ich war als Letzter mit ihm in der Bar – zusammen mit der Barfrau. Nur weiß ich nicht, was er danach tat oder wohin er dann ging. Wem er begegnet sein mochte. Ich bin zu Bett gegangen.«
»Und dann haben Sie ihn heute Morgen als Wasserleiche im Außenpool des Hotels gefunden? Ist es im alpinen Winter nicht ein bisschen kalt für so was? Einen Außenpool?«
»Viele Alpenhotels haben welche, schon immer gehabt – auf jeden Fall sind sie jetzt wieder in Mode.«
»Was ist an einem guten alten Whirlpool verkehrt?«
»Whirlpools sind voll gestern, Marc. Pools, vor allem solche, die mit Metall wie Aluminium, Kupfer oder Zink ausgekleidet werden, sind heutzutage das Ding. Sie wirken vor all dem Schnee oder vor einem bergigen Hintergrund unglaublich. Wenigstens bei Sonnenschein.«
»Glauben Sie, er könnte ausgerutscht sein, hat sich vielleicht den Kopf gestoßen und ist ertrunken? Oder könnte er einen Herzinfarkt gehabt haben oder Schlaganfall, und fiel dann rein?«
»Das ist die Lesart, die das Hotel verkaufen will.«
»Kann ich denen nicht verübeln. Hört sich ganz einleuchtend an.«
»Sicher, aber zwei Todesfälle in zwei Tagen – und beide in unliebsamer Nähe zu mir? Außerdem gefiel mir nicht, was ich bei beiden rings um den Mund sah, und Brenan fehlte die Armbanduhr.«
»Sind Sie sicher, dass er sie an dem Abend in der Bar trug?«
»Da kann ich mir nicht sicher sein. Sie fiel mir bloß zuvor am Tag auf. Wüsste nur nicht, weshalb er sie zum Abendessen abgelegt haben sollte.«
»Ben, ich führe bei den Hotels die Sicherheitsüberprüfungen durch – alles aus der Ferne, alles digital – und versehe allerlei finanzielle Sorgfaltspflichten hinsichtlich Partnerbewerbungen. Und ich überprüfe die verschiedenen Buchungssysteme. In der Hauptsache ist das heutzutage meine Arbeit. Wird irgendetwas als vermisst oder gestohlen gemeldet, und es gibt Probleme rund um die Versicherung, und es betrifft einen Gast von Hideaway, dann, ja, dann kann ich hinzugezogen werden. Aber das hier geht weit über meine Erfahrung oder Gehaltsstufe hinaus.« Er hielt inne, kratzte sich seinen gepflegten Spitzbart und sah Ben dank des Wunders der Bildtelefonie direkt an. »Sie sind ganz bestimmt wohlauf, Ben?«
»Nein, ich fühle mich mitnichten wohlauf – weit davon entfernt. Abgesehen von der Hitze und Stickigkeit in diesem Zimmer habe ich letzte Nacht kaum ein Auge zubekommen.«
»Sagen Sie das bloß nicht den Behörden, wenn sie anrücken.« Wieder feixte Marc. »Sonst werden die nach dem Warum fragen und danach, was zum Henker Sie stattdessen getan haben. Vielleicht sollte ich Sie das auch fragen.«
»Zu viel schweres Essen und die Höhe, wenn Sie es genau wissen wollen. Da verstopft sich einem alles.«
»Und dazu Schnaps, könnte ich mir denken.«
Wieder ritt er darauf herum. Ben wollte sich dem auch diesmal nicht stellen und blieb stumm.
»Sie müssen öfter raus und Sport treiben. Es kann keinem guttun, sich in all diesem Luxus zu lümmeln und so viel Essen und Trinken testen zu müssen.«
»Ich wäre jetzt draußen beim Skilaufen, gäbe es keinen Schneesturm und zwei verdächtige Todesfälle zu untersuchen.«
»Ist das wirklich Ihre Sache? Setzen Sie sich doch einmal in den hinteren Rang. Dauernd lassen Sie sich in solche Vorfälle verwickeln, die Sie eigentlich nichts angehen. Oder etwa doch?«
»Als ob ich es mir aussuchen würde, Marc. Und da ist noch etwas. Letzte Woche ging hier ein großer Rutsch ab.«
»Eine Rutsche? Wozu haben die so was? Ich dachte, das Hotel G wäre ein kinderfreies Hideaway.«
»Keine Rutsche, eine Lawine. Sind Sie je Ski gefahren?«
»So seltsam sich das anhören mag, tatsächlich nicht. Lag mir nie was dran.«
»Mit Rutsch meine ich Abgang, ein anderes Wort für Lawine – kommt jedenfalls gern bei Skibegeisterten vor. Klingt so wahrscheinlich netter, als es ist.« Ben erinnerte sich, wie Doug ständig von kleinen Abgängen hier und kleinen Abgängen da redete. »Der hier reichte mir nur bis zur Taille«, pflegte er dann zu sagen – so was in der Art.
»Dann kam es also letzte Woche zu einer Lawine. Schwerlich überraschend für die Gegend. Und wahrscheinlich noch ein Grund, weshalb ich nie Skifahren war.«
»Jedenfalls hat die Lawine den Sicherheitschef getötet und den Generaldirektor ins Krankenhaus gebracht.«
»Warum weiß ich nichts davon?«
»Sind Sie nicht auf der Höhe Ihrer Aufgaben?«
»Vermutlich gab es keine Probleme, keinen Grund für mich, davon zu erfahren. Wir haben mittlerweile Hunderte Hotels.«
Ben wollte nicht derjenige sein, der das Offensichtliche aussprach, dass es nämlich gewaltige Folgen nach sich zog. »Wendy wusste davon.«
»Ich werde mal ein Wörtchen mit ihr reden. Oft kommen Infos auf Umwegen bei mir an. Sie selbst, Ben, haben eine Weile gebraucht, um sich zu melden.«
»Jedenfalls drängt sich mir der Eindruck auf, man hätte es besser wissen müssen«, sagte Ben. »Dass eine so erfahrene Gruppe betroffen ist. Wie Sie schon sagten, kommt es in den Alpen natürlich zu Lawinen, aber wenn ein Guide und zwei Leute erfasst werden, die diese Berge und Bedingungen wie ihre Westentasche kennen, wirft das Fragen auf.«
»Etwa, was der Guide eigentlich gemacht hat?«, sagte Marc. »Ist es nicht deren Aufgabe, die Leute von solchen Gefahren fernzuhalten?«
»Genau. Und dabei blieb der Guide unverletzt, was …«
»Was wollen Sie wirklich sagen?«, unterbrach ihn Marc. »Auch da besteht irgendein Zusammenhang?«
»Nun, was führte zu diesem Unglück? Leichtsinn oder eher Berechnung?«
»Wer ist der Guide?«
»Weiß ich nicht. Kümmere ich mich drum. Vielleicht ist was dran, muss man Punkte verbinden.«
»Solange es Sie nicht davon ablenkt, was Sie eigentlich tun sollen«, sagte Marc streng. »Ich verstehe schon, weshalb die Vorgehensweise von euch Inspektoren geändert wurde, wenn sich euer Haufen so sehr auf – wie nannten Sie das? – Erfahrung und gute alte Beobachtungsgabe verlässt. Sie müssen sich an die Tatsachen halten, daran, was Ihnen wirklich vor Augen kommt, und bei Einbildungskraft und Phantasie kürzertreten.«
»Phantasie? Wir reden von einer ganzen Reihe Todesfällen – zwei, drei allein letzte Woche. Vielleicht gibt es noch andere.«
»Lassen Sie das nicht zum Selbstläufer werden.«
»Kaum. Im Übrigen ist hier oben nicht leicht an Tatsachen zu kommen. Und an Zufälle glaube ich nicht.« Doch genau das begann er zu tun!
»Sie glauben, diesen Journalisten in der Gondel gesehen zu haben? Bin ich froh, dass Skifahren nicht meine Sache ist. Schon der Gedanke, in so einem Dings festzusitzen.«
»Versuchen Sie’s dann mal mitsamt einer Leiche. Ich habe das deutliche Gefühl, es handelt sich um ihn, und die Anhaltspunkte mehren sich. Auf alle Fälle war er hier abgestiegen – hab’s mir bestätigen lassen. Aber was hatte er hier eigentlich zu suchen? Dass er Urlaub gemacht hat, glaube ich nicht.«
»Sie machen keinen Urlaub, Ben. Die Leute haben alle möglichen Gründe, in einem Hideaway zu wohnen. Vielleicht schrieb er an einem Buch. Hatten Sie das nicht selber irgendwann versucht?«
»Dieser Job zehrt zu sehr«, murmelte Ben mit vom Bildschirm abgewandtem Blick.
»Ich nehme an, Sie haben ihn zu kontaktieren versucht.«
»Ja – aber für einen so bekannten Journalisten ist er gar nicht leicht zu erreichen.« Ben dachte an das Antwortschreiben dieser Simone zurück. »Ich habe jetzt den Namen seiner Agentin oder Assistentin, wer auch immer seine Website betreut. Etwas rätselhafte Entgegnung auf meine ursprüngliche Anfrage. Aber da bleibe ich selbstredend dran. Selbst wenn Liam Roth hoffentlich quicklebendig ist, lag jemand anderes sehr tot in dieser Blase.«
»Ja – wenn Sie’s sagen.«
»Marc, vielleicht brauchen Sie mal eine Pause – vom Büro.« Ben riss sich zusammen, um nicht laut zu werden. »Was wissen Sie über dieses Hotel? Wie lange ist es schon Mitglied bei Hideaway? Soweit ich weiß, gehört es zu einem Schweizer Konzern. Sonst irgendwelche Einzelheiten?«
»Ich werde nachsehen, was wir in den Akten haben. Deuten Sie damit an, es könnte etwas mit diesen sogenannten seltsamen Vorgängen zu tun haben?«
»Gestern fand hier eine große Tagung statt. Die Belegschaft tat ihr Bestes, um es unter Verschluss zu halten. Ich selbst habe sogar Leute mit Leibwächtern durch die Gesellschaftsräume laufen sehen.«
»Das scheint mir ein wenig überflüssig in einem Hideaway«, gab Marc zu.
»Sagen Sie bloß. Überdies waren da noch einige fiese Typen mehr mit entsprechenden fahrbaren Untersätzen.« Ben hatte Marc nicht geschildert, wie er einen der SUVs mit Schnee bespritzt hatte, als er zu einem ruppigen Halt an der Talstation gekommen war, oder welch tödlichen Blick er sich dabei eingefangen hatte, weil er vielleicht besser hätte steuern oder früher und sauberer hätte anhalten sollen.
»Es ist die Schweiz«, räumte Marc ein.
»Und Frankreich und Italien – das Hotel grenzt an alle drei Länder.«
»Na bitte. Die Durchlässigkeit solcher Grenzen hat schon immer gewisse Individuen und Aktivitäten angezogen.«
»Außerdem habe ich aus dem Duty Manager die Info geleiert, dass die Tagung Finanzkaliber und Regionalbonzen einschloss, die richtig Kohle – eine Milliarde Euro oder so – in die weitere Entwicklung des Gebiets stecken wollen.«
Marc stieß einen Pfiff aus. »Das ist eine Menge Geld. Wir müssen Emily unterrichten und schauen, ob sie irgendwas gehört hat. Sie bewegt sich in solchen Kreisen. Ohnehin wird sie wissen müssen, ob uns irgendwelche Negativschlagzeilen ins Haus stehen. Dann rüttele ich noch unsere Öffentlichkeitsarbeiter wach. Die Wintersaison hat eben erst begonnen. Wie lange sollen Sie noch vor Ort bleiben?«
Ben sah auf seine Armbanduhr. »Offiziell keine Stunde mehr. Ich führe eine Zwei-Tage-Mitteleuropa-Inspektion durch. Bei diesem Wetter rechne ich allerdings damit, mindestens bis morgen zu bleiben.«
»Und Sie sind auch von den Behörden abgeschnitten? Die können nicht zu Ihnen vordringen?«
»Ja, das ist richtig. John Brenans Leiche ist jetzt im Spa, in einem Massageraum.«
»Hoffentlich bleibt der Raum verschlossen und verriegelt, und sie halten alle davon fern. Wenn es in dem Hotel so heiß ist, wie Sie sagen, möchte ich mir gar nicht ausmalen, wie bald eine Leiche anfangen könnte zu verwesen.« Wieder pfiff er durch die Zähne. »Sie werden wahrscheinlich reinen Tisch machen und denen sagen müssen, für wen Sie arbeiten und was Sie da tun. Auch unser guter Ruf steht auf dem Spiel.«
»Ja, habe ich bereits. Ich habe dem stellvertretenden Generaldirektor sogar unsere Zusammenarbeit vorgeschlagen, damit wir die Lage in den Griff bekommen. Aber er ist ein windiger Typ, ich traue ihm nicht so recht.«
»Dann behalten Sie ihn im Auge.«
»Genau das versuche ich. Nicht zuletzt den Angehörigen der Opfer zuliebe.« Ben dachte für einen Augenblick an John Brenans Frau – seine dritte, oder war es die vierte –, die sich bemüht hatte, seine Trinkerei einzuschränken.
»Aber denken Sie daran, wer Ihr Gehalt zahlt. Wir müssen möglichst unbeschadet aus der Sache rauskommen.«
»Wie könnte ich das vergessen«, sagte Ben und dachte an Emily Muller. Er musste das Gespräch beenden, denn Natalie klopfte an. »Lassen Sie mich wissen, ob Sie an Ihrem Ende irgendwas Interessantes oder Ungewöhnliches über die triebsstruktur des Hotels herausfinden. Eine Liste aller Gäste des G diese Woche, die über Hideaway gebucht haben, wäre auch gut.«
»Dafür ist Wendy zuständig«, sagte Marc.
»Schon, aber wenn ich bei Wendy anfrage, wird sie auf Datenschutz pochen und dichtmachen.«
»Und ich nicht?«
»Sie wissen, wozu ich das brauche. So was kann ich Wendy nicht erklären, ohne dass sie sich übermäßig um meine Sicherheit sorgt.«
»Können Sie’s ihr verübeln, angesichts Ihrer langen Liste waghalsiger Nummern?«
»Jede Hilfe, Marc, wäre höchst willkommen.«
»Für Sie, Ben, bin ich dabei. Aber sehen Sie sich vor und nerven nicht zu sehr. Uns liegt nichts daran, dass Sie diesmal wieder verhaftet und weiß Gott wessen bezichtigt werden.«
Ben klickte als Erster das Auflege-Symbol an. Natalie schien jedoch aufgegeben zu haben.
Schon komisch, wie die Leute sich immer an Negatives – Anfechtungen, rechtswidrige Festnahmen, die peinlichen Torheiten – zu erinnern schienen statt irgendwelcher Erfolge. Während seiner relativ kurzen Laufbahn als Hideaway-Inspektor war es ihm gelungen, einen Geldwäschering zu zerschlagen, einen der weltweit meistgesuchten Wirtschaftsverbrecher dingfest zu machen, ein Schleppernetzwerk auszuheben, einem mehrfachen Mörder auf die Schliche zu kommen und die abscheuliche Wahrheit über einen Hightech-Milliardär zu enthüllen – ganz zu schweigen davon, dem Ansehen von Hideaway alle möglichen Schandflecken zu ersparen.
Wurden seine mannigfachen Fähigkeiten angemessen gewürdigt? Sie hatten es ihm mit einem weißen Handschuh gedankt. Einem weißen Handschuh! Als würde er die Waffen strecken – vor der Wirklichkeit, vor dem Leben?
Ben fühlte neuerlich sein Alter – die große Last der lichkeit –, während er seinen Mauszeiger über den Bildschirm führte, von einer Anwendung zur anderen wanderte, seinen Anblick im riesigen Spiegel über dem Rechner krampfhaft zu meiden versuchte.
Nein, er wollte keine Bestätigung seines hohen Blutdrucks, seiner Gewichtszunahme und seines Haarausfalls, seines Alters haben. Trotz allem: Hier war er, immer noch quicklebendig, und ja, er würde tun, was er konnte, um jede Einzelperson oder Gruppe zu enttarnen und festzusetzen, die es auf die Einschränkung des Daseins, der Freiheit, des Lebens anderer abgesehen hatte. Gar nicht zu reden von jedem, der die Hideaway Hotels GmbH vorzuführen trachtete!
Ben wischte sich über die Stirn, wechselte zu FaceTime und rief Natalie zurück.
Sie antwortete sofort. »Hi, Dad.« Sie ging gerade eine Straße hinunter.
»Wo bist du? Warum bist du nicht in der Schule?«
»Dad, weißt du überhaupt, auf welche Schule ich gehe oder in welche Klasse?«
»Natürlich weiß ich das. Du gehst in die zwölfte Klasse und bereitest dich aufs Abi vor.«
»Fächer?«
Sie konnte dermaßen wie ihre Mutter klingen. »Politik, Philosophie und Geschichte.«
»Gut gemacht. Dann weißt du auch, dass ich nur zum Unterricht in die Schule muss. Lernen kann ich in der Bücherei, zu Hause, im Café, überall. Du siehst echt schräg aus.«
»Wie meinst du das?«
»Dein Gesicht ist ganz rot, und du kommst voll füllig rüber.«
»Es ist sehr warm hier im Zimmer, und die Höhe wirkt sich auf meinen Blutdruck aus.«
»Dann liegt’s nicht am Essen und Trinken?«
»Nein, Natalie. Wie meinst du das, füllig?«
»Fett?«
Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur ein Stück Gehsteig. »Dankeschön. He, kannst du wenigstens dein Telefon so halten, dass es dich zeigt?«
»’tschuldigung. Hab’s gerade eilig.«
»Warum hast du angerufen? Ist alles in Ordnung – halt so weit es geht? Zu Hause, meine ich. Ich hab deine Mutter gesprochen. Sie hörte sich ganz und gar nicht an wie sonst immer.«
»Ah ja, darum hab ich mich gemeldet. Also, Gabby kam gestern Abend vorbei, und mir scheint, die beiden könnten sich zusammengerauft haben. Heute Morgen war Gabby noch da. Jedenfalls ihr Auto. Dachte, das wüsstest du vielleicht gern.«
Ben war sich unsicher, ob er das tatsächlich wissen wollte. »Hab mir überlegt, mich mal dieses Wochenende in London blicken zu lassen. Ich würde dich zu gerne sehen.«
»Mum hat so was erwähnt. Vielleicht solltest du noch ’ne Woche oder so warten, erst mal schauen, wie sich die Situation entwickelt.«
»Was ist mit dir? Können wir uns denn nicht treffen?«
»Samstag ist da so ’ne große Party, und dann hab ich einen Berg Schularbeiten. Wär’ vielleicht nicht ganz supergünstig gerade.«
»Natalie?« Wieder bekam er den Gehsteig zu sehen.
»Hör mal, ich muss Schluss machen, Dad. Treff mich gleich mit wem. Bis bald. Hab dich lieb.«
Ben sah, wie sein Bildschirm schwarz wurde. Dann geriet ihm sein Spiegelbild über dem Laptop in den Blick, und ein Ausdruck der Verzweiflung kroch über sein Gesicht. Er musste sein Leben ändern. Näher bei Natalie sein. Es noch einmal mit der Sesshaftigkeit versuchen. Das Luxusreisen war zu einsam. Besonders in seinem Alter.
Zum Glück musste er nicht allzu lange über seine persönliche Lage, seine Endlichkeit grübeln. Jemand klopfte an die Tür. Vermutlich die Zimmerreinigung, dachte er.