»John Brenans Uhr«, sagte Eric und legte die Hände an den Kopf.
»Die Patek Philippe Nautilus«, erwiderte Ben, der nun behaglicher im Sessel des Generaldirektors saß, »ja?«
»Ich fand sie nicht im Safe. Mir war kein Zugriff auf den Safe möglich. Sie hatten recht, diese Befähigung haben wir nicht. Unser Sicherheitschef muss dem Hersteller einen Zahlenschlüssel nennen, und der gibt dann nach erfolgter Prüfung einen einmaligen Code frei. Jeder Safe hat zwei verschiedene. Einen Ursprungscode und die vom jeweiligen Gast eigens gebildete Kombination. Die Ursprungscodes kennen wir nicht.«
»So dachte ich mir das«, sagte Ben.
»Solange wir ohne Sicherheitschef dastehen, fehlen uns die Möglichkeiten. Wir wissen nicht, wo er seinen Zahlenschlüssel hinterlegt hat.«
»Dann hat er ihn mit ins Grab genommen?«
»Es scheint so. Wir stehen im Austausch mit dem Hersteller und treffen die nötigen Vereinbarungen für einen neuen Zahlenschlüssel, doch ohne den Generaldirektor ist es kein Leichtes, so was zu bewerkstelligen. Wir sind in der Schweiz. Es wird dauern.«
»Das ist ein Problem der Betriebsführung – geben Sie die Schuld nicht dem Staat.« Es genügte, um den Glauben an das Konzept an sich von Luxushotels und Edelresorts zu verlieren, was Ben im Grunde längst getan hatte, wurde er sich im Klaren.
»Und wo haben Sie jetzt seine Uhr gefunden?«, fragte Ben. Wozu brauchte irgendwer überhaupt einen Zeitmesser für fünfundzwanzigtausend Euro?
»Jemand aus der Belegschaft fand sie.«
»Wo?« Bei Betrachtung der Auszeichnungen und Preise, dann der stetig tiefschwärzeren Nacht hinter dem nackten Fenster begriff Ben, dass viel mehr nötig war als Hightech-Glas und fortschrittlichste Isolierung, um die Kälte, die Dunkelheit, die wirkliche Welt außen vor zu halten. Ebenso gut hätte er das letzte Jahrzehnt im Wohnwagen umherreisen können, was ein Mindestmaß an Bequemlichkeit und Schutz vor den Elementen für sich hatte.
Wahrscheinlich sah man auf diese Weise mehr von der Welt und traf jede Menge Leute, die beträchtlich offener und ehrlicher waren, keine schwachsinnig teuren Uhren trugen und kein Reh an Pfifferlingen, Brombeeren und Sellerie essen mussten. Wenn er schon nicht ganz so weit war, das Reisen und Die-Welt-Sehen aufzugeben wie auch den notwendigen Erwerb eines Lebensunterhalts, könnte er doch vielleicht seinen Schwerpunkt verlagern und weniger edle Ferienunterkünfte und Urlaubseinrichtungen inspizieren. Warum nicht Wohnwagenparks und Campingplätze? Auch die mussten überprüft und bewertet werden, wahrscheinlich eher noch als Luxushotels, weil mehr Leute sie benutzten. Viel mehr Leute.
»Wo wurde die Armbanduhr gefunden?«, fragte Ben erneut sein Gegenüber.
»Im Poolbereich«, sagte Eric so, als müsse er eine Zerstreutheit in Schach halten.
»Innen oder außen?«
»Innen, glaube ich. Draußen würde zu viel Schnee auf dem Boden liegen, um so ein Ding zu finden.«
»Warum erzählen Sie mir das jetzt erst?«
»Ich glaube, die Uhr wurde entwendet, und dann hat es sich der Dieb anders überlegt.«
»Von einem Belegschaftsmitglied entwendet?«
»Sie wurde mir von einem der Spa-Bediensteten ausgehändigt.«
»Wollen Sie sagen, die haben sie gestohlen? Dass sie in den Tod von John Brenan verwickelt gewesen sein könnten?«
»Es scheint so, als hätten sie die Uhr an sich genommen, nachdem sie ihn tot im Becken vorgefunden hatten. Sie hatten nichts mit seinem Tod zu tun, dessen bin ich mir sicher. Wir beschäftigen keine Mörder.«
»Aber Diebe?« Und Leichenfledderer, hätte Ben hinzufügen können.
»Er war schon tot. Einer von ihnen zog ihm die Uhr vom Handgelenk, weil er wusste, dass der Pool keine Kameraüberwachung hat. Die andere Person bemerkte es. Beide gerieten in Panik. Es war völlig töricht, eine Dummheit, aber ich glaube ihnen.«
Eric betrachtete seine Füße, die von einem scheußlichen Paar billiger schwarzer Lederschuhe umhüllt waren. Ben war nicht mal sicher, ob es sich um echtes Leder handelte.
»Hoffentlich haben Sie recht«, sagte Ben. »Wobei ich nicht weiß, ob ich noch etwas glauben kann von dem, was ich höre.«
Eric starrte weiterhin auf seine Füße.
»Da waren schwache weiße Rückstände um Johns Mund«, fuhr Ben fort und dachte zugleich an die Spuren rings um Liam Roths Mund. »Können Sie das erklären?«
»Ach ja, ich denke doch«, sagte er wieder lebhafter und hob den Kopf. »Der Pool reinigt sich selbst mittels Salz, das ist viel besser für die Haut und umweltfreundlicher. Ich würde vermuten, dass diese Rückstände aus Salz waren.«
»Schon möglich, schätze ich.« Ben wusste, dass er daran hätte denken sollen. Wobei es keine Erklärung für die weißen Spuren an Liam Roths Mund bot, falls der vor seinem Aufbruch zu den Pisten nicht noch Schwimmen war. Ben bezweifelte es stark. Wenngleich er allmählich dazu bereit war anzunehmen, dass kein Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen bestand. »Sie sagten, Sie hätten Medikamente in Brenans Zimmer gefunden, die auf eine Herzerkrankung hinwiesen. Ist das wahr?«
»Ja, das trifft zu. Wir fanden Statine und Betablocker und dazu Arzneien, die mir unbekannt sind.«
Ben dachte daran, dass Alex ihn zur Vorsorgeuntersuchung drängte, wenigstens Natalie zuliebe. Zurück in Frankfurt würde er sich sofort darum kümmern, gelobte er sich. »Diese Angestellten nahmen also einem toten Gast eine Armbanduhr ab, einem Gast eines Hideaway-Hotels«, sagte Ben ziemlich erzürnt und leidlich beunruhigt von der eigenen Sterblichkeit. Eric bekam eine Glatze, bemerkte Ben. Was er von seiner Kopfhaut sehen konnte, rötete sich vor Verlegenheit und Scham. »Allein das wird zum Rauswurf des Hotels aus der Hideaway-Gruppe führen. Nun zu diesen Angestellten, was schlagen Sie vor, geschieht mit ihnen? Werden Sie die Behörden benachrichtigen?«
»Einer ist schuldhafter als der andere. Dessen ungeachtet ist das kein Vorgehen, wie ich es von meinem Personal erwarte«, sagte er.
»Es ist nicht wirklich Ihr Personal, nicht wahr?«
»Schon, solange ich die Leitung innehabe.«
»Aber Sie leiten mitnichten, oder etwa? Weit entfernt davon. Ich würde überdies sagen, Sie machen alles sogar noch schlimmer. Ihre Gegenwart, Ihre Unfähigkeit, Ihre Käuflichkeit. Ich würde sagen, Sie haben die Kontrolle verloren. Mag sein, dass der Generaldirektor keinen Deut besser war auf seinem Posten und dieser Sittenverfall bereits vorher überhand nahm. Vielleicht war es schon zu spät, als sie nachrücken mussten. Gleichwohl, von meiner Warte als Zuschauer wie Inspektor aus, ist das kriminell.«
»Aber Sie«, Eric zeigte mit sichtlich zitternder Hand auf Ben, »tragen selbst eine Schuld. Sie hatten eng mit beiden len zu tun. Sie sind ebenso tief verstrickt in alles, was passiert ist. Das dürfen wir nicht vergessen.«
Ein Ertrinkender schlägt um sich, dachte Ben. »Solche Zufälle können nicht davon ablenken, wie dieses Hotel läuft und wer dafür verantwortlich ist.«
Eric ließ die Hand zugleich mit dem Kopf sinken, fast so, als würde alles Leben aus ihm weichen.
»Was kann ich denn nun tun?«, fragte Eric. »Wie können wir es jetzt richten?« Seine Stimme war schwach, bebte. »Hier gibt es sonst niemanden mit der Erfahrung oder Befugnis. Wir werden warten müssen, bis die Straße frei ist.«
»Sie wollen wirklich, dass sie frei wird und die Polizei sich der Sache annimmt?«
Als würde ein göttlicher Stromstoß von Kopf bis Fuß durch Eric fahren, richtete er sich kerzengerade auf und den Zeigefinger neuerlich auf Ben. Lag er im Todeskampf? »Sie, Sie können die Führung übernehmen, bis Verstärkung anrückt«, sagte er. »Sie arbeiten in der Hotellerie, für Hideaway.«
»Wohl kaum.« Ben lachte laut auf. »Das hier ist kein Schlachtfeld. Wir sind nicht auf dem Kriegspfad.«
»Es ist ein Notfall. Leute sind zu Tode gekommen, und die übrigen Gäste müssen beschützt werden. Wie sollen sie auch nur anfangen, ihren Urlaub zu genießen? Skifahren geht nicht. Das Gipfelrestaurant ist geschlossen. Sie können das Spa nicht benutzen, und ich glaube, dass der Küche schon einzelne Vorräte ausgehen. Wenn die Behörden hier eintreffen – und das werden sie, ob ich will oder nicht –, werden sie alle befragen müssen.«
»Na hoffentlich«, sagte Ben.
»Das wird höchst traumatisch sein«, fuhr Eric fort. »Ich bin nicht derjenige, der das alles organisieren kann. Ich habe alle enttäuscht. Weil ich selber gelogen habe. Ich habe alles nur schlimmer gemacht, wie Sie sagten. Das war nicht meine Absicht, und ich dachte, das Beste für das Hotel, die Gäste und Angestellten zu tun. Aufrichtig. Ich hielt es für besser, unseren Gästen und hochrangigen Geldgebern all das Unappetitliche zu ersparen.« Er schrumpfte zusammen, als seinem Wortschwall der Dampf ausging. »Eine Milliarde Euro sollen hier investiert werden. Nichts kann schiefgehen, ist es aber. Zu vieles.« Er schniefte. »Meine Erfahrung reicht nicht, um immer die richtige Entscheidung zu treffen. Man hätte mir diesen Posten nicht geben dürfen.«
»Reißen Sie sich zusammen.« Ben fürchtete mittlerweile um die geistige Gesundheit des Mannes. »Ab und zu hatte ich deutlich den Eindruck, Ihnen würde Ihre Rolle gefallen, die Macht, das Sagen zu haben.«
»Man weiß nie, wie es wird, bis man so einen Posten hat«, sagte Eric wehmütig, gar einsichtig. »Vielleicht kann man nie genügend vorbereitet sein.«
»Hier geht es um die Leitung eines Hotels«, sagte Ben. »Sie stehen nicht den Vereinten Nationen vor. Sie werden die richtigen Ansagen machen müssen, wenn die Behörden eintreffen. Es wird Ihre Sache sein, was Sie denen sagen, wohin Sie sie schicken. Ob Sie irgendwas davon entschärfen können. Was mein Bericht zu gegebener Zeit besagen wird, steht auf einem ganz anderen Blatt. Allerdings weiß ich immer noch nicht, was John Brenan unten am Pool verloren hatte und dazu in einer solchen Nacht – Herzschwäche hin oder her. Könnte er sich dort mit jemandem getroffen haben? Könnte er dorthin gelockt worden sein?«
Ben konnte sich höchstens denken, wie Petra Bauer irgendeine Form schmerzhafter körperlicher Bändigung und Erregung böte, vielleicht zusammen mit Bernard, der dann die Körperlichkeit auf eine andere Ebene gehoben hätte. Nur warum, wenn nicht um des Geldes willen? Es kam ihm zu überspannt, abwegig vor, überdies mochte er Petra, hielt sie für ehrlich, selbst wenn sie nur ihr berufliches Fortkommen, ihre Zukunft im Sinn hatte. Wer hatte das nicht in ihrem Alter?
Doch Ben kam ein anderer Gedanke. Wenn nun Bernard auf Petra und John Brenan im Eifer einer abgefahrenen sexuellen Handlung gestoßen wäre – weil Petra John Brenan etwas Scharfes und spielerisch Gewalttätiges versprochen hatte, im Gegenzug für Geld, Beziehungen, einen Karrierekick? Dann wäre John Brenan beim Vollzug eines Geschlechtsakts mit Petra verschieden, draußen im Schnee. Vielleicht hatte auch die bloße Vorstellung davon, irgendein vages Versprechen oder Irrglaube seinerseits genügt, dass sein Herz stehengeblieben war, während Petra eingemummelt in ihrer Angestelltenunterkunft lag?
Warum gingen so viele dieser tragischen Umstände auf Verlangen, auf Sex, auf Eifersucht und Betrug zurück? Weil wir nur allzu menschlich sind, sagte eine Stimme, eine weibliche Stimme in seinem Kopf. Er kam nicht darauf, wessen Stimme es war. Er zermarterte sich das Hirn. Doch, jetzt schon. Es war keine Stimme, die er noch sehr häufig und im Vertrauen hörte, obwohl sie noch gestern zu ihm gesprochen hatte. Sie hatte ihn angerufen. Es war Alex, die gewiss zu jenen gehörte, die ihrem Herzen gehorchten. Und deren Herz nun schließlich doch gebrochen wurde?
Auf alle Fälle wäre es gut, Petra zu befragen, entschied Ben. Was hatte sie wirklich dazu bewogen, ihm sein iPhone oder vielmehr ein iPhone zurückzubringen? Schlicht die Aussicht auf beruflichen Aufstieg? Hatte sie irgendeine Ahnung vom Durcheinander, dass ein weiteres Handy verloren gegangen war? Und warum derart schlecht von Bernard sprechen?
Dennoch blieb es bei viel zu viel Mutmaßung oder überspannter Phantasie – wie Eric es ausdrücken mochte – und zu wenigen Fakten, die Ben miteinander verbinden konnte. Waren Fakten, war die Feststellung des wirklich Geschehenen am Ende doch schwieriger als Fiktion zu bewerkstelligen? Selbstverständlich. Und doch war es Liam Roths »fiktionale« Arbeit, die Geschichte um »Ben« und »Simone« in Roths Notizbuch, die Ben reizte. Welche Hinweise enthielt sie noch? Womöglich würde Ben einstweilen hinnehmen müssen, dass John Brenans Tod eine natürliche Ursache hatte – noch ehe es zu verwerflicheren Handlungen kam. Handlungen ohne sexuellen Beweggrund.
»Sie sind es, der hinter dem Schreibtisch sitzt«, erinnerte ihn Eric hilfreich daran, wo sich Ben gerade befand. »Warum schauen Sie nicht nach? Sie müssten alle Überwachungsvideos von dort aus einsehen können. Es ist eine der Tasten auf der unteren Reihe, deutlich gekennzeichnet.«
»Sie sagten doch, das ginge nur im Büro des Sicherheitschefs.« Richtig, die Taste war leicht zu finden.
»Das war wieder gelogen«, schluchzte Eric beinahe. »Ich wollte mir das nicht ansehen, weil ich mir nicht noch mehr Probleme aufhalsen wollte, Probleme, die mir entgangen waren, von denen ich in meiner Stellung hätte wissen müssen. Ich will nicht darüber nachdenken, was ich vielleicht hätte verhindern können. Damit könnte ich nicht leben. Sie verstehen nicht, wo ich herkomme und wie schwer der Weg dahin gewesen ist, wo ich jetzt bin.«
Er schluchzte so laut, dass Ben es für geschauspielert hielt.
»Ich hab’s vermasselt«, wimmerte er.
»Jetzt werden Sie nicht albern«, sagte Ben. »Es ist immer nur so viel, was jemand in solchen Situationen tun kann.« Erics Zusammenbruch kam zu rasch und heftig, um ernst genommen zu werden. Wobei Ben sein Scheitern auf allen sozialen Ebenen befürchtete. Ferner dachte er bei sich, dass Eric bereits ein Gutteil der Aufzeichnungen gesehen haben musste und noch weitere Details preiszugeben hatte. »Okay«, sagte Ben und klickte mit der Maus auf das entsprechende Icon, »ich bin drin. Ich sehe die verschiedenen Kameras, was sie abdecken. Sind nicht allzu viele, oder?«
»Mehr als die sind uns nicht erlaubt.«
»Dachte mir schon so was.« Er entschied, was er sich zuerst ansehen wollte, welche Innen- und Außenansichten des Hotels, und überprüfte dann die Daten, Uhrzeiten, was genau in jener Woche aufgezeichnet worden war. Das Interface ähnelte der Startseite von Netflix, war nur weniger farbenfroh und bot bei Weitem nicht dieselbe Auswahl. Im System navigieren hingegen ging genauso einfach. »Wollen Sie sich einen Stuhl heranziehen und es mitansehen?«, fragte er Eric, während er den Bildschirm abgraste. »Lässt sich die Bank da verrücken?« Eric schaute hilflos drein. »Nein?«
Ungern zwar gab er seinen bequemen Hightech-Sessel und damit gewissermaßen die gehobene Position in der Hotelleitung auf, doch Ben stand auf, drehte die Bildschirme um, griff nach der Tastatur und gesellte sich zu Eric auf die Designerbank, der nun wie gelähmt wirkte. »Das kann jetzt ein Weilchen dauern«, äußerte er dabei munter, als wollten sie sich einen Kurzfilm ansehen oder ein paar Folgen einer neuen Miniserie. »Können wir bei der Gelegenheit den Zimmerservice rufen? Ich fürchte, meine letzte Bestellung, die mir knapp innerhalb des dreißigminütigen Zeitfensters aufs Zimmer geliefert wurde, steht noch immer da oben, unverspeist. Dazu hatte ich noch eine kleine Karaffe Pinot Noir Grand Cru.«
Eric war weiter augenfällig unbehaglich zumute, als säße er nun neben Ben hoffnungslos in der Falle. Ben startete ungerührt die Vorführung und stupste Eric in die Rippen. »Das haben Sie alles längst gesehen, oder nicht?«
Der Mann nuschelte irgendwas an Bens Ohr vorbei.
»Wenn ja, könnten Sie mir dann wenigstens die guten Stellen zeigen und, während ich sie unter die Lupe nehme, etwas Anständiges aus der Küche kommen lassen?« Ben musste ihn erneut anstupsen, damit Eric überhaupt eine Reaktion zeigte. Sie fiel nicht so aus, wie er erwartet hatte. Schlimmer noch.
Eric weinte, heulte nun regelrecht.
»Wir schauen doch bloß ein wenig Fernsehen«, sagte Ben und fühlte sich unfähig, einen Arm um Eric zu legen. »Ich muss feststellen, was Liam Roth zugestoßen ist und hoffentlich auch, was John Brenan. Die Polizei wird das alles sowieso zu gegebener Zeit durchforsten. Ebenso gut können wir uns einen Vorsprung verschaffen. Wenn Sie das nicht längst getan haben.« Nur wusste Ben: Eric hatte. Es war die einzige Erklärung für das Verhalten des Dänen. Was würde noch ans Licht kommen?
Erics Geschluchze flaute langsam ab.
»Sie sollten vielleicht selber was essen. Eine gute Mahlzeit bringt Sie wieder ins Lot.«
Während er noch seine Atmung bezähmte, hob Eric zu sprechen an. »Ich weiß, was in den Aufzeichnungen zu sehen ist. Ich weiß, was sie zeigen und was nicht.«
»Dachte ich mir.« Wobei Ben merkte, dass ihm ein Gourmetessen lieber wäre als eine Beichte.
»Ich weiß auch, wo Liam Roths Leiche abgeblieben ist«, sagte Eric.
»Was?« Ben nahm den Blick vom Treiben auf dem Bildschirm und warf ihn auf den Mann neben sich. Damit hatte er nicht gerechnet.
»Ich weiß, wer sich die Leiche geholt hat.«
»Wie lange wissen Sie das schon?«
»Seit gestern Morgen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich diejenigen darum bat, die Leiche fortzuschaffen. Es war ein großes Missverständnis. Sehen Sie, wir wussten, wer Liam Roth war, und wir glaubten zu wissen, was er hier vorhatte.«
»Wer ist ›wir‹?«
»Das Konsortium, die Interessenvertreter. Wir dachten, er recherchiere das Ausbauvorhaben und wäre im Begriff, uns richtig Ärger zu machen. Wir konnten ihn hier nicht gebrauchen, um in diesem Stadium Informationen zu sammeln, weshalb wir die Security verstärkten. Die Tagung sollte streng privat und vertraulich ablaufen. Das alles brachte ich ganz allein zuwege – schließlich gab es weder einen Generaldirektor noch einen Sicherheitschef.« Er hielt inne, schniefte. »Außer dass Mr Roth lebendig weitaus dienlicher war als der tote Mr Roth.«
»Sie haben ihn umbringen lassen?« Ben stand auf, konnte kaum glauben, wohin dieses Gespräch führte und was er Eric Langeskov gerade fragen musste. Wie viel Videomaterial musste er sich jetzt überhaupt noch ansehen?
»Nein, nein«, widersprach Eric entschieden und erhob sich seinerseits. »Das ist schon alles. Wir waren überzeugt, deswegen wäre er im Hotel – zum Bespitzeln. Um sehr wichtige Leute für das Hotel und die Gegend auszukundschaften. Um auf äußerst heimtückische Weise Wirtschaftsspionage zu treiben.«
»Ich halte dagegen, dass er nur seine Arbeit als Journalist zu tun versucht hat.«
Davon wollte Eric nichts wissen. »Er ist in der Schweiz und meines Wissens in der ganzen Welt dafür bekannt, solche Sachen zu machen und sich allen möglichen Ärger einzuhandeln. Deshalb ist er so schwer zu erreichen und meidet nach Möglichkeit das Rampenlicht. Freilich sind die Mitglieder des Konsortiums bestens vernetzt und vor solchen Spitzeln auf der Hut. Wir wussten, was er vorhatte. Dachten wir jedenfalls. Vielleicht lagen wir richtig, vielleicht falsch. Jetzt spielt das keine Rolle mehr. Aber wir haben ihn nicht getötet.«
Bens Augen schweiften nach draußen ab. Von den Flutlichtern des Hotels angestrahlt, flogen inzwischen Schneeflocken gegen die Scheibe. Jenseits des Gestöbers war nur noch Dunkelheit. »Aber Sie wissen, wer die Leiche weggeschafft hat?«
»Wir konnten nicht zulassen, dass die Leiche eines so berüchtigten Journalisten hier entdeckt würde, während das Konsortium tagte, wie auch immer er zu Tode kam. Die Leute würden die falschen Schlussfolgerungen ziehen und annehmen, wir hätten ihn getötet.«
»Aus gutem Grund«, sagte Ben.
»Er wurde aber nicht vom Konsortium getötet«, erwiderte Eric überraschend forsch. »Das Konsortium hatte nichts mit seinem Tod zu tun. Wir haben nur die Security aufgestockt, als uns klar wurde, dass er hier war. Ja, vielleicht gingen ein Handy oder zwei verloren. Auch Sie standen bei uns eine Weile unter Verdacht. Wir konnten niemandem vertrauen. Wir konnten keine Risiken eingehen.«
»Wer hat seine Leiche weggeschafft«, fragte Ben, »und warum?«
»Sie wissen, warum seine Leiche entfernt wurde, ich habe es gerade gesagt. Hier durfte sie nicht entdeckt werden. Es hätte fragwürdig ausgesehen, selbst wenn es ein Unglück war, wie es dem Sicherheitschef zustieß, oder eine natürliche Todesursache wie bei John Brenan. Wenn das alles aufeinanderprallt, ist es zu viel.«
Ben hustete, räusperte sich heftig, fühlte einen Kloß aus Lügen und Verwirrung und einer ausufernden Verschwörung im Hals. »Zu viel für einen Zufall, würde ich sagen. Wer hat denn nun seine Leiche entsorgt?«
»Das Konsortium hat viele Freunde, viele Kontakte. Es wurde vereinbart, dass die Leiche verschwindet. Sie waren äußerst schnell und gründlich.«
»Klingt für mich wie eine kriminelle Verzweiflungstat. Sie können nicht einfach eine Leiche beseitigen.«
»Ist einer schon tot, kann ihm doch keiner mehr schaden.«
»Eric, was ist mit den Hinterbliebenen? Seien Sie nicht so dämlich. Nichts von alledem können Sie rechtfertigen.«
Jetzt schaute Eric ausdruckslos drein, während er offenbar darüber nachdachte.
»Fuhren diese Typen zufällig einen Range Rover, schwarz getönte Scheiben, Spitzenausstattung?«, fragte Ben.
Eric nickte, schien sich zusammenzureißen. Sich endlich das Ganze von der Seele zu reden, baute vielleicht eine Art Druck ab. »Viele Mitglieder des Konsortiums reisen mit Leibwächtern, mit Leuten für die Sicherheit. Zum Glück hatten wir solche Unterstützung zur Hand.« Eric streckte einen Arm aus und tippte auf den nächstgelegenen Bildschirm. »Sie werden in den Überwachungsvideos nichts Derartiges finden. Das ist alles gelöscht worden. Manches andere hingegen müsste dabei sein.«
»Wenn das Konsortium also Liam Roth nicht hat umbringen lassen, wer dann?«
»Darüber war ich in großer Unruhe, besonders nachdem Mr Brenan auch noch verstorben ist. Zwei Todesfälle mit natürlicher Ursache so kurz nacheinander sind verdächtig. Sie hatten recht, Mr Martin.«
»Die auf den Tod Ihres Sicherheitschefs eine Woche zuvor folgten?«
»Das ist etwas anderes. Lawinen kommen nun mal vor. Es sind Unglücksfälle.«
»Sie auszulösen oder ihnen in die Quere zu kommen, passiert nicht immer zufällig.«
»Das hätten die Behörden zu klären«, sagte Eric selbstbewusster, »und mir kommt es nicht so vor, als würden sie da weit kommen. Der Guide ist überaus erfahren und bestens in der Gegend bekannt.«
»Dass Liam Roth getötet wurde, lassen Sie dann gelten?«
»Er war nicht die ganze Nacht lang in der Gondel«, sagte Eric. »Er ist nicht erfroren. Das wäre nicht möglich gewesen. Nebenbei haben wir die Aufnahmen, wie er gestern früh in Eile das Hotel verlässt, etwas später gefolgt von Ihnen. In der Zwischenzeit ist niemand anderes zu sehen.«
»Ich hatte nichts mit seinem Tod zu tun, falls Sie das immer noch meinen.« Ben konnte kaum glauben, dass Eric auf diesen Gedanken zurückfiel, der alles auf den Kopf stellte.
»Die Aufzeichnungen ließen sich anders auslegen. Was mögen sich die Behörden denken, wenn sie ihrer habhaft werden?«
Deutete Eric hier eine Erpressung an? »Hängt vermutlich davon ab, ob sie ihrer habhaft werden«, hörte Ben sich sagen.
»Oder was sie sonst noch finden könnten.« Eric übernahm die Tastatur und startete flugs ein Video, auf dem zu sehen war, wie Liam Roth das Hotel durch die Tür zur Tiefgarage verlässt. Er wankte eilig in seinen Skistiefeln dahin – keine Skier und Skistöcke, kein Helm. Er war sichtlich aufgewühlt. An einer Stelle blieb er stehen, klappte vornüber und schien zu würgen. Er stolperte weiter, bis er außer Sicht und der Bildschirm von einer blendend weißen Schneefläche ausgefüllt war.
Im Video waren Datum und Uhrzeit eingeblendet. Eine andere Kamera aus einem anderen Blickwinkel zeigte dann Ben beim seinerseits hastigen, wenngleich von seinen Skiern und Stöcken behinderten Verlassen des Skiraums. An einer Stelle hielt er ebenfalls inne, schien sich erst übergeben zu wollen und trabte dann weiter. Ben hatte das ganz vergessen. War er dermaßen verkatert gewesen? Oder war es das ausufernde Frühstück, das er viel zu schnell runtergeschlungen hatte, um nur ja als Erster im Skilift bergauf zu fahren?
Auch hier fand sich eine Zeitangabe – sechsundvierzig Minuten später. Ben versuchte sich an einer Berechnung. Könnte es Liam Roth in eine Blase geschafft haben, nur um irgendwo während des ersten Umlaufs gestorben zu sein? Wie lange genau war der Lift in Betrieb, ehe er Gäste aufnahm und Ben zugestiegen war? Das musste noch festgestellt werden.
Mittlerweile hatte Eric offenbar seine Fassung und Willenskraft wiedergefunden. »Sehen wir doch mal, was wir hier noch haben, ja?«, sagte er.
»Wird das lange dauern? Ich bin am Verhungern. Ich muss jetzt wirklich etwas zu essen und zu trinken haben.« Außerdem musste Ben raus aus etwas, das sich zusehends anfühlte wie eine Endlosschleife aus Anklage und Gegenanklage, Argwohn und Unterstellung, Annahmen und Mutmaßung. Wo waren die Tatsachen, Belege, Beweise?
»Wollen Sie wissen, wer für Liam Roths Tod verantwortlich war?«, fragte Eric.
»Sollte es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein, so habe ich genau das seit gestern Morgen zu ermitteln versucht und musste dabei laufend Hindernisse umgehen, die mir zumeist von Ihnen und Ihrem verdammten Hotel in den Weg gelegt wurden.«
»Sehen Sie einfach zu. Da kommt noch mehr.«