Mittwoch, 14:24 Uhr

Das Klopfen hielt an, sehr merkwürdig. Gewöhnlich platzte das Housekeeping einfach herein. »Komme!«, rief er im Aufstehen. Er warf den Blick hinter sich auf sein ungemachtes Bett und weiter durch ins Badezimmer, wo ein abgerutschtes Handtuch auf dem Boden lag. Sonst war er immer so ordentlich und ging achtsam mit den Angestellten und der Hotelwäsche um, schonte die zum Waschen und Reinigen aufgewendeten Ressourcen. Ihm waren Hotelgäste verhasst, die solch wesentliche Dinge gering schätzten.

Ben öffnete die Tür. »Oh, hallo.« Sein Verstand wurde erst nach ein paar Sekunden schlau daraus, wen er vor sich hatte. »Petra, richtig?«

»Ja, ich habe hier etwas für Sie.« In ihrer ausgestreckten Hand lag ein iPhone.

»Mein Telefon?«

Sie nickte. »Ja, ich glaube schon. Eine Kollegin hat es im Küchenabfall gefunden. Denen war schleierhaft, wie es da hinkam oder was man damit machen soll.«

»Woher wussten Sie, dass ich mein Telefon verloren hatte?« Er konnte sich nicht erinnern, ihr davon erzählt zu haben, und nahm es ihr dankbar ab. Es sah ganz wie seines aus, bis hin zum Riss links unten in der Ecke – die Folge einer Kollision mit dem Küchentisch spätnachts in seiner Frankfurter Wohnung. Das Telefon war außerdem fettig und roch schwach nach deftiger Wildbretsoße – der Jus aus Pfifferlingen, Brombeeren und Sellerie zum Rehfleisch, wenn er sich nicht täuschte. Freilich bezweifelte er, diesen Geruch oder Geschmack jemals verwechseln zu können.

»Der Empfang hat die Belegschaft darauf aufmerksam gemacht, dass es seit gestern vermisst wird. Die Rezeptionisten haben deswegen herumtelefoniert.«

»Nun, haben Sie vielen Dank und danke dafür, es mir aufs Zimmer zu bringen. Sie mussten das nicht tun. Der Empfang hätte mir mitteilen können, dass es gefunden wurde, und ich wäre kurz runtergezischt.« Ben war nicht sonderlich erbaut davon, dass der Empfang offenbar alle informiert hatte, es sei sein Telefon abhandengekommen statt einfach das eines Gastes.

Sie senkte den Kopf, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, wobei ihr scharfkantiger Pony eigentümlich stillzustehen schien. »Ich wollte es lieber gleich zu ihnen raufbringen. So ginge es am schnellsten, dachte ich. Alle drehen gerade durch vor lauter Stornierungen, Umbuchungen und wegen der anderen Sache.«

»Der anderen Sache?«

»Dem Tod des Mannes, nach dem Sie sich erkundigt haben.«

»John Brenan – natürlich.«

Petra Bauer blieb auf ihrem Fleck im Flur stehen. Ben hatte das deutliche Gefühl, dass sie noch etwas anderes sagen wollte. Es juckte ihn, sein Telefon anzuschließen und nach seinen Fotos zu sehen.

»Ich hab mich geirrt«, sagte sie, »und doch noch jemand anderen gesehen, nachdem Sie die Bar verließen, neben dem Mann, der dann später gestorben ist.«

»Ja?«

»Es war einer der Männer, die die Pistenraupen fahren. Er arbeitet auch noch als Skiguide. Er ist hier gut bekannt. Letzte Nacht kam er ins Hotel, durchgefroren und schneeverkrustet, und wollte einen Drink, weil seine Raupe eine Panne hatte. Das kann schon mal vorkommen, wenn das Wetter umschlägt. Er kam nicht mehr nach Hause.«

»Er kam in die Bar?«

»So weit dann nicht. Der Nachtschichtleiter fing ihn in der Lobby ab und sagte ihm, die Bar sei um die Zeit nur für Gäste geöffnet. Der Mann wurde ziemlich wütend. Das hörte ich, weil sie draußen in der Halle lautstark diskutierten. Irgendwann muss der Amerikaner dann die Bar verlassen haben, denn er war auf einmal nicht mehr da. Vielleicht wollte er den Streit auch nicht mitanhören.«

»Warum ist Ihnen das erst jetzt eingefallen?«, fragte Ben.

»Weil Sie danach fragten, wer noch in der Bar war. Dieser Mann wurde nicht in die Bar eingelassen, und er war nicht mit dem Amerikaner zusammen so wie Sie. Aber er war im Hotel.« Sie hielt inne und schaute auf ihre Füße, die zu Bens Überraschung in schwarzen Motorradstiefeln mit ein paar überflüssigen Schnallen steckten.

Er nahm an, dass sie die in Missachtung der Uniformvorschriften und vielleicht als Hommage an Lisbeth Salander hinterm Tresen trug. Er hatte jede Menge übrig für kleine Akte der Unabhängigkeit oder Aufsässigkeit. Zusehends war er davon überzeugt, dass Hotels Persönlichkeiten beschäftigen sollten und keine Roboter, solange sie höflich und tüchtig waren.

»Für wen begutachten Sie Hotels?«, fragte sie und blickte dabei auf.

Ben wurde nicht schlau aus ihrem Spiel. »Ich arbeite für eine Gruppe von Hotels, einen Verbund namens Hideaway, bei dem das G Mitglied ist.«

»Ja, Hideaway ist mir bekannt – die exklusivsten Hotels der Welt.«

»So sehen sie sich gern.«

»So heißt es auf der Website, in den Broschüren. Trifft das denn nicht zu?« Ihr Lächeln sagte schon alles. Die Frage bedurfte keiner Antwort.

»Dieser Mann, der den Pistenbully fährt und manchmal als Guide arbeitet, den kennen Sie also vom Sehen?«

»Den kennt jeder, der hier angestellt ist. Er trinkt, und unter treffen wir ihn schlafend in einem der Gänge oder dem Skiraum an, wenn er es nicht mehr nach Hause geschafft hat.«

In Bens Ohren schrillten alle Sirenen, was die Sicherheitsvorkehrungen des Hotels betraf.

»Er wohnt in einer Kate oben im Wald.« Sie deutete vage in die hintere linke Zimmerecke. »Mitunter ist sie vom Hotel aus zu sehen, ihr Dach wenigstens, und wenn er Feuer macht. Etwas Landwirtschaft betreibt er auch, im Sommer. Er wohnt hier das ganze Jahr über und hängt sehr an der Gegend.«

Offenbar schien sie so einiges über ihn zu wissen. »Wohin ist er letzte Nacht gegangen, nachdem man ihm einen Drink an der Bar verweigert hat und er wegen des Schneesturms nicht nach Hause konnte?«

»Ich weiß nicht. Er wird wohl einen Schlafplatz gefunden haben.«

Die Warnsirenen in seinem Kopf schrillten noch lauter. Es ging nicht an, dass sich Aushilfsarbeiter in den Gängen eines Hideaway-Hotels pennen legten, Himmel noch mal. »Das ist äußerst ungewöhnlich.«

»Kommt halt vor«, sagte sie. »Diese Berge können sehr heimtückisch sein.«

»Haben Sie ihn heute gesehen?«

»Ich hab ihn nicht mehr gesehen, seit er letzte Nacht in der Lobby herumschrie.«

»Wissen Sie, wer die Pistenraupen einsetzt? Dasselbe Unternehmen, das die Skilifte betreibt?«

»Schon möglich«, sagte sie. »Sie tragen alle die gleichen Jacken und Anzüge.«

»Sie würden diesen Mann ja gewiss wiedererkennen? Sie könnten ihn mir zeigen?«

»O ja. Er hat einen dichten fuchsroten Bart, ist aber nicht so alt. Ende zwanzig vielleicht.«

Ben war sich bewusst, dass sie immer noch zwischen Tür und Angel redeten. Dennoch wollte er sie nicht in sein mer bitten. Vertrauen war das eine, es auf Ärger anlegen etwas anderes. Er spürte, dass sie ihm nicht alles sagte. »Danke für Ihre Auskünfte und dafür, mir mein Telefon zu bringen. Jetzt müssen Sie aber zurück in die Bar – Sie haben einen wichtigen Job. Besonders heute, da kein Skilaufen oder Spabesuch möglich ist.«

Sie nickte, rührte sich aber nicht.

Ben ging noch immer durch den Kopf, was sie gesagt hatte und was nicht. Er sah sich gezwungen, etwas auszusprechen. »Wollen Sie andeuten, dass dieser Mann etwas mit dem Tod des Amerikaners zu tun gehabt haben könnte?«

Sie schaute entgeistert drein. »Das ist nicht das, was ich zu sagen versucht habe. Ich wollte Ihnen alles erzählen, was ich wusste und was hilfreich sein könnte, weil Sie Inspektor sind, für Hideaway.«

Das mit Hideaway hatte sie eben erst erfahren. Ben nickte und überlegte weiter.

»Ich würde gern in einem anderen Hotel arbeiten. Einem Hotel in einer Stadt, New York vielleicht oder Los Angeles. Oder London.«

Jetzt kapierte er. »Wenn sich der ganze Stunk verzieht, sehe ich zu, was ich tun kann«, sagte er. Nicht dass Hideaway gegenwärtig ein Mitglied in L.A. hatte, aber eines in Santa Barbara. »Offene Stellen gibt es immer wieder, und Kontakte und Empfehlungen sind im Gastgewerbe stets hilfreich, wie Sie wahrscheinlich wissen.« Er rang sich ein Lächeln ab, ließ sich ungern so unverblümt einspannen. »Wissen Sie noch was über diesen Mann?«

»Er heißt Bernard, wie der englische Hundename. Er ist ein bisschen verrückt, lebt für sich. Übrig hat er nur was für die Natur, Tiere, die Umwelt. Trotzdem arbeitet er für die Skiliftfirma und fährt ein Ungetüm, das giftigen Qualm ausspuckt. Wie kann das sein? Manchmal glaube ich, dass Stadtmenschen die Umwelt besser verstehen.«

»Vielleicht kann er nur so seinen Lebensunterhalt verdienen. Es lässt ihn wenigstens in den Bergen bleiben.« Das Ziegenhüten konnte sich Ben kaum als sehr profitabel vorstellen. »Umweltgerechtes Wirtschaften kann viel Geld kosten. Ökologische Vernunft ist teuer.«

»Und vielleicht auch anstrengend. Er kann sehr zornig sein«, sagte Petra.

Ben konnte es ihm nicht mal verübeln.

Sie warf einen Blick über die Schulter, ehe sie fortfuhr. »Er trinkt sehr viel.«

Warum war Petra so darauf aus, diesen Typen hervorzuheben und dann schlecht zu machen, während sie darauf beharrte, dass er sicherlich nichts mit John Brenans Tod zu tun gehabt habe? »Vielleicht weiß er was«, warf Ben hin, »wenn er dazu neigt, nachts das Hotel zu durchstreifen. Ich will mal sehen, ob ich ihn auftreibe und ein Wörtchen mit ihm wechsele.«

Es schien sie immer noch nicht eilig zurück in die Bar zu ziehen; sie blieb im Korridor stehen und sah ihn erwartungsvoll an. Rechnete sie damit, er werde aus dem Stand mit einem Job aufwarten? »Können Sie mir noch irgendwas darüber sagen, wer genau mein Telefon gefunden hat und weshalb es jetzt aufgetaucht ist?«

Sie schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln, während der Pony beängstigend ortsfest blieb. Ben fragte sich, ob sie etwa eine Perücke trug. Eine Wagenladung Spray in den Haaren bestimmt.

»Ich weiß nur, wer es gefunden hat«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie es in die Mülltonne kam.«

Ben sah sich das fettige Ding wieder an. »Wer war das?«

»Eine Freundin in der Küche.«

»Warum hat sie es Ihnen gegeben und nicht dem Empfang?«

Wieder zuckte sie die Achseln. »Vielleicht hatte sie zu viel zu tun.«

»Oder sie wollte nicht gesehen werden, wie sie es jetzt abgibt, nach so langer Zeit?«

Petra gab keine Antwort.

»Allem Anschein nach sind hier nicht alle Mitarbeiter vollends vertrauenswürdig.« Ben wusste nur zu gut, dass sich Hotelangestellte, selbst solche eines Hideaway, zu Klüngeln zusammenschließen konnten. Und dass diese Klüngel zuweilen in Betrugsmaschen und Kleinkriminalität abglitten.

Petra schwieg weiter.

»Sie wollen weiterkommen, in eine große Stadt. Geht es Ihnen nur um den Ortswechsel? Wie steht es mit den Leuten, für die und mit denen Sie arbeiten?«

Petra zuckte zusammen, konnte aber nichts mehr entgegnen, denn Ben sah über ihre Schulter eine Gestalt am jenseitigen Ende des Flurs auftauchen. »Da kommt wer«, sagte er rasch. »Gehen Sie besser da lang.« Er machte eine Geste über seine Schulter, da er Aufzüge und Treppen an beiden Enden des Gangs wusste, die schnellen Zugang zur Halle und den Sitzgruppen erlaubten.

Sie spurtete geradezu davon, ohne sich umzusehen, während Ben in die Mitte des Gangs trat, um hoffentlich die Sicht zu versperren.

»Mr Martin«, sagte Eric Langeskov im Näherkommen. »Ich wollte gerade zu Ihnen.«

»Endlich«, erwiderte Ben. »Ich dachte schon, Sie weichen mir aus.«

»Sie hätten doch nicht im Flur warten müssen.«

»Ich sprach gerade mit jemandem.«

»Einem Belegschaftsmitglied?«

Wenigstens die Uniform musste Eric gesehen haben. Womöglich die Stiefel. »Ja«, sagte Ben. »Das wurde mir freundlicherweise eben gebracht.« Er zeigte sein iPhone vor.

»Es wurde Ihnen geradewegs übergeben?« Er keuchte es regelrecht. Offensichtlich war er überrascht. »Wusste gar nicht, dass es gefunden worden ist.«

»Ich schätze, es mir gleich selbst zu bringen, schien der schnellste Weg zu sein. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob Sie Ihren Angestellten hätten mitteilen sollen, dass ich es war, dem sein Telefon verloren gegangen ist. Das brauchte nur der Empfang zu wissen. Dadurch sehe ich meine Privatsphäre verletzt.«

Eric seufzte und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber jetzt haben Sie es ja wieder.« Er sah noch immer sehr verdutzt aus. »Da ist was, das ich Ihnen zeigen muss.« Sein Tonfall hatte sich geändert. »Können Sie mitkommen, jetzt sofort?«

»Ja, sicher.«

»Sie schnappen sich besser eine Jacke.«

Ben ging in sein Zimmer, zog seine Skijacke an, stopfte seine Mütze in eine Tasche und sein iPhone in eine andere, obwohl es gar nicht aufgeladen war. »Okay, dann los.« Es wunderte ihn, dass sich Eric nicht näher erkundigte, wer genau sein Telefon gefunden hatte und wo. »Haben wir es weit?«, fragte Ben.

Sie setzten sich zügig in die entgegengesetzte Richtung, die Petra eingeschlagen hatte, in Marsch, wobei Eric vorausging. »Bei diesem Wetter sind zehn Meter weit. Wir gehen nicht raus. Dort, wo wir hingehen, ist es allerdings nicht beheizt.«

»John Brenans Freunde, wurden sie unterrichtet?« Nun eilten sie die Treppe hinunter, was offensichtlich schneller ging, als erst auf einen Fahrstuhl zu warten. Wobei sie keinen Halt im Erdgeschoss machten, sondern weiterliefen. Am vierten Treppenlauf wurde Ben flau, sein Hunger meldete sich. Noch stand sein Frühstück aus, und inzwischen war schon Mittagszeit. Wie sollte er einen ordentlichen Bericht einreichen, wenn er Angebot und Einrichtungen nicht umfassend in Anspruch nahm?

Nicht zum ersten Mal in seiner Laufbahn bei Hideaway, wurde er sich im Klaren, würde ein vollständiger Bericht ausbleiben. Andere, weit wichtigere Probleme waren dazwischengekommen. Ein, zwei Augenblicke lang fragte er sich, ob er je wieder einen Bericht für Hideaway auf ganzer Länge ßen, sämtliche inzwischen endlosen Kästchen abhaken und geistlosen Fragen beantworten würde.

»Nein«, sagte Eric, als er die schwere Tür zur Tiefgarage aufstemmte. »John Brenans Runde ist noch nicht unterrichtet worden. Das erweist sich als gar nicht so leicht. Es gab keine Gruppenbuchung, daher ist nicht sofort ersichtlich, mit wem er hier war. Wir geben uns größte Mühe, das herauszufinden. Wir können nicht einfach an jede Tür klopfen.«

»Ich sehe zwar ein, dass hier behutsam vorgegangen werden muss«, sagte Ben, als sie die Garage betraten, »aber Sie sollten wirklich in die Gänge kommen. Seine Freunde müssen baldmöglichst informiert werden. Ihnen würde es nicht recht sein, wenn sie es auf anderem Wege erfahren.« Ben dachte an Petra, an die Spa-Betreuer und daran, wer weiß wie viele andere Hotelangestellte es inzwischen wissen mochten. »Außerdem«, fügte er hinzu, »könnten sie seine genauen Todesumstände aufklären helfen.«

Eric warf Ben einen scharfen, abfälligen Blick zu. »Unser Hauptaugenmerk gilt der Mitteilung an seine Angehörigen. Wir haben die Botschaft in Genf unterrichtet, die sich an seine Familie in den Staaten wenden wird. Wir haben nur seine eigenen Kontaktdaten gespeichert. Den Toten können wir nicht mitteilen, dass sie schon tot sind, oder?«

Ben missfiel diese spitze Bemerkung. »Aber seine Freunde sollten ihrerseits imstande sein, Verbindung zu seiner Familie drüben in den Staaten herstellen zu helfen.«

»Das habe ich bedacht«, sagte Eric. »Aber ich bin an die Regeln und Vorschriften des Hotels gebunden.«

Für Ben klang das nach reinem Vorwand. Während sie weiter in die Tiefgarage vordrangen, gewöhnten sich seine Augen langsam an das hier vorherrschende trübe Licht. Und das Geheul des Schneesturms draußen drang an sein Ohr. Die Kälte in der Garage hatte nichts Belebendes mehr. Ben zog seine Wollmütze hervor. »Vermutlich wissen Sie, mit wem John Brenan zu Abend aß, wenigstens die Namen seiner Tischnachbarn?« Wie schwer sollte das rauszufinden sein, Vorschriften hin oder her?

»Wir haben nur seinen Namen, weil er den Tisch reserviert hatte wie auch das Abendessen bezahlt. Er ließ es auf seine Zimmernummer anschreiben. Genau genommen reservierte er jeden Abend den Tisch und zahlte fürs Essen. Es ist weder erforderlich noch üblich, die Namen aller an einem reservierten Tisch Versammelten aufzunehmen, nur ihre Anzahl. Ob sie nun im Hotel wohnen oder nicht.«

Ben hatte Mühe zu begreifen, dass das Hotel nicht dazu in der Lage war festzustellen, mit wem ein Gast hier ausspannte. Die Personaldecke war unglaublich dünn, vielleicht hatte das etwas damit zu tun. Davon abgesehen wurde sich Ben bewusst, dass John Brenan zwar stets von reichlich Kumpanen umgeben gewesen zu sein schien, seltsamerweise aber nie auch nur einen davon Ben richtig vorgestellt hatte.

Er versuchte, sich zu erinnern, wer gestern Abend noch mit John zusammen am großen Esstisch gesessen hatte und wer tagsüber mit ihm in der Library Bar gewesen sein mochte. Vor seinem inneren Auge erschienen nicht mehr als einige weitere große, ähnlich gekleidete Männer. Vielleicht hätte Petra mehr Ahnung und könnte mit ein paar Namen und Zimmernummern dienen. Es sei denn, John Brenan hatte auch jede Thekenzeche bezahlt. Doch das war nicht der Fall, wenigstens Ben hatte den Mann zu Drinks eingeladen.

Sicherlich gäbe es auch Kameraüberwachung aus zahlreichen Blickwinkeln. Die Bewegungen aller an bestimmten Stellen der wesentlichen öffentlichen Bereiche mussten jederzeit erfasst und aufgezeichnet werden. Außer mutmaßlich im und rings um das Spa! Aber der dorthin führende Korridor? Bestimmt.

»Warum sind wir in der Parkgarage?«, fragte Ben – zusehends verblüfft von der Praxis des Hotels hinsichtlich Privatsphäre, Gasterkennung, Rechenschaftspflicht und decke –, während Eric ihn vorbei an zahlreichen Fahrzeugen und um eine Ecke in einen anderen Bereich führte.

»Ich habe Mr Roths Auto gefunden«, sagte Eric und zeigte darauf. »Da, in der Ecke.«

Ein mitternachtsblauer Volvo V90 Kombi stand dort zwischen zwei gewaltige SUVs gezwängt.

»Woher wissen Sie, dass es das Auto von Liam Roth ist?«

»Um in die Tiefgarage zu gelangen, muss eine Klingel gedrückt werden, die mit dem Sicherheitsbüro und dem Empfangstresen verbindet. Dort ist eine Kamera, sodass wir immer sehen, wer kommt. Dann muss die Gegensprechanlage betätigt werden, und wir lassen den Gast ein. Das wird automatisch aufgezeichnet. Die Kamera erfasst zudem alle ausfahrenden Autos, wobei dann nichts über die Sprechanlage gesagt werden muss. Was Sie mir gestern erzählten, war höchst undurchsichtig. Und als wir heute eine weitere Leiche fanden und Sie ebenfalls dabei waren, verstörte mich das besonders.«

»Lasten Sie mir irgendwas an?«

»Sie mögen für Hideaway arbeiten, aber das macht Sie nicht zum unschuldigen Zaungast. Oder sollte ich ›unschuldiger Inspektor‹ sagen?«

Ben konnte kaum glauben, was er da von Eric zu hören bekam. Sie standen zu beiden Seiten des Wagens und linsten ins Innere. Das Auto war ein neueres Modell, aber erstaunlich zugemüllt, die schwarze Lederausstattung strotzte von Styroporbechern, leeren Chipstüten, Ladekabeln, Zeitschriften, ein paar Taschenbüchern.

»Eric, Sie müssen aufpassen, was Sie sagen. Wenn Sie in diesem Gewerbe vorankommen und Ihre gegenwärtige Lage zu Ihrem Vorteil nutzen wollen, müssen Sie beträchtlich mehr Professionalität zeigen und die spitzen Bemerkungen und Anschuldigungen ausklammern. Ich will nur helfen, Ihnen, dem Hotel und Hideaway. Ich hatte nichts mit diesen beiden Todesfällen zu tun – verstanden?«

»Es ist nur so«, sagte Eric, »dass Sie hier und da aufgekreuzt sind, um den Nachwuchskräften peinliche, zudringliche Fragen zu stellen. Und andere Angestellte mit Schauergeschichten über eine Leiche in einer Gondel verschreckt haben. Verhält sich so ein Spitzeninspektor? Selbst Ihr iPhone geht irgendwo verloren mitsamt wesentlichem Inhalt. Wie kann das sein? Kommt doch gelegen, oder nicht?«

»Ihnen oder mir?«

»Sie können mir nicht beweisen, dass Sie diesen Toten in der Gondel gestern tatsächlich gesehen haben. Ist das nicht der Fall?«

»Ich glaube, dass mir mein Handy weggenommen, gestohlen wurde. Mir ist nur unklar, weshalb es mir zurückgegeben worden ist.«

»Sie müssen begreifen«, fuhr Eric fort, »dass all dies höchst regelwidrig ist. Ja, ich habe ein paar Hintergrundinfos eingeholt. Dermaßen wichtige Leute waren gestern hier, dass ich über so was Bescheid wissen musste. Sie haben Verdacht erregt. Dann finde ich heraus, dass Ihr Werdegang bei Hideaway ziemlich zwiespältig ausfällt.«

Ben hatte keine Ahnung, wo er derartige Hinweise aus öffentlichen Quellen hätte beziehen können. »Beispielhaft, würde ich sagen.«

»Außerdem fand ich den Nachweis, dass Sie Journalist gewesen sind. Folgerichtig kam mir der Gedanke, dass Sie entweder mit Mr Roth zusammenarbeiteten oder aus irgendeinem Grund Nachforschungen über ihn anstellten. Dann sah ich mir die Videoaufzeichnungen aus der Parkgarage an, die wir von Mr Roth bei seiner Abreise hier hatten und seiner Ankunft auch. Ich wollte sehen, was echt war und was Sie erfunden hatten.«

»Was ich erfunden hatte?« Ben lachte. »Sie haben Mut, mich hier herunterzubringen, wenn Sie mich an alledem für irgendwie beteiligt halten.«

»Ich bin Hotelier von Beruf«, sagte Eric stolz. »Meine vornehmste Sorge gilt diesem Hotel und seinem Ansehen. Ich will unter meiner Leitung keinen abträglichen Bericht, das stimmt. Ich muss an meine Karriere denken. Ich habe sehr hart daran gearbeitet, um bis an diesen Punkt zu kommen.«

»Wir alle müssen an unsere Karrieren denken und unser Ansehen.« Ben fragte sich, welche Beziehungen Eric Langeskov haben mochte. So wie er klang und sich verhielt, war weit mehr an ihm dran, als man zunächst annehmen könnte.

Ben probierte, die Fahrertür zu öffnen, aber sie war verschlossen. »Was haben Sie in den Videos aus der Parkgarage gefunden?«

»Ich habe Mr Roth Sonntagabend ankommen sehen, in seinem Wagen. Es gab aber keine Aufnahme von ihm, wie er gestern frühmorgens wegfuhr.«

»Tja, nein«, sagte Ben. »Er war nämlich tot, und sein Auto steht noch hier.« Eben dann wurde ein Hupen laut, und der Volvo erwachte zum Leben, indem sich Warnblinkanlage, Standlicht und Innenbeleuchtung einschalteten. »Sie haben die Schlüssel?«

»Ja«, erwiderte Eric. »Sie wurden in seinem Skispind gefunden.« Er winkte Ben mit dem Schlüsselanhänger zu.

»Aber ich habe in dem Spind nachgesehen – als ich ihn gestern Morgen unverschlossen vorfand. Wie Sie sicher wissen, gab ich am Empfang Bescheid, damit kein fremdes Eigentum abhandenkommt.«

»So etwas passiert hier nicht«, sagte Eric.

Ben ging nicht darauf ein. »Da habe ich die Schlüssel nicht gesehen.«

»Sie waren in seinen Schuhen. Gestern Nachmittag haben wir den Spind ausgeräumt, um ihn an neue Gäste zu übergeben.«

»In die Schuhe habe ich nicht geschaut«, räumte Ben ein. »Da wusste ich noch nicht, wem der Spind gehörte. Warum haben Sie mir das eben erst gesagt?«

»Erkenntnisse und Sachverhalte brauchen Zeit, um sich zusammenzufügen. Ich musste erst mit Angestellten reden, und Überwachungsvideos sichten macht auch ziemliche Umstände, wenn der Sicherheitschef nicht zugegen ist. Nebenbei wusste ich da noch nicht, wer Sie waren. So richtig weiß ich das bis jetzt nicht. Leute ziehen eine Schau ab, geben dies oder das zu sein vor, verhehlen ihre wahren Absichten. Inspektoren sind die Schlimmsten, sie versuchen ständig, einen zu überrumpeln.«

»Meine Absicht ist es, Maßstäbe aufrechtzuerhalten«, sagte Ben, »für Güte und Leistung. Ganz einfach. Ich weiß nicht genau, wohin Ihre Kameras sonst noch zeigen, aber Sie und ich werden uns an den Computer setzen und die letzten sechsunddreißig Stunden oder so genau ansehen müssen.«

»Sie wären nicht befugt, das mit mir zu tun, ob Sie nun für Hideaway arbeiten oder nicht.« Eric öffnete die Beifahrertür und beugte sich ins Wageninnere.

»Werden wir noch sehen.« Ben zog die Fahrertür auf und lehnte sich hinein. Es roch nach Kaffee und – eher überraschend – Parfüm. Ben konnte es nicht identifizieren, doch der Duft war eigen, blumig mit einer Spur Zigarrenrauch. »Was hoffen Sie, hier drin zu finden?« Er langte in die Türtasche und stieß auf altes Kaugummipapier, zusammengeknüllte Kassenbelege und Chipskrümel.

»Einen Hinweis darauf, wo er hingegangen sein könnte?«, sagte Eric.

»Kann sein, dass Sie dafür ein höheres Wesen anrufen müssen.« Ben richtete sich auf, roch das Parfüm aber immer noch. Gewöhnlich war er sehr gut darin, Parfüms zu erkennen. Er ging herum zum Heck des Autos, öffnete den Kofferraum und fuhr die einziehbare Sichtblende zurück. »Hier ist sein Gepäck.«

Eric trat zu Ben und hielt etwas in der Hand. »Und hier ist ein Handy.« Er zeigte ein Handy vor. »Lag unterm Sitz.«

Bens sah es sich näher an und schüttelte den Kopf. Es war ein schwarzes iPhone, anscheinend dasselbe Modell wie sein eigenes, sogar mit einigen sichtbaren Sprüngen im Display. Ihm schauderte, als er einen eisigen Luftstoß spürte, den der Schneesturm unter den Toren durch bis in die letzten Winkel der Tiefgarage blies. Es gab kein Entkommen davor. »Wer lässt sein Telefon im Auto zurück?«

»Vielleicht war es nicht seins.« Eric tippte darauf ein. »Muss entladen sein.«

Ben klopfte seine Brust ab, seine Flanken, fühlte sein eigenes, unlängst zurückerstattetes iPhone in seiner Tasche. Spürte zumal, dass Eric ihn argwöhnisch ansah. »Nun, meins ist es nicht«, sagte Ben. »Da meins gerade gefunden wurde.«

»Ja«, murmelte Eric, der Bens Blick auswich und sich über die Ladefläche des Kombis beugte. Er griff nach der verschrammten ledernen Reisetasche und zog sie bis an die Stoßstange, damit beide sie besser sehen konnten.

Die Tasche war herrlich mitgenommen, Ben hatte genau so eine zu Hause. Mitterweile verreiste er vorwiegend mit seinem kleinen Rollkoffer. Er hatte wenig Lust, schwere Gepäckstücke über endlose Flughafengänge zu schleppen. Würde er jedoch mit dem Auto verreisen, träfe seine Wahl auf genau diese Tasche. Auch auf so ein Auto, könnte er sich eines aussuchen. Für Volvos hatte er schon immer etwas übriggehabt. »Wir sollten nichts davon anfassen«, sagte Ben.

»Nein, ich schätze nicht«, sagte Eric und trat zurück. »Aber es könnte uns ihn finden helfen.«

»Sie meinen, seine Leiche finden?«, präzisierte Ben. »Nützlicher wäre es jetzt vielleicht, seine letzten Schritte gestern früh zu kennen. Er muss einen Teil seiner Sachen gepackt und sie ins Auto gelegt haben, dann zurück in den Skiraum gegangen sein, sich die Stiefel angezogen, aber seiner Skier, Stöcke und seinen Helm einzusammeln vergessen haben, als er nach draußen ging, rüber zum Lift.« Ben schüttelte den Kopf. »Ergibt doch keinen Sinn, oder?«

»Nein.«

»Es sei denn, er hatte es plötzlich eilig, hier wegzukommen«, ergänzte Ben. »Wurde er bedrängt?«

»Möglich wäre das wohl.«

»Aber in Skistiefeln?«, dachte Ben laut. »Vielleicht hatte er sie schon an. Hat man diese Dinger erst mal an und stramm geschlossen, kommt man nicht so schnell und einfach wieder raus. Oder er war vielleicht irgendwie durcheinander.«

»Er hatte ausgecheckt«, sagte Eric. »Wollte somit irgendwann am selben Tag abreisen.«

»Vielleicht wollte er den Aufpreis für spätes Auschecken vermeiden und hatte vor, nach einem Tag auf den Pisten seine Alltagssachen im Skiraum wieder anzuziehen.« Ben drängte an Eric vorbei und langte nach der Tasche. »Nur dass andere ihn aufhalten wollten, weil er etwas Kompromittierendes wusste. Er floh vor seinen Häschern nach draußen, schaffte es aber nur bis zur Gondel.«

Weil er an irgendeinem Punkt vergiftet wurde, dachte Ben, der sich das weiße Zeug um den Mund des Toten ins Gedächtnis rief. Bloß wie, wann? So vieles an alledem war unlogisch, oder er konnte sich noch keinen Reim darauf machen. Ben brauchte weitaus mehr Informationen und Beweise, war ihm klar.

»Sie fassen also jetzt die Tasche an, was?«, fragte Eric.

»Ein schneller Blick kann nicht schaden«, sage Ben. »Wir müssen mehr wissen. Zumal Sie bestimmt nicht wollen, dass eine weitere Leiche unter Ihrer Aufsicht auftaucht. Wir wissen nicht, wer noch in Gefahr sein könnte.« Er suchte bei Eric nach einem Zeichen der Zustimmung, doch Eric schaute rasch weg.

»Solange dieser Schneesturm draußen weiterwütet, dürfte uns gar keine andere Wahl bleiben«, fügte Ben hinzu. »Hier ist keiner sonst, um uns zu helfen. Unsere Fingerabdrücke und DNA können später noch isoliert werden, falls nötig. Ich habe nichts zu verbergen. Meine DNA werden Sie bei keinem Erkennungsdienst finden.« Ben lachte bemüht.

Eric wich noch einen Schritt zurück, während Ben die Tasche näher heranzog. Sie war überraschend schwer. Er öffnete den Reißverschluss. »Mein lieber Schwan. Die Sachen können unmöglich alle von ihm stammen.«

Eric trat vor und linste hinein. »Könnte doch sein«, sagte er gut aufgelegt.