Mittwoch, 18:15 Uhr

Das Essen stand da, sah köstlich aus und duftete herrlich. Da waren die kleine Karaffe Rotwein und ein bereits stilvoll mäßig eingeschenktes Glas. Alles war tadellos dargereicht. Es würde warten müssen.

Die Rezeption schaltete auf Warteschleife, während man ihn mit Eric Langeskov verbinden wollte. »Bedaure sehr, aber ich kann ihn gerade nicht erreichen«, hieß es dann.

»Nein, natürlich können Sie das nicht«, gab Ben zornig zurück, ehe er sich auf seine Manieren besann. Es war nicht die Schuld des Empfangs. »Keine Ursache, ich will mal sehen, ob ich ihn irgendwo finde.« Er legte den abstrus gestylten Hörer auf, warf noch einen schmachtenden Blick auf sein Essen, bevor er sein Telefon, seine Alltagsjacke und seine Zimmerkarte einsammelte. Dann hastete Ben aus dem Standard-Deluxe, den Flur und zwei Treppenläufe hinunter, bis er vorm Empfangstresen stand.

Nur Isabella Ferrari schien im Dienst zu sein und das derzeit unbeschäftigt. Zu Bens Freude war von Daniel Farke nichts zu sehen. Ungeachtet dessen fuhr Isabella merklich zusammen, als sie ihn bemerkte. Da war kein Hauch mehr von Flirtlaune.

»Keine Sorge«, sagte er im Näherkommen. »Ich beiße nicht.«

»Mr Martin, was kann ich nun für Sie tun?«

»Es geht um Eric Langeskov, den ich dringend noch mal sprechen muss.«

»Hat mir mein Kollege mitgeteilt. Für Sie wurde eben nach ihm geläutet. Noch mehr Probleme?«

»Dieselben, nur verschlimmern sie sich.«

»Ich will versuchen, Mr Langeskov für Sie ausfindig zu chen«, sagte sie, tat einen Schritt zurück und nahm einen Hörer in die Hand. Sie wartete nicht allzu lange ab, ehe sie wieder auflegte. »Tut mir leid, aber ich kann ihn auch nicht erreichen.«

»Vielleicht können Sie mir dann helfen. Ich habe etwas gefunden, das einer Frau gehört, die Anfang der Woche hier war.«

»Ja?«

»Sie hatte Zimmer 22

»Aber Sie haben sich schon mal nach diesem Zimmer erkundigt. Wegen dem Spind – einem Mann, der es hatte?«

»Ich denke mir, dass sie es sich geteilt haben, zumindest zeitweise.« Es war keine höhere Mathematik – ein romantisches Hotel, zwei Leute, die nach einigen Irrungen und Wirrungen wieder zusammenkamen. »Ich weiß, Sie werden gleich sagen, dass Sie mir ihren Namen nicht nennen können. Trotzdem, bitte, was steht in Ihren Unterlagen? Sollten Sie es nicht schon wissen, ich bin Hotelinspektor für Hideaway. Ich gebe mir gerade alle Mühe, um hier vor Ort ein paar Fakten zu ermitteln und sicherzustellen, dass nicht noch jemand unzeitig zu Tode kommt – wenigstens die nächsten paar Stunden lang, bis es die Polizei hierher schafft.«

Falls das Gehörte sie bestürzte oder überraschte, war es ihr nicht anzumerken. »So etwas habe ich nicht offenzulegen oder zu entscheiden, wer Sie auch immer zu sein angeben«, sagte sie ruhig und warf einen Blick über ihre Schulter, vielleicht um zu sehen, ob sich Daniel Farke an sie herangeschlichen hatte.

»Erinnern Sie sich an sie? Könnte doch sein, dass die beiden von Ihnen eingecheckt wurden. Der Mann hieß Liam Roth. Bitte schauen Sie in Ihrem System nach, während wir auf Eric Langeskov warten.«

Ihr Auge fiel erneut auf den Bildschirm, und eine Weile scrollte sie durch Datensätze. »Ja, seinen Namen habe ich hier. Das Zimmer war auf ihn gebucht.«

»Bitte, sagen Sie mir wenigstens, ob mit Einzel- oder Doppelbelegung.«

»Es ist ein Standard-Deluxe wie Ihres. Nur sein Name wird angezeigt. Da steht nicht, ob er jemanden bei sich hatte. Das ist nicht immer nötig, und manchmal ändern die Leute ihre Absichten. Wir halten nur die Einzelheiten fest, die wir brauchen. Das G bietet keine Halbpension an. Bedienung durch die Restaurants und Bars wird auf das Zimmer angeschrieben. Sollte es irgendeine Frage geben, muss nur die Schlüsselkarte gezeigt werden. Für ein Zimmer werden mindestens zwei Schlüsselkarten ausgegeben, auch bei Einzelbelegung. Darum ist es nicht immer notwendig, mehr als einen Namen pro Zimmer zu kennen. Paare reisen häufig unter einem Namen, ob verheiratet oder nicht. Und zusammen ankommen oder abreisen tun sie auch nicht immer. Bei einem Hotel wie dem G ist das normal. Diskretion wird von allen vorausgesetzt.«

»Transparenz seitens der Direktion wird von mir vorausgesetzt«, sagte Ben. »Wie steht es zum Beispiel mit der Nutzung des Spas? Welcher Ausweis ist da vorzuzeigen?«

»Sie müssen den Spa-Bediensteten Ihre Zimmernummer nennen und Schlüsselkarte zeigen, falls danach gefragt wird. Aber unser Hotel setzt auf Vertrauen. Wir haben hier keine unbefugten Gäste. Das Wort ist doch richtig, ja?«

Ben nickte und dachte an Bernard. »Selbst wenn die Pistenwarte nicht nach Hause können?«

Sie überhörte die Frage. »Skispinde sind gleichfalls dem jeweiligen Zimmer zugeordnet.«

Nichts von der Skiausrüstung und Bekleidung in Spind Nummer 22 hatte auf eine Frau hingedeutet. Aber die Unterwäsche in der Tasche im Auto? Alles schien hastig zusammengerafft und eingepackt worden zu sein. »Und das gilt ebenso für die Tiefgarage – nicht wahr? Parkplätze werden den gebuchten Zimmern im Voraus zugewiesen, ungeachtet der Zahl der Gäste auf einem Zimmer oder etwa auch eines bestimmten Autos.«

»Das ist richtig.«

»Haben Sie irgendeine Erinnerung daran, ob Liam Roth begleitet wurde – von einer Frau?«

Sie schüttelte den Kopf. »Da kann ich mich leider nicht entsinnen. Ich wüsste wohl nicht mal, wie dieser Mr Roth aussieht.«

»Aussah«, sagte Ben und machte sich bereit, ihr ein Foto zu zeigen. Die Sorge des Hotels um die Privatsphäre seiner Gäste schmeckte allmählich – etwaige örtliche Vorschriften oder Gepflogenheiten des Gewerbes außen vor gelassen – übel nach Fahrlässigkeit. Hatte man in diesem Haus überhaupt eine Ahnung, wer sich eigentlich zu irgendeinem Zeitpunkt hier aufhielt? Ein gefundenes Fressen für die Polizei – wäre sie nur schon da.

»Mr Martin«, tönte eine gepresste Männerstimme hinter ihm. Eric Langeskov war am Empfangstresen eingetroffen. »Ob wir ins Büro gehen sollten?«

»Ja«, sagte Ben. »Es hat sich was getan.«

»Ich habe auch Neuigkeiten.«

Ben folgte Eric durch die Halle und einen Gang hinunter, den er zuvor kaum wahrgenommen hatte. Er war schmaler und trüber beleuchtet als die stärker von Gästen frequentierten Flure. Es gab kein natürliches Licht.

»Ich benutze das Büro des Generaldirektors«, sagte Eric, als er die Tür zu einem kleinen Raum öffnete.

Das Büro hatte allerdings ein Fenster, das auf den linken Rand der sich zügig verdüsternden Bergflanke ging. Kein Schnee wurde gegen die Scheibe geblasen. »Es hat etwas aufgeklart«, sagte Ben.

»Ja«, antwortete Eric.

»Wann kann die Polizei wohl zu uns durchkommen?«

»Das dauert noch eine ganze Weile«, sagte er hastig. »Die Straße muss geräumt werden, und jetzt ist es dunkel. Morgen vielleicht, falls sich das Wetter nicht wieder verschlechtert?«

Ben hatte stark den Eindruck, Eric wollte gar nicht, dass die Behörden sich der Sache annahmen. »Was haben Sie für Neuigkeiten?«

»Wir haben John Brenans Armbanduhr gefunden, die Patek Philippe.«

»Wo?«

»Sie war in seinem Zimmer, im Safe.«

»Sie können den Safe öffnen? Ich hielt das für unmöglich ohne die Hilfe der Installateure oder des Herstellers.« Seit Jahren war das ein heißes Eisen bei Hideaway – die Frage nämlich, wer genau Zugriff auf die Generalschlüssel und Zahlenkombinationen der Zimmersafes haben sollte. Marc Hoffman hatte sich immer sehr deutlich dagegen ausgesprochen, den Hotels diesen Zugriff zu erlauben. Mindestens eine Stufe müsse dem unmittelbaren Zugriff vorausgehen. Vorläufig blieb die Regelung den einzelnen Hotels überlassen, wenngleich Einvernehmen über den erforderlichen Abstand erzielt worden war. Offenbar dachte das G anders darüber.

»Zugriff auf die Kombinationen haben natürlich ausschließlich der Sicherheitschef und der Generaldirektor oder gegebenenfalls ihre Stellvertreter.«

Wirkte Eric etwa ein kleines bisschen selbstgefällig im Büro des Generaldirektors? Gleichzeitig machte sich Ben klar, dass Eric mangels anderer unmittelbarer oder ersichtlicher Securitybediensteter ebenso stellvertretender Sicherheitschef war. Diesen Gesichtspunkt würde Ben in jedweder Berichtsform, die er letztlich wählen sollte, unbedingt herausstellen. »Was haben Sie sonst noch im Safe oder in seinem Zimmer entdeckt?«

»Dass John Brenan ernste Gesundheitsprobleme hatte. Wir fanden eine Anzahl Herz- und Blutdruckmedikamente in seinem Bad.«

Ben war nicht überrascht. »Ich dachte, medizinische Erkenntnisse seien streng vertraulich. Dürfen Sie mir so was verraten?«

Eric lächelte. »Er ist tot, womit sich Regeln und Gesetze über derlei Angelegenheiten wandeln. Außerdem dachte ich, Sie würden das wissen wollen.«

Ben wurde sich bewusst, dass solch eine einfache und natürliche Erklärung für John Brenans Tod nicht das war, was er hören wollte. Ein Herzinfarkt, Herzstillstand oder schwerer Schlaganfall, und dann schlicht ins Schwimmbecken kippen? Darauf hatte Eric stets hinausgewollt, nicht zuletzt weil es die Tätigkeit auf seinem derzeitigen Posten erheblich vereinfachen würde. Eine gewöhnliche Leichenschau könnte einen solchen Hergang bestätigen. Nur keine Antwort darauf geben, was John Brenan mitten in der Nacht unten am Pool zu suchen gehabt hatte.

»Mit ist schleierhaft, warum er seine Uhr nicht trug«, sagte Ben. »Warum sie zum Skifahren umlegen und vorm Gang zum Abendessen sicher wegschließen?«

»Ich kann unmöglich das Verhalten meiner Gäste erklären. Jeder hat ein Anrecht auf seine eigenen Schrullen.«

Ben nahm an, dass Eric die Wahrheit sagte und die Armbanduhr tatsächlich im Safe gefunden worden war. »Seine Freunde, seine Familie, sind sie endlich von seinem Tod in Kenntnis gesetzt worden?«

»Ich habe von der Botschaft gehört. Die benötigt allerdings entweder eine behördliche oder ärztliche Mitteilung, ehe sie sich an die Familie zu wenden bereit ist. Leuchtet mir ein.«

»Seine Freunde hier?«

»Da hatten wir mehr Glück. Wir haben jemanden aus seiner Gruppe ausfindig gemacht, und ich sprach selbst mit dem amerikanischen Gentleman. Er war gar nicht entsetzt. Vielmehr gab er zu verstehen, dass Mr Brenan nichts lieber gewesen wäre, als an dem einen Ort, den er wirklich gern hatte, und unter Freunden zu sterben. Sie sind jetzt alle in der Library Bar und trinken zum Gedenken auf ihn. Sie sind überraschend guter Dinge, als ob sie es für unausweichlich hielten.«

»Was hatte John Brenan unten am Pool zu dieser Nachtzeit verloren? Offensichtlich starb er nicht im Kreis seiner Freunde. Die lagen im Bett. Es sei denn, sie sagen Ihnen nicht alles.«

»Sie waren als Letzter bei ihm in der Bar«, sagte Eric. »Vielleicht würden Sie es mir gern sagen?«

»Aber ich war nicht als Einziger im Hotel wach. Da wären Bernard und allerhand Angestellte zu nennen.«

»Wozu sich in etwas vertiefen, das es gar nicht gibt, Mr Martin? Warum das Leben für Sie und andere unnütz verkomplizieren? Beizeiten werden die Polizei, die Ärzte, die Behörden genau feststellen, was geschehen ist. Fürs Erste haben wir alles getan, was wir können.«

Was für ein Blödsinn, dachte Ben, als ihn eine Welle aus Hunger und Durst überkam. Er seufzte. So schlecht mochte es ja nicht sein, an einem geliebten Ort zu verscheiden, nachdem man zuvor zumindest mehrere Tage nach Herzenslust mit den besten Kumpanen geschlemmt hatte. Nur wusste Ben keinen solchen Ort für sich zu benennen. So herrlich das Wetter auch an seinem ersten Morgen hier gewesen war, es war kein Teil von ihm, kein Stück seiner Seele. Wie viele Kumpels er zusammentrommeln könnte, war er sich auch nicht sicher. Da wäre Olly. Doug war nun tot. Emily, ja, sie war eine Freundin – mit gewissen Vorzügen. Die Leute, mit denen er wirklich gern am liebsten zusammen wäre, waren Natalie und Alex. War Alex wieder mit Gabby zusammen oder nicht? Konnte er sie trösten?

»Liam Roth ist hier nicht allein abgestiegen«, sagte Ben. »Eine Frau hat mit ihm das Zimmer geteilt.«

»Es lief auf seinen Namen«, sagte Eric abweisend. »Hab ich nachgeprüft. Wenn Gäste weitere Personen in ihren Zimmern beherbergen, ist das natürlich deren Sache. Alle unsere Zimmer sind mindestens auf Doppelbelegung zugeschnitten. Sie zahlen nicht mehr, ob nun eine oder zwei Personen übernachten, allerdings schon, wenn es drei oder vier sind. Wir haben Suiten mit angrenzenden Zimmern, aber diese Zimmer würden wiederum getrennt gebucht, bezahlt und abgerechnet werden. Häufig müssen wir bestimmte Zimmer und Suiten verbinden, insbesondere wenn Leute mit Assistenten oder Personenschutz absteigen. Wir sind immer sehr flexibel und können jeden Bedarf decken.«

»Außer bei diesen Familien mit Kindern?«

»So will es die Mehrheit unserer Gäste haben – nämlich keine um sich. Dies ist ein sehr romantisches Hotel.«

»Selbst wenn hochrangige Treffen stattfinden?«

Eric blickte Ben finster an.

»Dann bleiben wir bei der Romantik«, sagte Ben. »Liam Roth war nicht allein hier, nicht die ganze Zeit. Wir haben doch Damenwäsche in der Tasche in seinem Auto gefunden.«

»Ich denke großzügig darüber«, sagte Eric. »Das muss man in dieser Branche. Da kommt einem alles unter.«

»Wir arbeiten in derselben Branche, Eric. Ich weiß wohl, wovon Sie reden. Es hat jedoch eine Frau in Liam Roths Zimmer gewohnt, als er dort war. Wissen Sie, woher ich das weiß?«

»Ist das etwa noch so eines Ihrer«, er hielt inne und betrachtete durchs Fenster die Windstille, »Hirngespinste?«

Erzürnt, erschöpft und ausgehungert rief Ben: »Nein, zum Henker, ist es nicht.«

»Nun glaube ich aber, dass Sie sich bei John Brenan getäuscht haben«, sagte Eric selbstzufrieden.

Was trieb er für ein Spiel? »Wir werden ja sehen. Auf alle Fälle täusche ich mich nicht bei Liam Roth.« Ben zog sein frisch aufgeladenes Handy und zwar das richtige aus seiner Tasche und suchte rasch die Fotos vom Leichnam heraus. Dann hielt er Eric das Telefon vors Gesicht. »Sehen Sie. Da ist er. Mausetot.«

Eric wich zurück, als wollte er sich vor Ben wappnen. »Allzu lebendig sieht er nicht aus, muss ich zugeben.«

»Er war mit einer Frau hier.«

»Woher wissen Sie das mit Bestimmtheit?«

»Weil auch sie ihr Telefon eingebüßt hat.«

»Was? Gleich zwei Telefone verloren gegangen? Ihres und das dieser Frau?«

»Und davon wussten Sie nichts? Mit keinem der beiden Fälle hatten Sie irgendwas zu tun?«

Er schüttelte den Kopf, schien aber mit jedem Augenblick bleicher zu werden.

»Ich denke, doch.« Ben fing an, das Ganze zu durchschauen. »Lassen Sie mich erklären. Eine Ihrer Angestellten fand das Telefon dieser Frau. Pflichtschuldig wollte sie es zurückgeben, doch die Frau war inzwischen abgereist, worauf die Angestellte das Telefon in die Küche mitnahm. Dort war sie mit anderem beschäftigt und ließ das Telefon auf der Arbeitsfläche liegen. Ihre Kollegin fischte es dann irgendwann aus der Mülltonne und brachte es mir in der Annahme, es sei meines.«

»Davon weiß ich nichts. Jedenfalls ist das alles höchst regelwidrig.«

»Ja, so mag es erscheinen. Aber wenn Sie mich fragen, zeugt es davon, wie manche Belegschaftsangehörige den Gästen gefällig zu sein versuchen, ohne auf die törichten Vorschriften und Verfahren des Hotels hinsichtlich Diskretion zurückfallen zu müssen. Das ist keine Art, ein Hotel zu führen, was ich in meinem Bericht an Hideaway sehr deutlich machen werde und was dann zweifellos an die Direktionsspitze und Inhaber des Hotels weitergeleitet wird.«

»Aber Sie haben das Hotel nicht unter normalen Bedingungen erlebt«, sagte Eric leise, »oder sich unserer vielen wunderbaren Einrichtungen erfreut. Wie können Sie da irgendeinen Bericht erstellen?«

»Sehr einfach. Ich bringe ihn zu Papier. Oder vielmehr rufe ich die Formulare auf, hake die verschiedenen Kästchen ab und füge dann meine Schlussfolgerungen schwarz auf weiß hinzu.« Im neuen Format gab es zwar keinen Raum für Schlussfolgerungen mehr, aber das musste Eric nicht wissen.

»Wenn Sie einen so vernichtenden Bericht schreiben, schlägt sich das nicht auch auf Ihr Geschäft nieder und die Reservierungen über das Buchungssystem von Hideaway? Wer würde noch zu uns kommen wollen?«

»Wir haben viele wunderbare Hotels rund um die Welt. Diejenigen, die ordentlich funktionieren, sind alle auf ihre jeweilige Art hervorragend und genügen den höchsten Ansprüchen. Von ein oder zwei schwarzen Schafen sind wir nicht abhängig.«

Die alpine Nacht als frostiger Hintergrund, wich die Farbe aus Erics Gesicht. »Ich werde diese Unregelmäßigkeiten untersuchen. Sollten sich Angestellte ungebührlich verhalten haben, werden sie gemaßregelt.«

»Sie haben nur getan, was sie unter den gegebenen Umständen für das Beste hielten. Dafür belobige ich sie.«

»Wenn sie die Regeln brechen, werden sie bestraft.«

»Sie machen sich lächerlich. Das können Sie nicht tun – dafür werde ich sorgen. Dazu haben Sie keine Befugnis.«

»Sagt wer? Ich bin der Leiter.«

»Im Augenblick vielleicht, aber nicht mehr lange.«

»Für wen halten Sie sich mit Ihren lachhaften Geschichten über verloren gegangene Handys und eine rätselhafte Frau in Liam Roths Zimmer? Es gab keine solche Frau.«

»Wenn Sie das wirklich glauben, sind Sie sogar noch unfähiger, als ich dachte. Gehe ich etwa recht in der Annahme, Sie hatten so viel damit zu tun, einem Haufen VIPs und ihren Eine-Milliarde-Euro-Plänen nachzulaufen, um das eigentliche Geschäft außer Acht zu lassen? Nämlich sich um alle Gäste zu kümmern? Bei Hideaway ist jeder Gast gleich wichtig. Muss ich Sie daran erinnern?«

Ben ließ den Blick nach draußen schweifen. Äußerst schwaches Glimmen mochte noch auf den Gipfelkronen liegen. Ein Gott hingegen war nicht dort oben, das wusste er, nur der Teufel. Der Teufel hatte Liam Roth geholt, so wie er John Brenan geholt hatte. Es musste einen Grund gegeben haben, weshalb John Brenan mitten in der Nacht unten am Pool gewesen war und seine kostbare Armbanduhr nicht getragen hatte. Nahm er an, jemanden zu treffen? Jemanden, der es gern härter hatte? Jemanden, der gern gebändigt, gefesselt wurde? Ben fehlte der Glaube, dass Petra ihm womöglich im Verbund mit Bernard eine Falle gestellt haben könnte.

In Gedanken kehrte er zurück zur Stimmung rings um die Tagung und den Leibwächter, den er in der Empfangshalle gesehen hatte, die Schwergewichte aufwärts im Fahrstuhl und den einen, der ihm draußen im Schnee beim Range Rover einen vernichtenden Blick zugeworfen hatte. All das und nichts davon ergab einen Sinn. Er vermisste Zusammenhänge, einen Schlüssel zum Ganzen, und befürchtete zugleich, zu viel in die Dinge hineinzulesen und seiner Einbildungskraft freien Lauf zu lassen. Oder, wie Eric sich ausdrückte, von Hirngespinsten übermannt zu sein. Er brauchte einen klaren Kopf. Noch eine Welle aus Hunger und Durst, Durst nach fermentiertem Traubensaft, brach über ihn herein.

Eric war überraschend schweigsam geblieben. »Wir müssen uns immer noch die Überwachungsvideos ansehen«, rief Ben, um ihn zur Besinnung zu bringen.

»Ich sagte doch, dazu sind Sie nicht befugt«, entgegnete Eric. »Da gilt Zugriffsbeschränkung ausschließlich auf die obere Leitungsebene des Hotel G und zuständige Behörden mit entsprechender richterlicher Anordnung. Ihnen kann ich das unmöglich zeigen.«

Ben betrachtete seine alten Budapester und fragte sich, in wessen Schuhen er wirklich die ganzen Jahre lang gesteckt hatte. »O doch, das können Sie, sollten Sie je wieder im Gastgewerbe arbeiten wollen. Dies ist meine letzte Warnung an Ihre Adresse.«

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.« Eric stand auf, schob sich an Ben vorbei und lief aus dem kleinen Büro.