Auf dem Schreibtisch des Generaldirektors standen zwei schlanke Bildschirme. Die kabellose, minimalistische Bluetooth-Tastatur flehte nach einer Eingabe. Ben schlüpfte hinter die Tischplatte, pflanzte sich in den Designer-Bürostuhl mit dem Fenster zu seiner Rechten und der Tür vor ihm, und drückte eine Taste. Sofort kam Leben in den Bildschirm. Er lehnte sich zurück, fühlte sich straff gestützt vom wohlgefederten Hightech-Sitzpolster.
An der Wand zu seiner Linken hing eine Anzahl säuberlich gerahmter Fotografien und Auszeichnungen. Bei genauerem Hinsehen stellte Ben fest, dass das Hotel sämtliche gängigen großen Preise in Sachen Luxushotels und Gastgewerbe gewonnen hatte – alles von Condé Nast Traveller Readers’ Choice Hotel of the Year bis zum höchsten der Architectural Digest Great Design Hotel Awards.
Irgendwo weit hinten im Kopf musste Ben das gewusst haben. Nahezu alle Hideaway-Hotels waren Preisträger, wobei er sich immer gefragt hatte, wer eigentlich die Jury bildete. Wie viele Leser des Condé Nast Traveller (oder Traveler auf dem US-Markt) beteiligten sich tatsächlich? Ben überlegte sich einige weitere Auszeichnungen, die das G künftig noch einheimsen könnte: Höchste Todesrate des Jahres. Ausnahmslos laxeste Sicherheitsvorkehrungen. Dilettantischste Geschäftsführung des Jahrzehnts.
Als er das Büro erneut vom Schreibtisch des Generaldirektors aus überflog, kam Ben zum Schluss, dass er ungerecht war – Unfälle trugen sich unvermeidlich zu. Im Übrigen wusste er, dass es nicht einfach sein konnte, ein derartiges Haus für so viele hochanspruchsvolle Gäste wie auch allerhand Geldgeber und Interessenvertreter zu unterhalten.
Und dennoch: Während er sich der Bequemlichkeit des ergonomisch ausgefeilten Chefsessels im kleinen, aber eindrucksvollen Büro erfreute, versuchte Ben sich vorzustellen, dass er Generaldirektor solch eines Hotels wäre, dem eine solch große Belegschaft, solche Einrichtungen und die Annehmlichkeit und Sicherheit Hunderter Gäste unterstünden. Welche Gepflogenheiten und innovativen Vorgehensweisen würde er einführen?
Er hatte umgehend einige Einfälle. Als Erstes gälte es festzuhalten, wer genau hier abstieg, jeden in jedem Zimmer und nicht bloß den Namen unter einer Reservierung. Jede Schlüsselkarte würde an einen namentlich erfassten Gast ausgegeben werden. Jeder Gast würde sich ausweisen müssen, um eine Schlüsselkarte zu bekommen.
Doch das war ein simples, in der Branche weitgehend gebräuchliches Vorgehen. Außerordentlich war es, in diesen Zeiten dem G noch gestattet zu haben, auf andere Weise betrieben zu werden. Unterdessen wäre es nötig, die Speisekarten umzugestalten und zu verschlanken. Gästeverhalten, so merkwürdig und fordernd es sein mochte, hatte von einem aufrichtigen Lächeln begleitet zu werden – und nicht von einem Stoß in den Rücken, dass einer am Ende in den Pool fiel. Falls das der Fall gewesen war!
Während er kopfschüttelnd über die Verantwortung sinnierte, war sich Ben im Klaren, dass die obere Führungsebene nicht jedermanns Sache war. Ebenso wusste er, dass solche Ansätze erwägen das eine war, sie zu verwirklichen etwas ganz anderes. Den meisten Leuten waren Veränderungen zu- wider.
Ein paar Klopfer mehr auf den Bildschirm, und Ben hatte das Reservierungsmenü geöffnet. Wohl gar nicht mehr überraschend fehlte es an zusätzlichen Sicherheitshürden. Er brauchte einige Augenblicke, um in den Daten und einzelnen Reservierungen zurückzugehen, stieß aber schnell auf John Brenans Namen. Wie Eric gesagt hatte, gab es keinen Aufschluss über die anderen in seiner Gruppe oder mit wem er noch auf Reisen war; sein Zimmer aber war über sein Büro gebucht worden. Eine E-Mail-Adresse von Brenan and Brenan wurde angegeben. Geschäft und Vergnügen? Brenan zufolge lag ja beides nie sehr weit voneinander entfernt.
Wieso hatte Eric nicht auf diesem Weg versucht, John Brenans Familie und Freunde zu ermitteln? Weil er unfähig war, derart schlechte Nachrichten zu überbringen und sich an die Wahrheit zu halten?
Neuerliches Scrollen führte zu Liam Roths Namen. Auch seine Buchung lief interessanterweise über eine geschäftliche E-Mail-Adresse, und zwar jene, die sich als Kontaktanschrift auf seiner Website fand. Auch wenn die Reservierung eines Standard-Deluxe auf Liam Roth lief, schloss der Mailverkehr stets mit Simones Namen. Hatte sie das Zimmer für Liam gebucht, weil es ein Arbeitsaufenthalt war?
»Was machen Sie da hinter meinem Schreibtisch?«
»Ich hielt ihn nicht für Ihren Schreibtisch«, sagte Ben. »Sondern für den des Generaldirektors, und der ist ja wohl noch im Krankenhaus. Im Übrigen glaubte ich nicht, dass Sie wiederkommen würden.« Ben wurde sich bewusst, damit gerechnet zu haben, dass Eric eine Fliege machen würde – nicht in der Lage wäre, sich den Tatsachen zu stellen. Es war nur eine Frage der Zeit.
»Ich musste mal austreten. Ich leide unter Magenbeschwerden«, sagte Eric. »Tut mir leid.« Er sah zugleich verlegen aus und unschlüssig, wo er stehen oder sitzen sollte. Viel Platz gab es abgesehen von einer schmalen Designersitzbank links von der Tür nicht.
»Übrigens liefert Ihr Buchungssystem einigen Aufschluss«, sagte Ben.
»Das dürften Sie sich gar nicht ansehen. Es werden vertrauliche Angaben dabei sein. Dazu sind Sie nicht befugt.«
»Ich glaube, größere Befugnis zu haben als Sie – sicherlich größere moralische Befugnis.« Ben machte sich nicht die Mühe, vom Bildschirm aufzublicken. »Wie ich übrigens sehe, hat das G unlängst einige außerordentliche Rabatte gewährt. Wer sind all diese Leute?« Ein paar der multinationalen Namen schienen ihm vertraut zu sein. »Kein solcher Rabatt hingegen für John Brenan oder Liam Roth.«
»Ich vermute mal, Sie spielen auf die Teilnehmer der Tagung an. Ja, natürlich bekommen sie Rabatt. Eine ganze Reihe darunter sind Geldgeber. Da ist es nur angemessen, Sonderkonditionen einzuräumen.«
»Im Verein mit Sondereinrichtungen und zusätzlichem Service?«, fragte Ben.
»Na schön, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich kenne doch den Namen derjenigen, die hier mit Liam Roth abgestiegen sein könnte«, sagte Eric rasch, als müsse er dringend vom Thema der Sonderkonditionen für die Geldgeber abrücken. »Derjenigen, die ihr Telefon verloren haben könnte.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Ben. »Simone?«
»Woher wussten Sie das?«
»Ich habe sie gesprochen. Anscheinend arbeitet sie für Liam Roth oder die Agentur, die ihn vertritt. Ihr Name taucht sogar als Kontakt in seiner Buchung auf.« Ben zeigte auf den Bildschirm. »Haben Sie sich das je im Einzelnen angesehen?«
»Für die Reservierungen bin ich nicht zuständig. Dafür trage ich keine Verantwortung.«
»Nur stellt das Hotel als Ganzes Ihre derzeit vornehmste Verantwortung dar«, rief Ben dem Duty Manager ins Gedächtnis.
»Aber das Zimmer lief auf Liam Roth, das weiß ich bestimmt. Das habe ich vorhin nachgesehen.«
»Ja, ich weiß«, sagte Ben. »Aber sie scheint auch hier gewesen zu sein.«
»Das wissen wir nur wegen ihres verlorenen Handys und der Angestellten, die es ihr zurückbringen wollte.«
»Warum fragen Sie sie nicht? Sie haben ihre E-Mail-Adresse. Sie ist erreichbar. Die Polizei wird sie unschwer ausfindig machen können. Aber das wissen Sie alles, glaube ich. Als Ihr abgefeimter Plan nach hinten losging, nämlich mir das Verschwinden von Liam Roth anzuhängen, indem Sie in seinem Auto deponierten, was Sie für mein Handy hielten, waren Sie unfähig zurückzurudern.«
»Das ist alles Unsinn, noch mehr Einbildung«, sagte Eric, doch es klang matt. Er verlor gerade den Kampf.
»Sie sind zu weit auf dem Weg ohne Wiederkehr gegangen. Ich bin überzeugt, dass Sie wissen, was Liam Roth zugestoßen und wo seine Leiche jetzt ist.« Ben warf einen Blick nach draußen ins endlose Dunkel. Er hatte das Gefühl, es würde eine weitere lange, schlaflose Nacht werden.
Eric blieb schweigsam und reglos. Ben hielt es für notwendig, die Stille zu durchbrechen. »Ich stelle erfreut fest, dass die meisten Angestellten hier gewissenhaft, zielstrebig und rücksichtsvoll sind.« Er setzte sich im Sessel des Generaldirektors aufrecht hin und fuhr fort: »Ich wollte, dasselbe ließe sich auch über Sie sagen. Sie haben Ihre Karriere verspielt und ziemlich wahrscheinlich auch Ihre Freiheit.«
»Ich habe etwas zu gestehen.« Eric fand nur mit Mühe seine Stimme.
»Ja?«
»Es tut mir leid.« Darauf legte er den Kopf in beide Hände und sackte regelrecht vor Ben zusammen. »Ich stand unter großem Druck. Ich wusste gestern nicht, wer Sie wirklich waren.«
Ben nickte, auch wenn er sich unsicher war, ob er selber noch wusste, wer er wirklich war. Er wollte hier nicht sein, hinter dem Schreibtisch des Generaldirektors sitzen und dessen Rolle einnehmen. Er wollte auf einem bequemen Sofa eingerollt eine gute Geschichte lesen – die von Liam Roth würde sich anbieten. Ja, sie wollte er wieder aufnehmen, konnte es kaum abwarten. Fiktion war so viel unterhaltsamer und sicherer als Fakten. Vorausgesetzt, es handelte sich um Fiktion.
»Bei dieser Sondersitzung im G musste alles vollkommen rund laufen. Selbst mit dem Wetter waren wir gesegnet – eine kurze Weile lang.«
»Was haben Sie zu gestehen?«
»Ja, vielleicht habe ich mich mit den Handys in was reingeritten. Den Kopf verloren.« Erics Schultern bebten. Würde er gleich losschluchzen?
»Wie, wann?«
»Bitte glauben Sie mir – es ist die Wahrheit. Ich fand Ihr Telefon, das ich für Ihr Telefon hielt, in meiner Anzugtasche. Jemand muss es hineingeschoben haben. Ich weiß nicht, warum oder wann genau. Ein Belegschaftsmitglied vielleicht, das es zu lange behalten hatte? Ich wollte es Ihnen zurückgeben, aber als ich an Ihrem Zimmer eintraf, standen Sie im Flur und sagten, Sie hätten soeben Ihr Handy wiederbekommen. Die Sache ist die, dass auch Petra Bauer nicht zu trauen ist. Wir hatten früher schon Ärger mit ihr. Ihr Verhältnis mit Bernard ist das eine, aber sie macht auch gern auf allzu gut Freund mit den Gästen – Gästen, von denen sie sich einen Vorteil verspricht.«
»Sie nahmen mich geradewegs mit hinunter, um sich Liam Roths Auto anzusehen«, sagte Ben. »Waren Sie bereits an dem Wagen gewesen?«
»Ich war im Parkhaus nachsehen, ob das Auto da war, dann kam ich Sie holen.«
»Mit meinem Handy in Ihrer Tasche? Oder hatten Sie es da schon im Auto gelassen? Auf jeden Fall täuschten Sie vor, ein Telefon in dem Auto zu finden. Wodurch jedoch das andere Telefon, das tatsächlich Simone gehörte, wenngleich ich es für meines hielt, weitere Verwirrung stiftete.«
»Ich wusste nicht, dass ihr Telefon vermisst wurde. Ich wusste nicht mal, dass sie im Hotel übernachtet hat.«
»Das nun glaube ich nicht. Sollte es aber der Fall sein, haben Sie Ihre Arbeit nicht richtig getan – erledigt sind Sie also auf alle Fälle.« Bens Gedanken drehten sich ihrerseits im Kreis. Konnte er sicher sein, wessen Telefon Petra ihm überreicht und wessen Telefon Eric ihm unterzuschieben versucht hatte? Ben war sich unschlüssig, ob es einen großen Unterschied ausmachte. Die Absicht lag klar zutage, wenngleich noch nicht, wie Eric an eines der beiden Handys gekommen war.
Noch immer zeigte der Bildschirm eine große Tabelle mit Reservierungen: Namen, Daten, Preise, Anschriften. Lauter höchst vertrauliche Daten, aber hier offen vor Ben ausgebreitet, der irgendwer hätte sein können. Nie zuvor waren ihm derart widersprüchliche Regeln und Praktiken begegnet. Oder ein dermaßen unfähiger und korrupter Manager. Beinahe tat ihm Eric leid. Selbst ein erfolgreicher Gauner musste sich allen voran geschickt und gewieft anstellen.
»Aber warum haben Sie versucht, mir den Tod Liam Roths und das Verschwinden seiner Leiche anzuhängen?«, fragte Ben. Das war der Schlüssel, der Kern des Ganzen.
»Ich hatte nichts mit seinem Tod zu tun.«
»Doch Sie haben seine Leiche beseitigt?« Jetzt hatte Ben das Gefühl voranzukommen. Er konnte es an der elenden, eingefallenen Gestalt des Dänen ablesen.
»Sie müssen verstehen, dass hier einige sehr wichtige Leute waren, bei all dem Geld, um das es geht. Ich stand unter großem Druck, alles perfekt hinzubekommen.«
»Perfektion gibt es nirgends, nicht mal in einem Hideaway.«
»Etwas ist passiert, dann kamen mir andere Dinge in die Quere, und der Schlamassel musste behoben werden.«
Ein neuerlicher Blick auf Eric ließ Ben an eine Lawine denken, nachdem sich der Tsunami aus Schnee gesetzt und ein dreckiges Gemenge aus Eis, Gestein und Trümmern zurückgelassen hat mit ein, zwei Leichen zuunterst. Noch einen Tag zuvor hatte er versucht, die sonnenüberfluteten Pisten und echte Grundzüge eines ehrlichen Skandinaviers zu sehen, doch es war immer das Darunter, worauf es ankam.
»Nur warf der Versuch, mir was anzuhängen, einen ganzen Haufen neuer Probleme auf«, sagte Ben.
»Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nichts anhängen. Ich wollte nur helfen – dem Hotel, den Investoren, allen, bis ich in Panik geriet.«
»Also, wo ist sie – Liam Roths Leiche?«
»Ich habe nie anderes gewollt, als die Dinge zu verbessern, das müssen Sie mir glauben.«
»Warum, warum zur Hölle sollte ich? Kein einziges Wort kann ich Ihnen glauben.« Irgendwo klingelte ein Telefon. Einige Augenblicke später erst wurde Ben gewahr, woher das Klingeln und die schwachen Vibrationen drangen – aus seiner Hosentasche. Er zog sein iPhone hervor, seufzte, als er sah, wer es war, seufzte wieder eingedenk des Durcheinanders um all die Telefone. Teils Zufall, teils dunkle Machenschaft. Fast als würde ihm ein Schatten der wirklichen Vorgänge überallhin folgen. Ein flüchtiger Blick auf den gebrochenen stellvertretenden Generaldirektor und stellvertretenden Sicherheitschef machte Ben deutlich, dass er den Anruf dennoch besser annehmen sollte.
»Marc«, sagte er. »Sie haben was Neues? Ich habe Emily gesprochen.«
»Mehr eine Vorwarnung. Sie hat Ihnen vielleicht nicht alles erzählt – immerhin sind einige darunter mit ihr befreundet –, aber es gibt da ein paar sehr aggressive Stakeholder, sagen wir es mal so. Diese Leute bekommen gewöhnlich, was sie haben wollen, und sind nicht eben zimperlich bei der Wahl ihrer Mittel.«
»Würden sie frohgemut einen Mord begehen und ordentlich zahlen, um ihn vertuschen zu lassen?« Ben wusste, dass Eric zuhörte. Eben deswegen hatte er es gesagt.
»Aber hallo. Weshalb Sie sehr vorsichtig sein müssen und umso mehr, sollten noch welche davon in der Nähe sein. Die mögen keine Investigativreporter und vermutlich Hotelinspektoren auch nicht sehr. Ganz sicher nicht die von der redlichen Sorte.«
»Danke für die Blumen.«
»Da nicht für. Sie bleiben noch mindesten einen Tag länger?«
»Ja, schätze schon.«
»Von Hideaway könnte Verstärkung anrücken.«
Marc beendete das Gespräch, ehe Ben Gelegenheit hatte zu fragen, wie er das meinte. Wobei er etwas ahnte.
Eric schaute drein, als sei er im Begriff aufzustehen. Ben war bei Weitem noch nicht fertig mit dem Mann. Egal was Marc über die zwielichtigen Stakeholder und Verstärkungen gesagt hatte, gab es bei dieser Situation, diesem Fall gewisse Umstände, die Ben noch aufklären musste.
Liam Roth zuckte ihm durch den Kopf, der warme Leichnam, auf den er gleich früh am gestrigen Morgen gestoßen war. Wovor war er davongerannt? Worauf war John Brenan zugerannt oder vielmehr zugegangen?
»Das war mein Sicherheitschef«, sagte Ben betont zu Eric. »Wir müssen uns diese Stakeholder ansehen und Ihre Verbindungen zu ihnen.«
»Den Aufwand kann ich Ihnen ersparen«, sagte Eric und kam langsam auf die Beine. Jetzt hatte er tatsächlich Tränen in den Augen. »Ich muss noch etwas gestehen.«
»Dann setzen Sie sich wieder«, sagte Ben ruhig, »und spucken es aus.«