Dienstag, 13:20 Uhr

Ein Mann war heute Morgen unter höchst verdächtigen Umständen gestorben, während das Hotel seinen gewohnten Tagesablauf beibehielt. Wie hatte so ein Todesfall unbemerkt bleiben können, Ben einmal ausgenommen? Bloße Unachtsamkeit reichte dazu nicht aus. Wie viele Leute mussten dabei ihre Hand im Spiel gehabt haben? Diese Gedanken hatten ihn den ganzen Weg zurück zu seinem Zimmer verfolgt.

Ben schälte sich aus beträchtlich vielen Schichten einschließlich seiner Skihose und dicken Socken und plumpste erledigt aufs Bett. Es war nur von minder breiter Königsgröße, da er ein Standard-Deluxe-Zimmer hatte. Trotz seines Hideaway-Platinstatus war ja keine Last-minute-Aufwertung erfolgt. Wenn die wüssten, wie groß seine Treue wirklich war. Warum war das Hotel mitten in der Woche, mitten im Januar, voll belegt? Wendy Spurling besorgte ihm immer nur dann ein Zimmer, wenn ein Hotel nicht rappelvoll war. Eine große kurzfristige Buchung war schuld. Und es waren nicht der amerikanische Milliardär und seine Kumpane, die diesen Urlaub fraglos seit Monaten geplant hatten. Es war eine alljährlich wiederkehrende Unternehmung.

Wer mit Leibwächtern verreiste und hochrangigen Tagungen eines »Konsortiums« beiwohnte, gab seinen Zeitplan selten lange im Voraus bekannt. Nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen. Was trieb diese Leute hier um? Waren die drei Schwergewichte vom Range Rover im Paket inbegriffen?

Körperliche Erschöpfung und vielleicht die Folge zweimaligen ausgiebigen Frühstückens, das eine Mal mit Alkohol, überkamen Ben zügig, obwohl schon Mittagszeit war. Was für ein Morgen. Ein Nickerchen würde ihm dabei helfen, den Kopf freizubekommen. Er war völlig geschafft. Doch ein Nickerchen in diesem Moment sollte ihm verwehrt bleiben, denn plötzlich klingelte das Telefon laut und schrill – der Festnetzapparat im Zimmer.

Ben langte hinüber, um den schweren silbergrauen Metallklumpen von Hörer aus der Gabel zu heben. »Hallo?«

»Mr Martin?«

»Ja?«

»Ich bin Eric Langeskov, der Duty Manager.«

»Ah, endlich. Sind Sie zufällig Däne?«, fragte Ben beim Versuch, wach zu werden.

»Bin ich in der Tat.«

»Ich hatte mal einen Schulfreund namens Langeskov. Der war zur Hälfte Däne.«

»Ich bin es hundert Prozent«, sagte Eric stolz.

»Gut zu wissen«, sagte Ben. Was in aller Welt meinte er damit? Er schüttelte den Kopf, wollte die Schläfrigkeit, den Schnaps verscheuchen.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Eric.

»Soweit ich weiß, hat Sie diese Sondersitzung, die gerade stattfindet, den ganzen Morgen in Beschlag genommen?«

»Ja, damit war ich beschäftigt, tut mir leid. Bei so wichtigen Leuten muss alles perfekt laufen. Ich hoffe, Sie verstehen das.«

»Schätze schon«, sagte Ben. Liebend gern hätte er seine wahre Identität und den Grund für seinen Besuch des G aufgedeckt. Und den Duty Manager daran erinnert, dass jeder Gast eines Hideaway eine wichtige Person war.

»Sie hatten hoffentlich keine Unannehmlichkeiten.«

»Es ist ein kleines Hotel.«

»So klein auch nicht. Wir haben siebzig Zimmer.«

»Ich dachte, Sie hätten zweiundsiebzig.«

»Nun, ganz genau, ja. Sie sind gut unterrichtet, Mr Martin.«

»Bin ich gern, ja«, fügte Ben rasch an und hoffte, nicht zu viel über sich und seinen Einsatz hier preisgegeben zu haben. Es hieß sorgsam haushalten mit den Fakten, die man kannte – das hatte Ben während seiner Zeit als Journalist gelernt. Information war Macht und Einfluss.

»Der Grund, weshalb Sie mich sprechen wollten? Etwas Ernstes womöglich, höre ich.«

»Ja«, sagte Ben, »es ist ernst. Heute früh bin ich gleich los zu den Pisten, wollte dem Andrang zuvorkommen und Erster am Lift sein.«

»Hier herrscht kein Andrang«, sagte Eric. »Nicht mal, wenn wir voll belegt sind.«

»Höre ich immer wieder und hab ich selbst festgestellt«, sagte Ben und spürte, dass Eric lächelte. »Nur war ich nicht ganz für mich.«

»Sie sind mit einem weiteren Gast hier?«

»Nein, ich bin allein.« Müsste der Duty Manager das nicht wissen?

»Ein Freund?«

»Ich bin allein in eine Gondel gestiegen, war aber nicht allein drin.«

»Tut mir leid, wenn ich nicht ganz folgen kann.«

»Drinnen war schon jemand.«

»Das kann passieren. Die Leute teilen sie sich öfters.«

»Er war tot. Richtig tot.«

»Das war der Lift den Mont Grande hoch?«

»Derjenige welcher, ja.«

Ben schilderte genau, was er vorgefunden hatte und wie er gar, als sich der Lift festfuhr, mitsamt der Leiche in der Gondel stecken geblieben und endlich am Zwischenhalt ausgestiegen war. Ebenso seine Versuche den restlichen Morgen über, Alarm zu schlagen. »Alles vergebens. Es scheint keinen im Mindesten zu kümmern. Die Seilbahnwärter schauten buchstäblich in die andere Richtung. Meiner Meinung nach fährt der Ärmste immer noch im Kreis den Berg rauf und runter.«

»Das ist ganz außerordentlich, wirklich eine sehr ernste Sache«, sagte der Duty Manager. »Gehört habe ich aber nichts davon.«

»Ich habe mich sehr bemüht, die richtigen Leute auf das Vorkommnis aufmerksam zu machen, während mich andere nicht ernst nahmen und glaubten, ich würde mir einen Scherz erlauben«, sagte Ben. »Ich bin mir möglicher Empfindlichkeiten unter solchen Umständen bewusst, dennoch wollen Sie vielleicht zu gegebener Zeit ihre Verbindungswege zum Liftpersonal überprüfen, die Abstimmung mit den Leuten, die draußen auf den Pisten arbeiten. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass ich Sie und den stellvertretenen Sicherheitschef seit Stunden zu erreichen versucht habe.«

Am Telefon folgte langes Schweigen. Ben rätselte, ob er sich mit jemand anderem besprach. »Hallo?«, sagte Ben mit Nachdruck. Er war überrascht von Eric Langeskovs Unkenntnis, dass wohl etwas im Argen lag. Oder hatte der Duty Manager vor lauter Arbeit mit seiner Sondersitzung kein Bein mehr auf den Boden bekommen und war weitgehend unabkömmlich gewesen? Falls ja, war das keine Art, ein Hideaway zu führen.

»Ich hege keinerlei Zweifel daran, was Sie sagen«, meldete sich Eric wieder, »aber Sie verzeihen bitte, ich verstehe nicht, wie so etwas überhaupt passieren konnte und dass dann niemand sonst Alarm geschlagen hat außer Ihnen.«

»Weil es hier keinen Andrang gibt?«, warf Ben ein.

»Da sind natürlich die Seilbahnwärter.«

»Kennen Sie diese Leute gut? Haben Sie versucht, sie zu sprechen?«

»Es verkehren Hotelangestellte zwischen hier und dem Gipfelrestaurant, außerdem die Gäste, all die Leute draußen auf den Pisten. Jetzt ist Mittagszeit. Und Sie sagen, dass Sie gleich heute früh in eine Gondel gestiegen sind und schon ein Toter drin war?«

»Ja, genau das sage ich.«

»Sie haben es als Einziger bemerkt?«

»Ich weiß nicht, ob als Einziger, aber einstweilen scheine ich der Einzige zu sein, der Alarm zu schlagen versucht.«

Eric seufzte sehr laut und unhöflich. »Sollte jemand gestern Abend ausgeblieben und in einer Gondel verstorben sein«, er hustete, »wäre er von den Liftführern gestern Abend gefunden worden, wenn nicht heute Morgen. Wir würden alle mit Sicherheit davon wissen. Aber das ist nicht geschehen. So was ist noch nie geschehen. Leute sterben nicht einfach unbemerkt in den Skiliften. Alles wird gründlich geprüft, wenn sie über Nacht schließen, und noch mal, bevor sie morgens öffnen – davon gehe ich unbedingt aus.«

»Und wenn er heute früh starb, nachdem die Lifte durchgesehen wurden, und ich eben als Erster zum Fundort kam?«

»Ja, das mag wohl möglich sein. Vielleicht ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Nur, wie wäre er vor Ihnen in den Lift gelangt, wenn Sie der erste Fahrgast gewesen sind?«

»Vielleicht habe ich mich ein paar Minuten verspätet.«

»Aber dass er bis ganz hinauf und wieder zurückfuhr – gleichfalls unbemerkt? Dazu war keine Zeit.«

»Wir müssen feststellen, wie viel eher sich der Lift in Bewegung setzt, bevor er für die Gäste öffnet. Zuerst müssen Sie Ihre Mitarbeiter zum Gipfelrestaurant schaffen, nicht wahr?«

»Sie denken, er könnte sich hineingemogelt und einmal eine ganze Runde gedreht haben, ehe Sie an Bord genau derselben Gondel gingen?«

»Ich weiß nicht recht, was ich denken soll. Ist auch gar nicht meine Pflicht, sondern Ihre.«

»Obwohl Sie Zeuge sind? Sie sind derjenige, der diese Leiche gesehen hat. Womöglich als Einziger.«

Ben war sich nicht sicher, ob ihm Eric Langeskovs Tonfall gerade gefiel. »Zweifeln Sie an mir?«

»Nein, nein, überhaupt nicht.«

»Ich verrate Ihnen noch etwas Merkwürdiges.«

»Ja?«

»Er steckte in Skisachen, aber es gab weit und breit weder Skier noch Stöcke, noch einen Helm. Er trug nicht mal Handschuhe.«

»Viele Leute machen sich auf den Weg zum Gipfel der Aussicht und unseres exklusiven Restaurants wegen. Das ist ein unglaubliches Erlebnis. Er könnte zum Frühstück gefahren sein ohne jede Absicht, Ski zu laufen. Nicht jeder hier fährt Ski oder Snowboard.«

»Er trug Skistiefel.«

»Die Liftstation und das Restaurant trennt ein Fußweg. Vielleicht hielt er Skistiefel für besonders geeignet.«

»Niemand bei Verstand würde freiwillig Skistiefel tragen, um auch nur ein kurzes Stück zu gehen.« Ben verlor allmählich die Geduld mit Eric.

»Es muss einen logischen Grund dafür geben.«

»Dass daraufhin die Leiche verschwindet?« Ben wollte die Einzelheit des rätselhaften Speichels und Schnodders vorerst für sich behalten.

»Es ist eine lange Seilbahn«, sagte Eric. »Sie legt über zweitausend Meter zurück. Es gibt viele Gondeln. Und wenn das Hotel auch voll ist, die Skilifte sind es nie.«

Ben fühlte das harte, kantige, schwere Designertelefon an seinem Ohr heiß werden. »Können Sie den Lift gründlich durchsehen lassen, jede Gondel, unverzüglich, bitte?«

»Ja, ja, dem kann ich nachgehen.«

»Viel Glück«, sagte Ben. »Ich habe ja versucht, ihn zum Halten zu bringen, als ich zuerst am Zwischenhalt ausstieg. Leider gelang es mir nicht, dem Mitarbeiter das Problem auseinanderzusetzen. Die Leiche fuhr weiter, und der Seilbahnwärter reichte mir meine Skier. Also machte ich wieder kehrt, um es unten zu versuchen, wieder mit wenig Erfolg.« Ben war klar, dass er sich wiederholte, aber er musste sein Anliegen unmissverständlich auf den Punkt bringen.

»Das tut mir leid«, sagte Eric. »Es ist unzureichend, egal in welcher Situation. Gästen muss sich immer angenommen werden.«

»Wer betreibt eigentlich die Skilifte? Das G?«

»Wir haben einen Liftbetreiber unter Vertrag, beschäftigen das Personal also nicht selbst. Das ist so üblich. Wir sind keine Fachleute bei so etwas wie Seilbahnen oder Pistenpflege. Ich glaube übrigens, dass der Firmenchef zufällig heute Morgen im Hotel war. Das sind mit die besten Konstrukteure und Betreiber von Skiliften auf der Welt – ein französisches Unternehmen. Es hat einen tadellosen Ruf. Sie arbeiten überall in den Alpen und vielen anderen Gebirgsketten.«

»Ich finde, dass keiner mehr zum Lift vorgelassen werden sollte, bis er richtig überprüft worden ist«, sagte Ben einmal mehr in Gedanken beim Thema Tatortsicherung.

»Wir müssen allen unseren Gästen gerecht werden«, sagte Langeskov, »und zwar besonders an einem so schönen Tag. Im Übrigen dürfen wir niemanden im Stich lassen. Solange wir Leute irgendwo am Berg haben, muss der Lift laufen, das ist nun mal die Regel. Können Sie mir sonst noch irgendwelche Einzelheiten nennen?«

»Er war ungefähr in meinem Alter – Anfang fünfzig. Vielleicht etwas schlanker, volles Haar. Blasser Hautton – wobei er gerade gestorben war und Frost herrschte. Ist irgendwer heute Morgen vermisst gemeldet worden?«

»Nein, meines Wissens nicht.«

»Sie sind voll ausgelastet, ja?«

»Ja.«

»Ist irgendwer heute früh abgereist? Ist irgendjemandes Abreise vorgesehen?«

»Ich hab das jetzt nicht alles griffbereit, aber in diesem Saisonabschnitt checken täglich Leute ein und aus. Sie stellen eine Menge Fragen, Mr Martin.«

Ben erwog, weiter aus der Deckung zu gehen, immerhin spielten sie sozusagen in derselben Mannschaft. Doch seine Vorbehalte gegenüber dem Hotel, der ganzen Aufstellung hier waren geblieben, und er wurde mit Eric Langeskov nicht warm. Zumal in seinem Hinterkopf der Gedanke umging, Hideaway nicht bloßstellen und noch einen Auftrag versemmeln zu dürfen – noch nicht. »Wie sollte ich nicht?«, gab Ben zurück. »Man trifft nicht alle Tage auf eine Leiche im Skilift. Das verdirbt mir meinen Aufenthalt.«

»Was ich zutiefst bedaure. Aber beim größten Respekt, Sir, ist dies eine höchst merkwürdige Situation – was Sie mir erzählen und worum Sie bitten. Im Augenblick haben wir keinerlei Beweis eines Todesfalls oder für sonst etwas Unbotmäßiges. Wir haben nur Ihr Wort.«

»Oh, ich habe den Beweis«, sagte Ben.

»Ja? Was ist das für ein Beweis?« Erics Stimmlage erhöhte sich.

»Fotos auf meinem Handy.« Kaum zu glauben, dass er dermaßen infrage gestellt worden war und das von einem so jung klingenden Duty Manager. Er war immer der Meinung gewesen, dass der Gast recht hatte. Es war das eine Grundgebot in der Hotellerie. Selbst wenn der Gast klar im Unrecht war – wie häufig der Fall –, musste ihm dennoch versichert werden, er sei im Recht, und das Hotel werde ihn bestmöglich unterstützen. »Zweifeln Sie an meiner Geschichte?«, fragte er, um das Maß vollzumachen.

»Ginge es in Ordnung, wenn ich mir diese Fotos ansehen könnte? Vielleicht hilft es uns, den Toten zu identifizieren.«

»Ja«, sagte Ben. »Wobei wir natürlich behutsam vorgehen müssen. Wir wissen nicht, ob er in Begleitung oder mit Freunden hier war oder allein.«

»Wiederum sollte derlei unsere Sorge sein und nicht Ihre. Nebenbei, Mr Martin, wissen wir nicht mal, ob diese Person überhaupt im Hotel wohnte.«

»Gewiss ist es doch zu so früher Morgenstunde und in einer hoteleigenen Liftgondel am wahrscheinlichsten, dass sie es tat, oder?« Ben hätte noch die zusätzlichen Verdachtsmomente anführen können, die sich aus seiner späteren Inaugenscheinnahme von Spind 22 ergeben hatten. Doch er entschied, dass sie nur das waren – Verdachtsmomente. Eric Langeskov war offenbar jemand, der sich lieber mit Handfesterem beschäftigte, sofern er sich überhaupt gern mit etwas beschäftigte.

»Sie wären überrascht. Jeder in Gesellschaft eines Hotelgasts kann mit unseren Liften fahren. Blinde Passagiere hatten wir auch schon. Es gibt keine Schranken oder Pässe, und wer unser Skigebiet nutzt, kann unsere Lifte kraft Übereinkunft benutzen. Wobei solche Übereinkünfte eher dehnbar und offen sind. Uns ist es lieb, wenn unsere Gäste in den anderen Skigebieten, die sie von hier aus aufsuchen könnten, gut betreut werden.«

Für Ben klang das alles viel zu lässig. »Trotzdem, so früh am Morgen?«, fragte er. »Wäre er aus einem anderen Skigebiet über einen der Hochgebirgspässe gekommen, dann keineswegs morgens als Erster. Das würde zu lange dauern.«

»Vielleicht war er Nachtskifahrer? Wir sind in einer sehr abgelegenen Gegend, und das räumliche und wintersportliche Einzugsgebiet des Hotels umfasst eine weite Fläche Wald und Gebirge. Das ist unmöglich alles einzuzäunen, was das Hotel auch überhaupt nicht anstrebt.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das meinen Einwand beantwortet. Außerdem hatte der Mann keine Skier dabei. Ich habe nirgends welche gesehen.«

»Können Sie mir die Fotos mailen?«, bat Eric, »an die Hauptanschrift des Hotels und zu meinen Händen? Das dürfte der rascheste und sinnvollste Weg sein, um diese Angelegenheit zu klären.«

»Tatsächlich nein, lieber nicht«, sagte Ben. »Diese Fotos sind eindeutig verstörend, und wir wollen nicht, dass sie in die falschen Hände gelangen.«

»Sie zweifeln hoffentlich nicht an der Sicherheit und Diskretion des Hotels.«

»Wir wollen wirklich nicht, dass solche Bilder in die falschen Hände gelangen. Ich komme runter – sie sind auf meinem Mobiltelefon gespeichert.«

»Gut, das wäre freundlich von Ihnen, wenn es nicht zu viele Umstände macht. Ich kann gerade schlecht meinen Arbeitsplatz verlassen.«

Den ganzen Morgen über ging das sehr gut, dache Ben. »Ich muss mich duschen und umziehen. Dann komm ich runter.« Es bestand wenig Grund mehr zur Eile, entschied Ben. Der Mann war seit geraumer Zeit tot. Ben rief sich neuerlich den trocknenden Speichel in seinem Mundwinkel vor Augen – eine Vorstellung, die ihn bereits zu verfolgen begann. Könnte er vergiftet worden sein?

»Ich erwarte Sie am Empfangstresen.«

Ben legte den Hörer auf seine gleichermaßen scharfkantige, metallharte Gabel. Er brauchte länger als sonst, um sich die restlichen Sachen auszuziehen. Steifheit, Muskelkater und Schmerzen infolge seiner Abfahrtsbemühungen mitsamt Sturz forderten mehr als ihren Tribut. Weitere Minuten kostete es ihn, die Dusche auf die richtige Temperatur und Sprühstärke einzustellen. Wie so oft der Fall, gab es viel zu viele übermäßig empfindliche Skalen und Drehknäufe. Die Kabine allerdings war für das normalgroße Zimmer geräumig – zwei Leute hätten locker hineingepasst.

Die kostenlosen Badezusätze waren ebenfalls ausgezeichnet. Ihre eigentlichen Hersteller waren schwer zu ermitteln, denn alle Tinkturen kamen in Flaschen, Tuben und Päckchen mit Hotellogo. Den Düften und Konsistenzen meinte Ben schon begegnet zu sein. Nur wenige Hideaways setzten auf standortnahe Erzeugnisse. Es war unwirtschaftlich, wobei die Ausnahmen von dieser Regel glänzten. Kundenrezensionen hoben immer auf so etwas ab, umso mehr bei einheimischen, handwerklichen und umweltschonend hergestellten und verpackten Produkten. Beinahe so, als ließe sich die ungeheure Verschwendungssucht solcher Luxushotels übersehen, solange es ein paar ökogelabelte Gratisproben gab.

Als er aus der Dusche trat und sich in ein riesiges, flauschiges silbergraues Badetuch wickelte, schaute Ben sehnsüchtig zum Bett – nicht das größte natürlich, aber die Laken, Kissen, Steppdecke und Matratze waren alle von höchster Güte. Alles würde dementsprechend auf den verschiedenen Formularen vermerkt werden. Der Bergblick aus dem Zimmerfenster war obendrein atemberaubend, auch wenn die steilen Pisten nun zumeist in klirrekaltem Schatten lagen. Er hatte ganz vergessen, welch schieren Genuss solch froststarrende Ansichten von einem warmen, gemütlichen, bald schon zu heimeligen Hotelzimmer aus bereiteten.

Er schlüpfte in einen seiner weichsten Old-Town-Anzüge, stieg in seine Budapester und besah sich im Spiegel. Die Dusche hatte seine Gliederschmerzen etwas gelindert. Es tat gut, sich sauber und erfrischt zu fühlen. Seine Erscheinung bekümmerte ihn allerdings. Sah er dem Toten wirklich so ähnlich?

Da gab es nur eines. Er suchte in seinen Taschen nach seinem Telefon, um sein Ebenbild zu begutachten, ehe er hinuntergehen und alles vor dem Duty Manager offenlegen würde. Er hatte das Telefon nicht bei sich. Natürlich, es steckte noch in einer Tasche seiner Skijacke.

Da war es aber nicht. Er zog die Jacke aus dem Wandschrank und ging neuerlich ihre Taschen durch. Es war keinesfalls dort. Dann kehrte er in den Wohnbereich zurück und suchte überall, sogar unter Bettdecke und Kissen. Er überflog sämtliche Oberflächen, dann die Badezimmerborde, eher er zum Wandschrank zurückkehrte. Diesmal zerrte er sämtliche Skiausrüstung hervor einschließlich seiner Skihose und ging jede Tasche jedes Kleidungsstücks zwei Mal durch. Er sah unterm Bett nach. Es freute ihn, dort makellos staubfreie Reinlichkeit vorzufinden – doch jetzt war nicht die Zeit, irgendwelchen Hideaway-Prüfabläufen zu genügen.

Kein Handy lag darunter noch sonst wo auf dem Fußboden seines Zimmers, stellte er auf allen vieren kriechend fest. Er kam hoch, und ihn verließ der Mut. Was zum Teufel hatte er damit angestellt? Er versuchte, sich zu erinnern, wann er es zuletzt benutzt hatte. Denk nach!, befahl er sich, während seine Panik wuchs. Er fühlte sich wie ein Kind, das sein Lieblingsstofftier verloren hatte.

Endlich entsann er sich, wann er es zuletzt in der Hand gehalten hatte. Es war im Flur zum Sitzungsraum gewesen, mit dem Blick auf den verschneiten Innenhof. Er hatte erwogen, die Ansicht zu fotografieren – und ganz vergessen, dass der Akku leer war –, und war gleichsam dabei ertappt worden.

Die Kellnerin hatte sich regelrecht angeschlichen, ihn im Flur gestellt und ihm nachdrücklich bedeutet, die andere Richtung einzuschlagen. Wie wichtig war diese verdammte Sitzung eigentlich? Er erinnerte sich, wie er hastig das Telefon verstaute, ehe er die Skijacke auszog, weil ihm heiß war, teils aus Verlegenheit. Das Telefon musste herausgefallen sein. Wahrscheinlich lag es immer noch im Flur auf dem Boden. Und falls jemand es gefunden hatte, würde es am Empfang abgegeben worden sein.

Schließlich war es die Sorte Hotel dafür. Die Leute ließen ihre Spinde unverschlossen und Skiausrüstung unbewacht zurück. Nichts ging hier verloren. Und doch hatte jemand sein Leben verloren, einfach so. Jemand war verschollen. Ben begriff, dass er das aufklären musste, nicht nur um des armen Mannes und seiner Angehörigen, sondern auch seiner eigenen geistigen Gesundheit willen. Abermals würden seine Dienstpflichten dahinter zurücktreten müssen.