Kaum zurück in seinem Standard-Deluxe, fahndete Ben nach der Speisekarte des Zimmerservice, ortete sie schließlich in der dicken Angebotsmappe auf seinem Nachttisch und musste feststellen, dass die vollständige Ausgabe nur online erhältlich war. Ihm war nach etwas ausgesprochen Raffiniertem. Eben schien sich sein Kater wieder zu legen. Ein, zwei Gläser passender Wein kämen auch sehr gut. Wenigstens könnte er sich vormachen zu arbeiten, denn ein nagelneuer Abschnitt des Prüfformulars widmete sich ganz dem Zimmerservice. Diesen Bereich des Hotels durfte er immerhin ohne den weißen Handschuh auf die Probe stellen.
Ben brauchte ein Weilchen, um seinen Rechner hochzufahren, die Website des Hotels zu finden, dann den Gastbereich und schließlich die Speisenliste des Zimmerservice. Doch soweit er sehen konnte, entsprach sie genau der gedruckten Ausgabe. Es gab weder Sondergerichte noch eine Tageskarte. Zumindest wurde derzeit nichts dergleichen aufgeführt. War der Personalmangel daran schuld? Der Umstand, dass kein Generaldirektor vor Ort war und alles genau im Auge behielt? Eric schien unfähig, die Videokameras zu überwachen, geschweige denn sonst irgendwas.
Wer arbeitete eigentlich gerade jetzt in der Küche? War nicht dort sein Telefon gefunden worden? Dabei fiel ihm ein, dass es aufgeladen werden musste. Er zog es aus seiner Jackentasche und stöpselte es ein, ehe er sich wieder der Speisekarte widmete.
Die Wahl fiel ihm leicht: traditionelles Tatar überbacken mit Butter aus Heufütterung. Das Kleingedruckte vermeldete: mit Rinderfilet mit Bergfeuer, Toast und Butter. Die Erläuterung stiftete weniger Sinn als der Name des Gerichts selbst. Es gab sie nur auf Englisch, sodass Ben dafür nicht die Übersetzung rügen konnte. Nicht dass er eine Übersetzung in einem Hotel wie diesem hätte rügen können dürfen. Jede gewählte und verwendete Sprache hatte getreulich und fehlerlos auszufallen, lautete sein Maßstab. Wobei er bemerkt hatte, dass die neuen Hideaway-Formulare für eine entsprechende Beurteilung interessanterweise nirgends eine Stelle vorsahen. Eben darum waren die Wertungen und Wahrnehmungen eines Hotelinspektors mit seiner Erfahrung und Befähigung entscheidend.
Er beschloss, lieber eine Portion Pommes frites zu bestellen, die sicherlich keiner weiteren Erläuterung bedurften, nur gab es doch eine: als Beilage. Und wenn jemand Fritten als Hauptgericht haben wollte? Würde dieser Wunsch gewährt?
Er gab die Bestellung online auf und fügte eine kleine Karaffe Pinot Noir Grand Cru hinzu, den die begleitende Weinempfehlung anpries – gewöhnlich ignorierte er solcherart Empfehlungen. Aber er war gerade zu hungrig und durstig, um noch woanders nachzusehen, und sei es online.
Obwohl er ganz froh darüber war, einstweilen mit keinem Belegschaftsmitglied mehr reden zu müssen, rechnete er nicht unbedingt damit, dass die Bestellung umgehend besorgt werden würde. Er hegte auch Zweifel, ob ein Hotel von solchem Rang den Zimmerservice überhaupt bewerben sollte. Das hier war nicht Deliveroo. Freilich kam nach zwei Minuten eine E-Mail zurück, wonach seine Bestellung eingegangen sei und binnen einer halben Stunde »geliefert« werde.
Das mochte zehn Minuten länger dauern, als Ben bei einem solchen Hotel um diese Uhrzeit erwartet hätte. Vermutlich riss man sich in der Küche kein Bein aus. Andererseits vielleicht doch. Was sonst dürften die Leute heute tun, da sie nicht nach draußen gehen konnten oder an den Pool oder ins Spa? Essen, Trinken, Netflix gucken und vielleicht sogar Liebe chen. Nun, es war die Sorte Hotel dafür – mit überirdischen Ausblicken, wenn das Wetter mitspielte.
MS-Teams meldete ihm einen Anruf, ein anderer bezaubernder Anblick kündigte sich an.
»Hallo, Emily, welch freudige Überraschung.«
»Unter unerfreulichen Umständen, wenn ich recht verstehe«, sagte sie.
»Ja, nicht eine, sondern zwei Leichen innerhalb vierundzwanzig Stunden zu entdecken, ist wohl keine ganz glückliche Fügung.«
»Zum Glück wiederum stehst gerade du uns zur Verfügung. Du weißt, Ben, wie sehr ich alles schätze, was du für mich und Hideaway tust. Das habe ich hoffentlich immer deutlich gemacht.«
Sie war in ihrem Büro, trug einen eng anliegenden Rollkragenpulli aus beiger Wolle. Sie hatte wirklich eine tolle Figur und war nicht abgeneigt, sie vorzuzeigen. »Ja, das hast du deutlich gemacht, danke.« Er lächelte.
»Marc hat mich informiert, was da los gewesen ist. Irgendwelche neuen Entwicklungen seit eurem Gespräch?«
»Ich gebe mir größte Mühe, die Überwachungsvideos einsehen zu können. Als Generaldirektor amtiert hier jemand, der eigentlich Duty Manager ist – und auch dazu eben erst befördert wurde, schätze ich. Er heißt Eric Langeskov, dem ist nicht zu trauen. Keine Ahnung, worauf er aus ist, aber ich glaube, dass er mir was anzuhängen versucht hat. Auf jeden Fall ist er völlig am Schwimmen.«
»Sicher kein Leichtes, so ein Skihotel zu führen, zumal wenn sich da allerhand Stakeholder treffen.«
»Was weißt du über sie?«
»Wahrscheinlich weniger, als ich wissen sollte. Da muss ich noch etwas tiefer graben. Aber wenn ich so wenig weiß, liegt das gewöhnlich an der verschwiegenen Natur solcher Leute.« Sie lächelte berückend. »Es dürfte einige heikle Fragen werfen, bei so einer Gegend wahrscheinlich solche nach den Umweltfolgen. Die werden alle ihre Figuren in Stellung bringen wollen, ehe sie irgendwas verkünden.«
»Hast du je von diesem Investigativreporter gehört, Liam Roth?«
»Der, den du tot aufgefunden hast?«
»Wenn er es war, was ich stark glaube, ja.«
»Gehört schon. Zum Glück hatte ich nie was mit ihm zu tun. Er ist als skrupellos verschrien. Außerdem als Schürzenjäger. Warum kenne ich den eigentlich nicht?« Sie kicherte. »Kann ich so was heutzutage noch sagen?«
»Zu mir sicher.«
»Ach Ben, es wäre so herrlich, dich zu treffen. Bis wann bist du dort?«
»Ich hätte schon vor ein paar Stunden abreisen sollen – es ist bloß eine zweitägige mitteleuropäische Inspektion. Aber wetterbedingt und der anderen Ereignisse wegen«, er verzog die Miene, »bleibe ich jetzt mindestens bis morgen.«
»Hat dein Zimmer Kaminfeuer, Fellteppiche? Einen Whirlpool auf dem Balkon?«
Ben warf einen Blick über die Schulter in den beengten Raum. »Bin in einem Standard-Deluxe. Ist aber ganz gemütlich.«
»Klingt wunderbar. Mit wem man an so einem Ort ist, darauf kommt es an, nicht auf die Größe der Suite. Ich frage mich, ob wir erwägen sollten, Inspektoren zu zweit rauszuschicken.«
»Vielleicht könnten sie auch einfach mit ihren Geliebten reisen«, sagte Ben. »Wäre doch wohl zweckmäßiger.«
»Mir hat schon immer gefallen, wie dein Verstand arbeitet. Pass auf dich auf, und ich kümmere mich darum, dass wir uns sehr bald sehen.«
»Bitte tu das.«
Sie beendeten gleichzeitig das Gespräch. Während sein Telefon noch am Laden war, rief er die E-Mail von Simone wieder auf.
Lieber Mr Martin,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Liam Roth arbeitet an einem Projekt und ist gegenwärtig verhindert. Könnten Sie bitte erläutern, weshalb Sie ihn erreichen möchten, und dabei so viele Angaben wie möglich machen?
Freundliche Grüße,
Simone
Ben überlegte sich ein, zwei Minuten lang eine Antwort, dann haute er in die Tasten.
Liebe Simone,
vielen Dank für Ihre prompte Rückmeldung. Die Sache wird immer dringlicher. Ich würde Liam Roth wirklich sehr gern so bald wie möglich sprechen. Dann habe ich auch noch ein paar Sachen von ihm hier im G, die er bestimmt gern zurückhätte. Sollte er zu sehr mit seinem Projekt beschäftigt sein, dann könnte ich vielleicht mit Ihnen abklären, wohin ich sie schicken kann?
Wie hätte Roth an einem so luxuriösen Urlaubsort zu sehr mit einem Projekt beschäftigt sein können, sofern es nicht den Urlaubsort selbst betraf, das Ausbauvorhaben? Es gab keine Anschrift oder E-Mail-Signatur auf dem Kontaktformular, verständlicherweise vielleicht, nicht dass Ben die leiseste Absicht hatte, Roths Sachen zu übersenden. Ganz sicher aber würde er Simone gern sprechen, also fügte er noch seine Handynummer an.
Er stand auf, ging im Zimmer umher und versuchte, sich Emily hier drin mit ihm vorzustellen. Vermutlich würde sie schon nach kurzer Zeit ein Upgrade verlangen. Als er die mannigfachen Vorhänge zurückzog, gaben sie einen Schneesturm frei, dem offenbar die Puste ausging. Wie sich das anfühlte, wusste er.
Er ließ die Vorhänge offen und kehrte an seinen Schreibplatz zurück. Ihm war wie einem Tier im Käfig zumute. Kein Hotel, und sei es noch so luxuriös, konnte einen den ganzen Tag lang unter Verschluss halten.
Er nahm sein Telefon in die Hand und schaltete es ein. Die Akkuleistung reichte aus, um den Bildschirm zu erleuchten, doch die Gesichtserkennung versagte. Er probierte es mit seiner PIN-Nummer. Auch das klappte nicht. Er sah sich das Gerät genauer an und merkte, dass er an Liam Roths Telefon herumhantiert haben musste. Nur hätte er schwören können, selbst für diese Sprünge im Displayglas gesorgt zu haben – betrunken spät nachts in Frankfurt an seinem Küchentisch. Er nahm sich erneut seine Jacke vor und klaubte das andere Handy hervor. Natürlich war es entladen, also stöpselte er nun dieses ein und kehrte an seinen Laptop zurück.
Wo blieb sein Essen? Er langte nach seinem Telefon. Nun erwachte es bereitwillig zum Leben und schien ihn auch zu erkennen, obwohl ihm die Risse weniger vertraut vorkamen. Eilends öffnete er seine Fotoalben und fand sofort die Bilder von Liam Roth, wie er tot in der Blase saß. Er seufzte, doch erleichtert. O ja. Und ob er den Beweis hatte.
Das Hin- und Herscrollen zwischen Bildern auf der Suche nach irgendetwas, das er vielleicht übersehen haben mochte, dauerte einige Minuten. Insbesondere eines der Fotos erregte seine Aufmerksamkeit. Mittig auf einer Seitenverkleidung gleich unterhalb des Fensters hoben sich die schlanken schwarzen Ziffern 39 unaufdringlich vom silbergrauen Grundton ab. Es war die Nummer der Gondel. Er hoffte, sie wäre auffälliger irgendwo außen aufgemalt. Das war noch etwas, das er Eric Langeskov, dem Liftbetreiber und den Behörden liefern konnte.
Sollte er sich die Gondel näher anschauen? Es hätte jedoch keinen Sinn, so spät nachmittags hinüber zur Liftstation zu stapfen, da die Bahnen schon den ganzen Tag außer Betrieb gewesen waren und die Station geschlossen sein würde. Dem hochmodernen französischen Skiliftunternehmen, mutmaßlich eines der technisch fortschrittlichsten und renommiertesten der Welt, müsste nach Bens Dafürhalten auf den Zahn gefühlt werden. Wen genau beschäftigte es beispielsweise? Wer war der örtliche Geschäftsführer? Gleichwohl war sich Ben im Klaren, dass schurkische Angestellte überall auf den Plan treten konnten.
Er vergewisserte sich, ob er noch etwas in der Gondel und an Liam Roths Leiche entdecken könnte, und ließ fast das Handy fallen, als es zum Leben erwachte und sich dabei vom Ladekabel trennte. Er brauchte länger als sonst, um den Anruf – Nummer unbekannt – anzunehmen. »Hallo?«, sagte er schließlich.
»Ben Martin?«
»Ja?«
»Hier spricht Simone. Ich arbeite für Liam Roth.«
»Danke, dass Sie mich so rasch zurückrufen.«
»Was haben Sie denn von Liam?« Ihr Englisch war ausgezeichnet, wies nur einen schwachen Welschschweizer Akzent auf.
»Das ist eine gute Frage. Darf ich Sie fragen, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben und wann Sie ihn wiedersehen sollen?« Es kam keine Antwort. »Hallo?« Ben nahm das Handy vom Ohr und glaubte den Akku schon wieder entladen.
»Scheiße«, rief er und starrte den Apparat an, als trüge der die ganze Schuld. Aber der Bildschirm war nicht tot, und es wurden noch vier Prozent Akku angezeigt. Als er das Kabel wieder einsteckte, wurde ihm bewusst, dass er nicht mal ihre Nummer hatte. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn erneut anrufen würde und der sehr niedrige Ladestand einen automatischen Abbruch des Gesprächs bewirkt hatte. Dass sie die Verbindung nicht jetzt schon absichtlich getrennt hatte.
Sie rief ihn nicht umgehend zurück. Er sah hoch zur cke, zu den Balken aus Kiefernholz und Stahl, die eher einem schmückenden denn tragenden Zweck zu dienen schienen. Er sah über die Schulter zu den Türen auf den winzigen Balkon und das große Weiß draußen. Je länger die Stille anhielt, umso klarer wurde ihm, dass seine Fragen sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Er hatte sie gefragt, wann sie ihn zuletzt gesehen habe und wann sie ihn wiedersehen solle. Schlicht und einfach genug, wenn man schlichte, unschuldige Antworten parat hatte. Sie hatte umgehend auf beide seiner E-Mails geantwortet und war jetzt verstummt. Wer war diese Simone?
Hallo, Ben hier. Ich fürchte, mein Akku war leer. Gern schrieb er sich ihre jähe Schweigsamkeit zu und mailte ihr unverzüglich ein drittes Mal. Bitte rufen Sie mich erneut an oder teilen mir die Nummer mit, unter der ich Sie am besten erreiche. Ich habe weitere wichtige Nachrichten betreffs Liam Roth. Übrigens ist sein Auto immer noch im G. Er tippte auf Senden. Wusch. Er wusste, dass er deutlicher werden müsste.
Die Standardantwort kam zurück. Weiter nichts.
Wo blieb sein Essen? Wieder betrachtete er das andere Handy. Was enthielt es, was hatte es zu bedeuten? Wem gehörte es? Liam Roth? Könnte Petra ihm ein Telefon ausgehändigt haben, das gar nicht seines war, während vielmehr Eric seines gehabt und es tatsächlich doch untergeschoben beziehungsweise so gut er konnte loszuwerden versucht hatte? Diese verflixten Geräte sahen sich alle so ähnlich, und früher oder später sprang doch bei jedem das Display.
Auch das Notizbuch zu entziffern, würde Zeit kosten, aber die hatte er ja jetzt, also begann er, es durchzublättern. Über die verschiedenen gebrauchten Sprachen hinaus war Roths Handschrift winzig. Als ihm klar wurde, dass die Hotelküche anscheinend die vollen dreißig Minuten beanspruchen würde, um seine Bestellung zu »liefern«, fing Ben mit der ersten Seite an, die zwar eng, aber halbwegs lesbar beschrieben war.
Der Text handelte von einer abgelegenen Bergkette, dazu einem verschneiten Pfad im Schutz riesiger Kiefern. Der Pfad schlängelte sich sanft einen schweigenden Berg empor. Das Ganze war gut geschildert, musste Ben zugeben. Ein Gebäude kam in Sicht. Es war ein eindrucksvolles Bauwerk mit alten und modernen Teilen. Während der Erzähler – berichtet wurde in der Ich-Form – sich dem Gebäude näherte, traten weitere Einzelheiten hervor wie der Umstand, dass es sich tatsächlich um ein Hotel handelte, das einen Außenpool hatte, der vor sich hin dampfte. Es gab in nur rund zweihundert Meter entfernt einen Skilift.
Mein Gott, dachte Ben beim Weiterlesen in Liam Roths Notizbuch, selbst die Tiefgarage war im Einzelnen aufgeführt und wie man eine Rampe hinunterfuhr, die Taste der Gegensprechanlage drückte, seinen Namen nannte und sich das Rolltor aus Metall langsam hob.
Der Erzähler – Liam Roth selbst? – war nicht allein. Begleitet wurde er von jemandem namens Simone. Simone! Das Auto wurde in einer entfernten Ecke der Tiefgarage eingeparkt. Ehe sie aber ausstiegen, lehnte sich der Mann, der Ich-Erzähler – der dennoch namenlos blieb – zur Seite und küsste Simone leidenschaftlich auf die Lippen. Als sie sich voneinander lösten, sagte er:
»Sei dies ein Neuanfang. Wir haben ihn uns verdient. Ich liebe dich.«
»Meinst du das ernst?«
»Von ganzem Herzen.«
»Ich liebe dich auch«, sagte sie.
»Meinst du das ernst?«, fragte ich.
»Von ganzem Herzen«, erwiderte sie lachend. »Aber diesmal gehst du besser nicht fremd. Es ist deine letzte Chance.«
Die Geschichte fuhr damit fort, ihr wunderschönes Lächeln zu beschreiben und wie sie aus dem Wagen stiegen, nach ihren Taschen griffen, wobei der Mann beklagte, die Taschen zum Empfang tragen zu müssen. Ein triftiger Einwand.
Im Hotel dann setzten sie ihre Unterhaltung auf dem Weg zum Empfang fort.
»Genauso könnte ich davon sprechen, dass es deine letzte Chance ist«, sagte ich. »Du siehst, wir unterscheiden uns nicht sehr.«
»O doch, und wie«, sagte sie. »Du weißt gar nichts über mich.«
»Was meinst du damit? Ich kenne dich lange genug. Ich weiß alles über dich. Kenne jede herrliche Kurve deines wunderbaren Körpers. Wie diese Berge könnte ich dich aus dem Gedächtnis kartieren.«
Ben hielt das für eine gute Zeile. Er wäre stolz gewesen, hätte er sich etwas so Bündiges einfallen lassen, das noch ungewöhnlich und intim war. Ihm war die Geschichte einen Hauch zu gefühlig, ein wenig klischiert erschienen. Doch Ben wurde hineingezogen, auch wenn es sich offensichtlich um keine Krimi-Erzählung handelte, Bens Lieblingsstoff.
»Sobald wir auf unserem Zimmer sind, wirst du dein Gedächtnis nicht mehr brauchen, sagte sie, als ich an den Tresen trat.«
Nun kam ein Zeilenumbruch, bevor sich die winzige, kringelige Handschrift fortsetzte.
»Ben«, sagte sie, »warum hast du mich wirklich hierher gebracht?«
Ben? Der Erzähler dieser Geschichte hieß Ben? Sein Herz machte einen Satz. Dann wurde ihm übel. Das war gar nicht komisch. Merkwürdig genug, dass Liam Roths Notizbuch anscheinend den Anfang einer Erzählung enthielt, eines Romans vielleicht statt Einträge im Rahmen irgendeiner verdeckten Ermittlung. Dann aber noch feststellen zu müssen, dass der Erzähler denselben Namen wie er trug, war zu viel!
Schön, Ben war als Name geläufig genug im germanischen Sprachraum. Einmal hatte er ihn nachgeschlagen und erfahren, dass Ben in der Tat der häufigste männliche Vorname über mehrere Grenzen und Sprachen hinweg in Europa war.
Weiteres Durchblättern des Büchleins ergab, dass sich die Geschichte noch über reichlich Seiten mehr erstreckte. Und dies war nur der Anfang eines ersten Entwurfs? Dann kam eine viele leere Seiten starke Lücke, bevor die Mitte des Notizbuchs wieder gefüllt war, doch der Stil der Aufzeichnungen änderte sich.
Diese Seiten erkannte Ben als jene, die ihm bei seiner ersten raschen Durchsicht des Notizbuchs unten auf dem Parkdeck vor Augen gekommen waren. Es gab viele Zeilenumbrüche und ein paar Kritzeleien, Telefonnummern, E-Mail-Adressen und eine ganze Reihe multinationaler Namen. Das Notizbuch war noch recht neuwertig und sah nicht so aus, als habe Liam Roth es seit Längerem in Gebrauch gehabt. Ein schneller Arbeiter, kein Zweifel.
Nur ergaben die Einträge wenig Sinn, auch deswegen, weil Ben immer wieder an die in knappem, fesselndem Deutsch gehaltene Geschichte um »Ben« und Simone zurückdachte. War Liam Roth ebenso Romanschriftsteller wie erfolgreicher Investigativreporter? Hatte er sich des Hotel G als Schauplatz bedient?
Google wusste nichts über Liam Roth als Romanautor. Er könnte allerdings, erwog Ben, unter einem Künstlernamen gearbeitet und mit seiner wahren Identität hinterm Berg gehalten haben. David Slavitt war Bens Pseudonym, keine Frage – der Name, den er eines Tages gern gedruckt sähe. David Slavitt, Autor von Krimibestsellern. Außerdem war es der Name, den er als Hotelinspektor benutzt hatte, als die Hideaway-Prüfer noch allesamt unter falschem Namen reisten. Vielleicht vermisste er ja diesen Kniff.
Ein lautes Klopfen an der Zimmertür holte ihn in die zusehends beklemmende und sehr verwirrende Gegenwart zurück. »Zimmerservice«, ertönte eine weibliche Stimme vom Flur.
Als er die Tür öffnete, erkannte Ben sofort die Kellnerin wieder. »Heute findet wohl keine geschäftliche Tagung statt?«
»Das ist richtig, Sir. Hatten Sie Gelegenheit, sich die Sitzungsräume anzusehen?« Sie hatte ihn ebenfalls sofort wiedererkannt.
»Noch nicht«, sagte Ben. »Einige andere, wichtigere Dinge sind unterdessen vorgefallen.« Sein Blick suchte um ihre Bestätigung nach.
Sie behielt die Augen fest auf das Tablett in ihren Händen geheftet, sehr professionell. »Ihr Zimmerservice, Sir. Wo hätten Sie gern, dass ich es abstelle?«
Das wird noch interessant werden, dachte Ben, als er in sein Zimmer voranging. »Wo es am besten hinpasst«, sagte er hoffnungsvoll.
Es gelang ihr, das Tablett an die Kante des Schreibbords zu legen und zugleich eine seitliche Verlängerung herauszuziehen, die ihm verborgen geblieben war. Zügig machte sie sich daran, auf einem frischen Tischtuch für ihn zu decken, und ordnete dann die Schalen mit Speisen griffbereit für ihn an. Dann zog sie den Stopfen aus der kleinen Weinkaraffe. »Darf ich Ihnen ein Glas einschenken?«
»Bitte sehr.«
Auch das erfolgte untadelig. Anschließend nahm sie die Deckel von seinen Speisen und setzte den herrlichen Duft der Butter aus Heufütterung an seinem rohen Rindfleisch frei. Vielleicht war es auch das Bergfeuer und hochwertige Fett zur Zubereitung seiner Portion Pommes frites. Betrüblicherweise sah die Portion sehr nach Beilage und als solche noch klein geraten aus. Er konnte es kaum abwarten, Platz zu nehmen, während es die Kellnerin kaum abwarten konnte fortzukommen.
Er konnte ihr gerade noch einen Zehneuroschein reichen, bevor sie davonhuschte. »Mein Handy habe ich übrigens wiederbekommen.«
Sie schaute ratlos drein.
»Hatte es im Flur vor den Sitzungsräumen verloren. Es muss mir bei unserer Plauderei aus der Tasche gefallen sein. Ist in der Küche aufgetaucht, in einem Mülleimer.« Es sei denn, dachte Ben auf einmal, seines war dasjenige gewesen, das Eric ihm unterzuschieben versucht hatte. »Sie werden es wohl nicht gesehen und aufgehoben haben gestern nach unserer Unterhaltung, denn anders könnte ich mir nicht denken, was damit geschehen ist?«
Sie schüttelte den Kopf und machte sich schleunig von dannen. Plötzlich blieb sie stehen, drehte sich um und kehrte zu ihm zurück. »Aber es wurde noch ein Handy vermisst«, sagte sie. »Eine Frau, ein Gast, hatte tags zuvor auch ihr Telefon verloren. Es tut mir leid, ich habe gedacht, es gehöre ihr. Ich habe es zu ihrem Zimmer gebracht, aber sie war schon abgereist, also ging ich zum Büro der Security. Da war dann aber keiner, und weil ich so viel zu tun hatte, muss ich es in die Küche mitgenommen und dort liegen lassen haben.«
»Hätten Sie es nicht zum Empfang bringen müssen?« Wieder schwirrte Ben der Kopf. Zwei abhandengekommene Handys?
»Da müssen sie mit den Gästen beschäftigt gewesen sein. Uns ist untersagt, sich an die Kollegen vom Empfang zu wenden, wenn Gäste da sind. Gäste haben immer Vorrang.«
»Das verstehe ich.« Wusste sie, dass er Hotelinspektor war? Hatte Petra Bauer darüber etwas verlauten lassen? Eric? Womöglich wussten schon alle Bescheid. »Aber war Ihnen nicht bewusst, dass noch jemand, dass auch ich mein Handy vermisst habe?«
»Ich kann mich nicht erinnern, etwas in der Art gehört zu haben, sorry. Aber ich bin auch nicht ständig im Dienst, obwohl wir viel zu tun haben. Mir steht Zeit für mich im Angestelltentrakt zu. Wie allen Mitarbeitern. Das ist wichtig für unser Wohlbefinden.«
»Schön.« Ben leuchtete ein, dass es sich so hatte abspielen können bei der planlosen Weise, mit der das Hotel geführt wurde. Trotzdem entschuldigte es nicht ganz ihren eindeutigen Versuch gestern im Korridor, ihn von den Tagungsräumen fernzuhalten und aus dem Bereich zu vertreiben – sicherlich ehe er irgendwas auf seinem Handy hätte aufzeichnen können. Es sei denn, es ging ihr dabei wirklich um ein ungestörtes Treffen der VIPs. Emily Muller hatte angesprochen, dass solche Entwicklungsvorhaben größter Verschwiegenheit unterliegen konnten, bis alle Bausteine ein Ganzes ergaben.
Das würde mehr als gereicht haben, um jeden an ihrer Stelle nervös zu machen. Er könnte die Situation durchaus falsch gedeutet haben. Bislang hatte er so ziemlich alles falsch gedeutet. Bloß wessen Handy genau war im Küchenabfall gefunden worden, und wie war Eric zu dem anderen Apparat gekommen?
»Wer war dieser Gast, die Frau, die auch ihr Handy verloren hatte?«, fragte er.
»Das darf ich Ihnen wegen der Diskretion nicht sagen, fürchte ich.«
»Aber sie war ausgezogen, bevor Sie das Telefon zu ihrem Zimmer brachten?«
»Ja, darum nahm ich es wieder mit.«
»Welches Zimmer hatte sie?«
Sie versuchte, an Ben vorbeizuschauen. »Sie wohnte auf dieser Etage, auf diesem Flur. Gleich da drüben.« Sie zeigte auf eine Tür ein paar Zimmer weiter gegenüber.
»Zimmer 22?«, fragte Ben.
Sie nickte. »Ja, das stimmt, jetzt fällt’s mir wieder ein.«
»Aber ein Mann bewohnte das Zimmer«, sagte Ben. »Allein.«
»Davon weiß ich nichts. Da müssten Sie mit dem Empfang reden. Mir sagte sie, sie logiere in Zimmer 22.«