Welche Wonne, als seine Füße wieder in seinen alten Bu- dapestern steckten. Ben konnte mit den Zehen wackeln, und als er aufstand, konnte er kaum glauben, wie sich das Leder anschmiegte. Der Skiraum des G lag bequem ein kurzes Stück vorm Haupteingang im Erdgeschoss und in jenem Flügel, der auch die Boutique, das Spa und die Behandlungszimmer beherbergte. Da er schon mal hier und allein im Raum war, meinte er, ebenso gut eine kurze Begutachtung für seinen Bericht vornehmen zu können. Es gab säuberliche Stapel flauschiger grauer Handtücher mit Logo und ohne Ende Polsterbänke. Die hohen, breiten Spinde, jeweils einem Zimmer zugeordnet, boten reichlich Platz für Skier, Snowboards und Helme neben ordentlich warmen Heizröhren als Stiefelablage.
Der Raum war einwandfrei sauber und trocken mit einem angenehmen Kiefernduft. Nur Bestnoten. Ben ging noch einmal in dem unterteilten Raum herum und schlug gegen die Spindtüren. Eine Tür am Ende der letzten Reihe immerhin flog auf. Sie musste nicht richtig geschlossen und verriegelt worden sein.
Ben sah hinein. Da waren ein Paar Skier, Stöcke, Helm, Handschuhe – alles für einen Tag auf den Pisten Nötige außer Skistiefeln. Auf dem untersten Rost stand auch ein Paar Schuhe. Budapester, wurde Ben überrascht gewahr, oder zumindest war ihr Oberleder im Stil von Budapestern gehalten, doch sie hatten dicke Kreppsohlen. Die Marke war ihm zwar unbekannt, aber Ben konnte sich nicht vorstellen, dass sie sonderlich teuer waren oder handgenäht. Sie waren eine Nummer kleiner als seine eigenen.
Die Skier und Stöcke indessen waren die gleichen wie jene von Ben – zweifellos freundliche Leihgaben des Hotels. Sonst schien sich nichts in dem Spind zu befinden, obwohl Ben den Kopf ganz hineinsteckte und sich alles genau ansah. Behutsam schloss er die Tür und merkte sich die Zimmernummer vorn am Spind: 22. Ben hatte die 29. Dasselbe Stockwerk, derselbe Gebäudeteil, denn die Anordnung der Spinde entsprach offenbar jener der Zimmer.
Beim Verlassen des Raums wählte Ben eine Tür am anderen Ende, hinter der er unmittelbar den Innenbereich des Hotels vermutete. Doch er trat in einen kurzen Gang zu einem Aufzug und einer Treppe, die merkwürdigerweise nur abwärts führte. Einen Augenblick hielt er inne, um sich irgendwie zu orientieren, und wählte für alle Fälle die Treppe. Zwei Treppenläufe führten ihn zu einer schweren Stahltür, die im Einheitsgrau des Hotels gestrichen war. Diese öffnete sich schwergängig und führte in eine trüb beleuchtete Tiefgarage.
Das Parkdeck hatte zwei Trakte, fast jede Parklücke war mit sehr schicken Fahrzeugen besetzt – SUVs, Oberklasselimousinen, allerlei Volkswagen ID.5 und Teslas Model x. Schweizer Nummernschilder schienen gegenüber französischen oder italienischen in der Überzahl zu sein. Er zählte drei schwarze Range Rover. Zwei hatten britische Kennzeichen und einer ein deutsches. Einen mit Schweizer Nummernschild sah er nicht.
Er verließ das Parkdeck über dieselbe Tür, durch die er gekommen war, stieg die beiden Etagen hoch und betrat wieder den Skiraum. Sofort erkannte er seinen Irrtum und nahm die andere Innentür. Diese ging auf den Korridor, der zur Empfangshalle führte. Die Ausschilderung innerhalb des Hotels würde keine Bestnoten in seinem Bericht bekommen, so viel war sicher.
Die Empfangshalle spreizte sich geschickt zwischen den neuen und alten Bereichen des Hotels. Der Gang hindurch war wie ein Gang durch zwei Jahrhunderte. Die Rezeption versahen ein junger Mann und eine ältere Frau anstelle derjenigen, die ihn am Abend zuvor eingetragen hatte. Beide steckten in dunklen, gut sitzenden silbergrauen Jacken mit dem »G« des Hotels in einem helleren, stärker schimmernden Grauton auf der Brusttasche. Keiner dieser Angestellten trug ein Namensschild. Offenbar eine Gepflogenheit des Hauses – zur Wahrung von Privatsphäre und Anonymität wenigstens der Belegschaft. Ben fand es ärgerlich. Das Personal hatte namentlich kenntlich zu sein. Rechenschaftspflicht stand in der Hotellerie an erster Stelle.
»Hi«, sagte er im Näherkommen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich vorhin mit Ihnen telefoniert habe«, er sah sich die Frau an, »aber ich wüsste gern, ob ich jetzt den Duty Manager sprechen könnte oder den Sicherheitsbeauftragten?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Guten Morgen, Sir. Ich glaube nicht, dass wir miteinander geredet haben.«
Ben konnte ihre Aussprache nicht einordnen. Eine weitere Italienerin vielleicht? Tessinerin?
»Alle Anrufe werden vom Hauptbüro des Hotels entgegengenommen, und solch eine Bitte ist am Empfang nicht eingegangen.«
»Könnten Sie bitte einen der beiden kontaktieren?«, fragte Ben. »Ich wohne in Zimmer 29.«
Sie schaute auf einen Bildschirm, während ihr Kollege Ben höflich anlächelte. »Natürlich, Mr Martin«, sagte sie, den Blick erhoben. »Kann ich dabei den Betreff angeben? Hoffentlich liegt kein Problem vor.«
»Es ist kompliziert«, sagte Ben, beugte sich vor und flüsterte: »Und verstörend. Am besten spreche ich selbst mit ihnen, wenn das in Ordnung ist?«
»Ja, wie Sie wünschen.« Sie nahm ein Telefon hoch und trat zurück.
»Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt, Sir«, sagte der junge Mann. Seinem Akzent nach zu schließen, war er Osteuropäer. Kroate?
»Es war sehr interessant, und dabei bin ich erst gestern Abend angekommen. Wie war Ihr Morgen?«
»Gut, Dankeschön, Sir. Ist ein herrlicher Morgen.«
»Alle zufrieden?«
Er nickte langsam und nahm sich mit der Antwort Zeit. »Die Gäste, ja, würde ich meinen.«
»Und Sie alle?«
»Gerade haben wir viel zu tun. Das Hotel ist voll belegt.«
»Mit einer Tagung, ja?«, fragte Ben.
Der Mann nickte wieder, worauf sein Lächeln jäh erlosch.
»Auch draußen auf den Pisten läuft alles rund?«, drängte Ben weiter. »Die Skilifte sind voll im Einsatz?«
»Soweit mir bekannt, Sir, ja, alles ganz ausgezeichnet, selbst das Wetter derzeit. Das müssen Sie ausnutzen. Diese Saison hatten wir schon eine Menge Schnee und Unwetter, und nun soll wohl mehr davon bevorstehen.«
»Sie hatten auch eine todbringende Lawine«, sagte Ben. Ihm brach in seiner Skibekleidung der Schweiß aus. Er musste ein paar Sachen ablegen.
»Ja, letzte Woche gab es leider einen großen Abbruch. Einige Leute wurden davon erfasst – ein furchtbares Unglück.« Er schüttelte den Kopf.
In diesem Moment kam seine Kollegin nach ihrem Telefonat wie zu seiner Rettung. »Ich fürchte, der Duty Manager und der Sicherheitsbeauftragte sind in einer Sitzung«, sagte sie.
»Immer noch?«, entfuhr es Ben. Er sah auf die Uhr. Es war beinahe zwölf.
Die Frau schaute verdutzt drein. »Sie besorgen die Tagung eines Konsortiums in unseren Zweckräumen. Eine Menge wichtige Leute sind hier. Es gibt vieles aufeinander abzustimmen.«
»Klar«, sagte Ben und dachte, dass ein Hideaway alle Gäste trotz des Umstands gleichermaßen zuvorkommend behandeln sollte, dass Hideaways Oasen von Ruhe und Exklusivität jenseits der Fesseln und Anforderungen der Unternehmenswelt waren. Wenngleich er unlängst einen Anstieg derartiger Geschäftstätigkeit bemerkt hatte. Der Begriff »Konferenz« war bislang aus sämtlichen Werbeschriften für das Hideaway-Angebot verbannt gewesen, und geeignete Einrichtungen, sofern vorhanden, wurden beiläufig oder umschrieben erwähnt und waren ausnahmslos bescheiden gehalten. Ben war sich unsicher, wofür genau die Wendung »wichtige Leute« in einem Hideaway stand. »Konsortium« klang irgendwie wie fehl am Platz.
»Bedauerlicherweise sind wir augenblicklich unterbesetzt.«
»Infolge der Lawine«, hängte Ben für sie an.
Sie nickte grimmig.
Er wollte eigentlich nicht hören, dass ein Hideaway je »unterbesetzt« war, nicht einmal aufgrund tragischer Umstände. »Schön, mir ist bekannt, dass der Generaldirektor im Krankenhaus liegt, und wenn der Duty Manager und Sicherheitsbeauftragte derzeit verhindert sind, wer hat dann die Verantwortung inne?«
»Wir arbeiten in Gruppen. Wir alle haben Zuständigkeiten. Es wird immer Leute geben, die bei Problemen oder Notfällen helfen.«
»Liegt ein Notfall vor?«, fragte nun der Rezeptionist einigermaßen aggressiv dazwischen.
»Entschuldigen Sie mich für einen Augenblick«, sagte Ben, trat zurück und zog sein Telefon aus seiner Tasche. So ließ er nicht mit sich reden, selbst wenn er allmählich daran zweifelte, was ihm heute Morgen widerfahren war. Das Display allerdings war leer und erwachte auch nicht zum Leben, nachdem er einige Male fester darauf eintippte. War der Akku schon entladen? Gut möglich, da er das Handy schon seit ein paar Jahren besaß und es ziemlich durch war.
»Scheiße«, murmelte er, verstaute sein Telefon und trat wieder an den Tresen. Vielleicht war es auch besser so, dass er den Rezeptionisten die Bilder der Leiche nicht zeigen konnte, redete er sich ein. Er wusste wirklich nicht recht, wem er vertrauen konnte. Zu viel passte nicht zusammen.
»Eigentlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob es noch Notfall genannt werden kann«, sagte Ben ergeben. »Ich gehe jetzt zurück auf mein Zimmer.« Um sein Telefon aufzuladen, was er aber verschwieg. »Könnten Sie bitte den Duty Manager ersuchen, mich anzurufen, sobald er oder sie kann?«
»Ja, Sir, natürlich«, sagte die Frau.
»Tut mir leid, dass wir Ihnen nicht sofort helfen können«, fügte ihr Kollege hinzu, ohne sonderlich leidvoll zu klingen.
Sein Auftreten würde in Bens Bericht einfließen. Mittlerweile lautete sein Auftrag, einen ganzen Abschnitt zum Empfang abzuhaken und alles von Kleidung bis Höflichkeit zu benoten. Nach wenigen Schritten blieb Ben stehen und rief über seine Schulter: »Ach, da wäre schon noch etwas, das ich erwähnen kann.«
Beide nickten, wobei nur die Frau aussah, als sei sie gespannt zu hören, was es sein mochte.
»Spind Nummer 22 im Skiraum hat eine unverriegelte Tür und enthält Ausrüstung und persönliche Gegenstände. Ich wollte vermeiden, dass die Sachen abhandenkommen, darum habe ich die Tür fest geschlossen, konnte sie aber nicht abschließen. Sie wollen sich vielleicht darum kümmern.«
Beide schauten ratlos drein. »Im G kommen keine Sachen abhanden«, sagte die Frau streng. »Wir sind keine solche Sorte Hotel.«
Eine Lüge, wie Ben wusste – in jedem Hotel verschwanden Sachen. Trotzdem nickte er.
»Aber wir werden sicherstellen, dass alles so ist, wie es sein sollte. Die Spinde bleiben häufig unabgeschlossen. Die Leute lassen ihre Schlüssel in ihren Zimmern liegen oder haben sie in einer falschen Tasche und gehen lieber auf die Piste – besonders bei so schönem Wetter –, als deswegen umzukehren.«
»Ohne Skier?«, fragte Ben.
»Verzeihung, ich kann nicht folgen.«
»Da standen ein Paar Schuhe drin nebst Skiern, aber keine Skistiefel«, sagte Ben und wurde sich im Klaren, dass es dafür jede Menge unverfängliche Gründe geben konnte. Die Spinde gehörten zu den Zimmern, und die Zimmer waren gewöhnlich doppelt belegt.
»Wir werden uns das ansehen«, sagte der Mann. »Danke, dass Sie uns darauf aufmerksam machen.«
»Dieses Hotel ist sehr sicher«, ergänzte die Frau.
»Rein aus Interesse, ist Zimmer 22 gegenwärtig belegt?«, fragte Ben versuchsweise, obwohl es sich verdächtig neugierig anhören mochte. Wieso konnte er nie etwas auf sich beruhen lassen? Weil ein Mann gestorben war, rief er sich ins Gedächtnis. Nebenbei war er umschweifige Antworten gewöhnt, wenn er ein Hideaway verdeckt inspizierte. Oft genug schlug Diskretion in Dumpfheit um. Er fragte sich häufig, ob echte Gäste irgendeine Ahnung hatten, was in einem Hotel vor sich ging. Er war sich nicht mal sicher, ob es die Angestellten immer so viel besser wussten.
»Das Hotel ist voll belegt«, sagte der Mann wenig hilfreich.
»Ja, das höre ich immer wieder.« Ben ging steifbeinig davon und besann sich darauf, dass Zurückhaltung unter solchen Umständen meist weiter führte als Lästigsein. Leider hatte er sich etwas zu häufig bei seiner Tätigkeit für Hideaway unter schwierigen, gefährlichen und mörderischen Umständen wiedergefunden. Die Angestellten machten nur ihre Arbeit. Nichts anderes hätte er erwartet. Überdies wusste er nicht, wem er vertrauen konnte. Hier wurde irgendwas vertuscht, da war er sich zusehends sicher. Vielleicht würde er mehr Glück bei den Gästen haben.
Die Rückseite der Empfangshalle ging in einen schicken, modernen Sitzbereich mit einem atemberaubenden, die Mitte beherrschenden Holzkamin in Form eines vom Boden zur Decke reichenden Glaszylinders über. So ein Ding, das friedvoll vor sich hin flackerte, hatte er noch nie zuvor gesehen. Zu seiner Linken ging die Library Bar ab, die Biblio-Theke – eine Oase aus altersdunkler Kiefer, noch fest im neunzehnten Jahrhundert angesiedelt. Sie platzte schier vor Gästen: einige in Skibekleidung, andere in unterschiedlichen Stufen modischer und ausgesprochen unmodischer Freizeitgarderobe.
Einem natürlichen und neugierigen Drang dorthin folgend stellte Ben fest, dass die Muskulatur in seinen Beinen vom Skilaufen zuvor schon verkrampfte.
Er musste sich zum Tresen durchdrängeln. Er nahm kaum an, dass hier vor zwei Jahrhunderten viel gelesen worden war. So ein Bauernhaus hätte nie und nimmer eine Bibliothek gehabt. Ziemlich sicher war er sich, dass heutzutage noch weniger gelesen wurde.
Bars in Wintersportorten waren immer auf eine bestimmte Art aufgeladen. Zwar mochte es ein Hideaway sein, doch lag eine deutliche Unruhe in der Luft, gepaart mit kräftigem Alkoholgeruch. Die lauten, überwiegend männlichen Stimmen waren ein Mischmasch aus Akzenten und Sprachen, aber Englisch, amerikanisches Englisch, herrschte vor. Viele der Leute kannten einander offensichtlich, und das Durchschnittsalter musste deutlich über fünfzig liegen.
Als er schließlich etwas Ellbogenfreiheit an der Theke erlangt hatte, hörte Ben genauer hin, während er die Aufmerksamkeit der Tresenkraft auf sich zu ziehen versuchte. Eine einzige Angestellte war da, die gestresst wirkte. Ihr pechschwarzes Haar, strenger Pony und kantiges Gesicht mochten in anderer Umgebung cool ausgesehen haben, wenngleich ihre Wangen gerötet waren. Ben wollte nichts zu ihrer Arbeitslast beitragen, wiewohl so kein Hideaway geführt werden sollte.
»Viel los, oder?«, meinte er zu seinem Nachbarn.
»Bombentag heute«, entgegnete der Mann auf amerikanisch. »Ein Glück zu leben – darauf trinke ich.« Er schwenkte Ben sein bauchiges Weinbrandglas entgegen.
»Gehören Sie alle zu einer Gruppe?«
Der Mann blickte sich um, trank in einem langen Zug sein Glas aus und schmatzte genießerisch. »Ich bin hier unter Freunden auf einem der schönsten Flecken Erde.«
»Waren Sie heute schon zum Skifahren raus?«
Der Mann atmete aus. Er war übergewichtig, rotgesichtig und eindeutig sehr reich. Die Patek Philippe Nautilus passte kaum um sein riesiges linkes Handgelenk. »Liebe Güte, nein. Ich sammle nur genug Kraft und Nerven, um wenigstens den Lunch oben auf dem Berg einzunehmen.« Nun schwenkte er sein leeres Glas. »Zu Hause trinke ich nicht. Bin offiziell schon jahrelang trocken. Würde mir mein Arzt, geschweige denn meine Frau – ’s meine vierte – gar nicht erlauben. Aber im Urlaub mit meinen besten Kumpels wär’s ohne kriminell.«
»Dann machen Sie alle Urlaub? Sie sind nicht Teil der Tagung, die hier stattfindet? Irgend so ein Konsortiumsding?« Ben mache eine Geste in die Runde, wobei er glaubte, die Antwort schon im Voraus zu kennen.
»An so einem Ort, einem der exklusivsten Skiorte der Welt – na, Sie wissen ja, was das hier kostet –, sind die Geschäfte nie weit weg. Die Welt, diese Welt dreht sich um Geld. Doch um ehrlich zu sein, mein Freund, nein. Keinerlei Businesstreffen. Wir sind hier zum Skilaufen, wegen der Aussicht, dem Essen und Trinken und unserer gegenseitigen Gesellschaft. Das alles, darf ich sagen, frei von weiblichen Fesseln.« Er lachte. »Oder lassen Sie mich das mal anders ausdrücken – ohne irgendwelches eheliches Genörgel. Manche von uns haben weibliche Fesseln gern, wenn sie mit Hingabe, Fachkunde und Strenge angelegt werden.« Wieder lachte er, dieses Mal erheblich lauter. »Möchten Sie was trinken?« Er winkte mit seinem bauchigen Glas nach der herben Barkeeperin. »Das nun«, sagte er und wedelte umso lebhafter mit seinem Glas, »wär doch ein höchst willkommenes Angebot in einem Kerker, finden Sie nicht?«
»Danke, nicht nötig«, sagte Ben, schüttelte den Kopf und schaute ausdrücklich auf seine eigene schmächtige und etwas unzuverlässige Armbanduhr, obgleich von einer berühmten Schweizer Marke. Er wollte mit diesem Mann nicht trinken. »Hab ganz die Zeit vergessen.« Ebenso gut hätte er anhängen können: »Und das Zeitalter.« Während er sich den Weg zurück durch den Andrang poltriger Milliardäre bahnte, fühlte Ben, wie ihm der Schweiß in seine Kleidungsschichten lief. Eine Klimaanlage wäre willkommener gewesen als der stylishe Holzkamin. Er hatte nichts in Erfahrung gebracht, außer dass er sich woanders umschauen musste.
Wie auf ein Stichwort stand nun ein sehr cooles Paar neben ihm, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Beide waren mit ihren Handybildschirmen beschäftigt. Sie hätten aus den Seiten der Vogue getreten sein können, irgendeiner europäischen Januarausgabe. Ein kurzes Stück entfernt bemerkte Ben einen stämmigen Mann in vorschriftsmäßiger dunkler Jeans, modischen Stiefeln, Rollkragenpulli und eng anliegender Daunenjacke. Eine durchsichtige Drahtspirale zog sich seinen Hals hoch bis hinter sein Ohr. Nach seiner Art, den Raum und das Paar im Blick zu haben, musste er ihr Leibwächter sein.
Ben versuchte, sich auf der anderen Seite des Kamins unsichtbar zu machen. Einfach war das nicht. Da traf ein älterer Mann ein, der geradewegs auf das Paar zuhielt. Er trug sein zurückgegeltes silbriges Haar etwas zu lang und verfügte über sämtliche weiteren Kennzeichen eines Menschen, der an seine eigene Macht und Bestimmung glaubt. Sogar ein Kamelhaarmantel hing ihm irgendwie unheilvoll um die schmalen, gebeugten Schultern.
Er begann, lebhaft in Französisch auf das Paar einzureden: Seine Hände traten hinter den Mantelfalten hervor, um seine Anliegen nochmals zu betonen. Ben verfolgte, wie sein Ton zusehends ernsthaft wurde. Dann hakte sich der Alte bei der jungen Frau unter und führte das Paar zur Empfangshalle hinaus. Ihr Leibwächter folgte dicht hintendrein.
Trotz seiner überall steifen Glieder strebte Ben rasch in die andere Richtung und durchquerte den Raum auf den breiten, offenen Flur zu, aus dem der alte Gauner aufgetaucht war. Dort bot eine Glaswand Ausblick auf eine weitere Attraktion des nächstgelegenen Bergs. Die schneeverhüllten Kiefern wichen vor einer atemberaubend senkrechten Felswand zurück, die derzeit in bedrohliches Schlachtschiffgrau getaucht war.
Ganz links, jenseits des Felsvorsprungs und an der Baumgrenze, machte Ben etwas aus, was ein schneebedecktes Dach zu sein schien. Vielleicht das einer Schutzhütte oder Bauernkate. Es wirkte zu abgelegen für ein Winterchalet. Dabei musste es das Hotel aus der Vogelschau überblicken.
Er ging weiter den Flur hinunter, bis er um eine Ecke biegen und der Aussicht den Rücken kehren musste. Ohne das strahlende Tageslicht wurde es trüber. Auf halbem Weg dort entlang fuhr er mit dem Finger über einen schwarzledernen Barcelona-Sessel von Mies van der Rohe. Nicht die Spur eines Staubflusens. Es würde in seinen Bericht einfließen.
Mittlerweile gab es einen ganzen Abschnitt mit Kästchen zum Abhaken über Gänge mit Publikumsverkehr: Sauberkeit, Beleuchtung, etwaige Fenster oder sonstige Außenanbindung, Beschilderung, Kunst, Möblierung. Das Dasein eines Hideaway-Inspektors bestand weit mehr als früher aus Kästchenankreuzen statt scharfsinnigen, erfahrenen und fachkundigen Urteilen.
Seufzend wurde Ben zwei weitere Barcelona-Sessel den Flur hinunter gewahr. Es konsternierte ihn immer wieder, derart ikonische Möbel in Korridoren platziert zu sehen – niemand saß je auf den Dingern. Überdies war er enttäuscht, dass sich der Innenarchitekt des Hotels nichts Originelleres für die weniger frequentierten öffentlichen Räume hatte einfallen lassen.
Am Ende dieses Flurs erstreckte sich nach links und rechts eine weitere Fensterfront. Er hatte das Ende des Gebäudetrakts erreicht. Nun konnte er in beide Richtungen einen weiteren breiten Korridor entlanggehen. Dieses Mal führten die wandhohen Fenster auf einen Innenhof und die weiteren Gebäude und Flügel des Hotels. Zumeist handelte es sich um zwei Stockwerke, jedenfalls oberirdisch. In manchen der Zimmer brannte das Licht bei zurückgezogenen Vorhängen. Viele andere verheimlichten ihr Inneres in Schatten.
Der Schnee lag so tief und unberührt im Hof, dass der Landschaftsbau darunter schwerlich zu ermessen war. Ben meinte, diesen Hof noch nie gesehen zu haben. Sein Zimmer hatte Bergblick. An einem Ende gab es eine Lücke, doch Ben konnte nicht einsehen, was dahinter lag. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs fanden sich Fußabdrücke längs jenes Zimmerflügels.
Er langte nach seinem Telefon, um ein paar Fotos für seinen Bericht zu schießen. Erst als er es in Händen hielt, fiel ihm ein, dass der Akku leer war.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
Ben fuhr regelrecht hoch, schnellte herum und sah eine Angestellte in Kellnerinnenkostüm neben sich. Er fummelte sein Telefon zurück in eine offene Tasche seiner Skijacke, als hätte er etwas Verbotenes angestellt.
»Hab gerade Ihren Innenhof bewundert«, sagte er so ruhig wie möglich. Sie hatte einen hellbraunen Fleck auf dem Kragen ihres weißen Kasacks. »Der Schnee da draußen ist sehr tief, nicht wahr?« Er lächelte sie an. »Kann sein, dass ich auf der Suche nach meinem Zimmer falsch abgebogen bin«, fügte er hinzu und fühlte sich immer noch merkwürdig schuldbewusst. »Aber es macht mir immer Spaß, neue Hotels zu erkunden.«
Sie war von rechts gekommen, während er den Innenhof vor sich hatte. »Was ist da unten?«, fragte er und zeigte hin.
»Die privaten Sitzungszimmer und Sonderräume.«
»Ach, stimmt«, sagte er, so beiläufig er konnte. »Findet da gerade eine Sitzung statt?«
»Für den Vormittag ist sie beendet.«
»Wer in aller Welt saß da zusammen an einem so herrlichen Tag?«
»Darüber weiß ich nicht Bescheid. Nur über die Anzahl Leute, die wir bewirten müssen.«
»War es eine große Runde?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich gehöre nur zur Bedienung.«
»Okay – ich will Ihnen keinen Ärger bereiten oder so. Nur frage ich mich, ob Sie mich wohl einen raschen Blick in die Sonderräume werfen lassen könnten? So was gehört zu meinem Job.« Genauer wollte er nicht werden.
Jetzt war ihre Miene versteinert, weshalb Ben fortfuhr und dabei wieder möglichst beiläufig zu klingen versuchte: »Dieses Hotel ist erstaunlich, es hört gar nicht mehr auf, so viele Flügel und Anbauten. Es ist viel größer, als man zuerst denkt.«
»Die Sitzungszimmer sind für den ganzen Tag gebucht. Ich fürchte, Sie werden sie gerade nicht besichtigen können. Es ist ein ranghohes Treffen mit Security.«
Offensichtlich hatte er es nicht geschafft, sie zu umgarnen. Der Flur war leer, die Tür an dessen Ende fest geschlossen. Es hätte Ben allerdings nicht überrascht, hielten sich auf der anderen Seite ein, zwei Schwergewichte auf, womöglich bewaffnet. Ben fragte sich, welches Landesrecht für diesen Teil des Hotels galt. Die Waffengesetze unterschieden sich stark zwischen Italien, Frankreich und der Schweiz. Während alles dazwischen Auslegungssache sein mochte.
»Wann könnte ich denn einen Blick hineinwerfen?«, fragte er trotzdem.
»Morgen ist es vielleicht möglich. Sie müssten sich erkundigen.«
»Security, hä? Müssen ein paar richtig wichtige Leute hier sein.«
Sie versuchte ein Lächeln. »Kann ich Ihnen den Weg zurück zum Empfang zeigen oder zu Ihrem Zimmer, wenn Sie sich verlaufen haben?«
Ben erkannte jetzt, dass sie ihm den Weg zu den Sitzungsräumen absichtlich versperrte. Sich an ihr vorbeidrängeln wollte er nicht. »Ich finde mich schon zurecht«, sagte er mit Blick auf seine Armbanduhr, als wäre er in plötzlicher Zeitnot.
Mittlerweile schmerzten ihn alle seine Glieder wie auch sein Kopf, und er beschloss, auf sein Zimmer zurückzukehren und von dort aus den Leuten nachzusteigen, die gegenwärtig das Hotel zu leiten hatten. Nach nur ein paar Schritten in die andere Richtung blieb er stehen und sah über die Schulter. »Woher wussten Sie, dass ich Engländer bin?«, rief er auf möglichst freundliche Art und Weise. »Sie haben mich sofort auf Englisch angesprochen.«
»Ihre Schuhe.« Sie blieb, wo sie war.
»Ach ja«, entgegnete er. »Ziemlich das Einzige, was die Engländer noch ganz gut können – Schuhe machen. Und mal eine Jacke«, fügte er an und dachte an Old Town, wo er weiterhin seine gediegenere Kleidung bezog, die rein aus natürlichen Fasern bestand und richtig atmen konnte. Er musste wirklich raus aus seinen Skisachen, so sehr schmorte er im eigenen Saft, wobei er sich ausgesprochen unbehaglich fühlte.
Er stopfte sich seine Jacke um den Arm. »Aber man muss kein Engländer sein, um solche Schuhe zu tragen«, wandte er eingedenk der Budapester ein, die er in Spind Nummer 22 gesehen hatte.
»Hilft aber«, sagte sie.
Im Weitergehen fragte sich Ben, ob sie ihm überhaupt schmeicheln wollte. Zudem ging ihm das Konzept von Identität und Nationalität an diesem äußerst internationalen Ort durch den Kopf, und wer und warum jemand wohl sein wahres Wesen und eigentliches Tun hier zu verhehlen suchen mochte.
Jemand wie er.