Bevor Ben in seinem Zimmer eintraf, wurde es allmählich dunkel, und die Sonne war längst hinter das nächstgelegene Gebirgsmassiv geschlüpft. Er zog die Vorhänge zurück und stellte fest, dass es nicht wirklich schon dämmerte, sondern sich dicke Wolken ballten. Heute sah es besonders düster aus. Er beobachtete, wie eine Reihe Skifahrer und Snowboarder den letzten Abschnitt der Piste herabsausten und schnurstracks dem Hotel entgegenstrebten. Der Weg zur Liftstation lag verwaist da.
Immer noch sah er die Designergondeln über die Talsohle hinwegschweben. Offensichtlich war es Eric nicht gelungen, die Anlage stillzulegen. Was Ben nicht überraschte. Es hätte keinen guten Eindruck gemacht bei den anwesenden VIPs des sogenannten Konsortiums, an dem angeblich auch der Chef des Liftbetreibers teilnahm. Ben vermutete, dass der Lift in Kürze den Betrieb bis zum nächsten Morgen einstellen würde, sobald die Maschinisten jede Gondel überprüft hätten.
Als er die vom Boden zur Decke reichende Glastür zum zimmereigenen kleinen Balkon aufzog, überkam Ben ein grimmiger Kälteschwall. Er trat hinaus, nur um sogleich wieder zurückzuweichen und die Tür fest zu schließen. Ihm war klar, dass er sich auf den Weg hinüber zur Liftstation machen müsste, um nachzuprüfen, wie sorgfältig die Maschinisten tatsächlich vorgingen. Ebenso klar war ihm, wie wenig wahrscheinlich die Leiche immer noch in der Blase sein würde. Zu viele Stunden waren verstrichen. Sicherlich mussten zu viele Leute in den Lift gestiegen sein – selbst in dieser exklusiven Anlage, in der es keine Warteschlangen gab.
Schließlich war es ein herrlicher Tag gewesen. Und sollte es bei der Schließung des Lifts eine Leiche zu entdecken geben, dann würden Eric und sein Stab ohnehin bald davon wissen. Falls nicht irgendwer etwas anderes im Sinn hatte. Gut möglich, dass dem so gewesen war, schon vor einer ganzen Weile am heutigen Tag.
Bens Gedanken verfielen auf den Range Rover, den er am Morgen mit Pulvereis bespritzt hatte. Wohin waren die drei gepflegten Schlägertypen davongefahren mitsamt ihren schwarz getönten Scheiben und tödlichen Blicken? Hatte sich irgendwas im Laderaum befunden? Diese Wagen waren riesig. Eine Leiche darin zu verstecken, wäre ein Leichtes gewesen, mit oder ohne Skistiefel.
In Wahrheit hatten sich die Portion Fritten und zwei Gläser mehr Château Lichten dagegen verschworen, dass er sich heute noch einmal hinauswagen würde. Das Abendessen war für acht Uhr gebucht, womit die Zeit kaum ausreichte, um sein Zimmer angemessen zu begutachten, zumal er es jetzt mit noch mehr neuen Formularen und neuer Ausrüstung aufnehmen musste. Als ob Hideaway seinen Inspektoren nicht länger zutraute, der Aufgabe gerecht zu werden. So ganz krumm konnte er es der Firma nicht nehmen.
Trotzdem ging es mit seiner Stimmung auf Talfahrt. Ein weißer Handschuh, nicht zu fassen. Ihm war nun auferlegt worden, erst einen Handschuh überzustreifen und dann mit der Hand über alle Oberflächen zu fahren. So tief würde er niemals sinken.
Er griff nach seinem Laptop und fiel regelrecht aufs Bett. Es gab eine Reihe neuer E-Mails, alles Arbeit, und ein paar Textnachrichten, die auf seinem Rechner gelandet waren. Wendy Spurling, die Reservierungs-Oberin bei Hideaway, war wie stets äußerst erpicht darauf zu hören, wie es lief. Ob er vollen Gebrauch von sämtlichen Einrichtungen mache und nicht zu viel esse und trinke. Ob er irgendjemanden Interessantes kennengelernt habe – eine eher kürzliche Hinzufügung zu ihren Erkundigungen. Sogar ob Emily Muller, ihrer aller Chefin, ihn »wieder behelligt« habe. Wendy war sowohl mütterlich wie eifersüchtig. Eine fürchterliche Kombination.
Es gab eine Mitteilung von Marc Hoffman, inzwischen Abteilungsleiter in Sachen Digitale Sicherheit, der ein neues, plattformunabhängiges Diskussionsforum testete. Und eine von seiner Tochter Natalie, die sich dafür entschuldigte, seinen Anruf vom Vorabend verpasst zu haben, aber »voll auf dem Schlauch« gewesen sei »bei der ganzen Scheiße, die hier abgeht«. Und wirklich, sie fragte nach, ob es ihm gut gehe, weil sie ihn auf dem Handy nicht erreichen konnte. »Du musst es echt aufladen, Dad.«
Das rief ein Lächeln auf seinem Gesicht hervor. Sie kannte ihn nur zu gut. Er simste ihr eine Nachricht zurück: Sorry, jetzt hab ich mein Telefon verloren! Werde Dich bald auf FaceTime kontakten. Was ist da los? Ist Deine Mum okay? Dad X.
Er hatte in jüngerer Zeit nicht genug mit Natalie geredet. Am Wochenende war er in Vorbereitung auf die Reise quer durch Frankfurt gejagt, während ein Nachbar lange und zermürbend seinen fünfzigsten Geburtstag feierte. Als er mal nicht durch die Gegend hetzte, saß er an seinem Schreibtisch und versuchte endlich, an seinem verflixten Krimi weiterzuschreiben – bevor es wieder auf Reisen ging. Er hatte einen Neujahrsvorsatz gefasst und sich ein Abschlussziel gesetzt. Es wäre das letzte Ziel, schwor er sich, das er sich je setzen würde. Sollte er es verfehlen und das wöchentliche Kapitelpensum, dann wäre es das Ende des Vorhabens und ehrlicherweise der ganzen Bestrebung. Bislang hatte er darin versagt, im Verlauf des Jahres eine Seite zu schreiben, geschweige denn ein Kapitel.
Sein Blick auf den Laptop bestärkte ihn nur darin, jetzt erst recht mit der echten Aufgabe weiterzumachen. Über wessen Leiche war er gestolpert, wie war derjenige gestorben, warum, und wer vertuschte es? Leichen verschwanden nicht einfach, nicht mal in den Hochalpen.
Vom Launchpad aus öffnete Ben Fotos. »Was?« Er scrollte rauf und runter, schloss die Anwendung, öffnete sie wieder. »Das darf nicht wahr sein!« Doch, und er schrie jetzt sogar. Als letztes Foto tauchte der Bahnhof von Martigny auf, ein tristes Stück Bahnsteig in schiefem Winkel. Er hatte das Bild gar nicht aufnehmen wollen, aber die Kamera seines Telefons musste aufgerufen gewesen sein, als er es aus der Tasche zog. Er musste versehentlich ein Foto geschossen haben, während er das Fenster zu schließen versuchte. So etwas war ihm nicht zum ersten Mal passiert. Vielmehr war sein Album voller solcher Bilder und Videos. In Abständen löschte er sie.
Es gab keine Fotos von der Leiche. Ihm war schleierhaft, weshalb sie sich nicht von selbst auf die Cloud hochgeladen hatten. Oder doch nicht. Er hatte die Fotos und das kurze Video oben auf dem Berg aufgenommen, wo der Empfang bestenfalls lückenhaft gewesen war. Ehe er wieder zum Fuß des Berges und in einen Bereich mit besserer Mobilfunkabdeckung gekommen war, musste sein Telefonakku entladen gewesen sein. »Scheiße.«
Was er gleichfalls unterlassen hatte, wurde ihm nun klar, als er die Einstellungen seines Laptops überflog, war eine Aktivierung der iPhone-Suchfunktion. So eine Unterstützung hatte er nie benötigt, da sein Telefon stets bei ihm gewesen war. Wo befand es sich derzeit? Warum hatte keiner es abgegeben? Schließlich kam in diesem Hotel nichts »abhanden«. Von wegen. Von seinem Handy war er wahrscheinlich abhängiger als seine siebzehnjährige Tochter von ihrem. Er verlor keine Habseligkeiten. Außer vielleicht den Verstand, kam es ihm allmählich vor.
Er kletterte aus dem Bett und trat hinüber an die Fenster. Draußen sah es jetzt sogar noch furchteinflößender aus. Sich stetig verfinsternde Wolken und die Dämmerung wälzten sich über den Kamm und zum Pass herunter wie etwas aus einem endzeitlichen Science-Fiction-Streifen. Der Pistenabschnitt, den er einsehen konnte, war nun leer, doch der Skilift lief noch immer!
Immerhin war das Innere seines Zimmers ein wärmendes Zusammenspiel aus Kiefer, Stahl und poliertem Beton. Es gab genügend Möbelpolster, um die nackten, harten Materialien zu bemänteln. Eine clevere Mischung. Vielleicht war er zum Hotelinspektor geboren – mehr jedenfalls als zum Krimischriftsteller. Die einzige Fehlanzeige in seinem Deluxe-Standardzimmer war ein schicker moderner Holzkaminofen. Derlei war den echten Zimmerfluchten vorbehalten, soweit er wusste.
Sich übervorteilt fühlend, plumpste Ben zurück aufs Bett und googelte alsbald einen gewissen Liam Roth, Wirtschaftsjournalist, Zürich. Binnen Minuten hatte er herausgefunden, dass Roth ein unerschrockener Investigativreporter, Produzent und Autor war, der sich mit der Aufdeckung von Korruption in der Unternehmenswelt einen Namen gemacht hatte. Er hatte für alle wichtigen deutschen und Schweizer Zeitungen gearbeitet und einmal auch eine eigene Spalte im Wall Street Journal innegehabt.
Das letzte Jahrzehnt über hatte Roth unabhängig gearbeitet. Er war vielsprachig und laut eines sehr alten Profils begeisterter Radfahrer und Hobbykoch. Vater von drei Kindern, hatte er einmal eine Affäre mit einer bekannten französischen Schauspielerin gehabt, wobei sein gegenwärtiger Familienstand im Dunkeln lag. In der Tat schien es, als habe er absichtlich seit Jahren unter dem Radar zu fliegen versucht. Je mehr Ben las, umso widersprüchlicher wirkte Liam Roth auf ihn.
Das jüngste Foto, das er finden konnte, war auf 2012 datiert. Es zeigte einen schlanken Mann etwa mittlerer Größe mit dunkelbraunem Haar. Er trug eine dick umrandete Brille und sah eher wie ein Gelehrter aus denn wie ein Lebemann. Nicht auszuschließen, dass es der Mann war, den Ben am Morgen zusammengesunken in der Blase gesehen hatte. Er betrachtete aufs Neue die Bilder von Liam Roth und versuchte, sich an sein eigenes Aussehen 2012 zu erinnern. Etwas schlanker, vielleicht ein wenig zufriedener. Aber Liam Roth auf den Fotos ähnlich? Ohne weitere zeitnahe fotografische Belege – zum Beispiel die Bilder auf seinem Telefon – konnte sich Ben nicht sicher sein, dass er hier gerade den Toten vor sich hatte, den er heute Morgen gesehen hatte.
Verbindungsaufnahme erfolgte über Roths »Agenten« in Zürich. Ben schoss eine E-Mail los.
Suche dringend Kontakt zu Liam Roth. Traf ihn eben im Hotel G. Wollte eine wichtige Unterhaltung vertiefen. Bitte geben Sie ihm alsbald meine Daten.
Er hinterließ seine E-Mail-Anschrift und Telefonnummer – falls sein verdammtes iPhone bald auftauchen sollte. Er schaute auf die Uhrzeit in der oberen rechten Ecke seines Bildschirms. Bald würden die Büros schließen. Er mutmaßte allerdings, dass es sich um die Sorte unverbindlichen Mailkontakt handelte, der nur unregelmäßig abgerufen wurde.
Ohnedies wollte er nicht dableiben und das Zimmer inspizieren. Er wuchtete sich vom Bett, stieg in seine Budapester, streifte einen dicken Pullover über sowie seine Skijacke und sammelte seine Mütze, Handschuhe als auch Zimmerkarte ein, doch natürlich kein Telefon. Mangels Handy fühlte er sich trotz der zahllosen Kleiderschichten beinahe nackt.
Zur Zimmertür hinaus stürmte er einen Flur hinunter und durch den Haupteingang des Hotels, um festzustellen, dass ein großes Rudel schwarzer Geländewagen und Mercedes-Limousinen die verschneite Auffahrt verstopften. In vielen der Fahrzeuge saßen geduldige Chauffeure bei laufenden Motoren. Es fanden sich keine Elektroautos darunter, und Abgase kräuselten fröhlich in der reinen Alpenluft. Ben machte ein böses Gesicht und hastete vorbei in Richtung Liftstation. In Budapestern kam er viel müheloser vorwärts als in Skistiefeln, zumal in seinem Lieblingspaar mit Winterprofilsohlen.
An der Liftstation waren keine Skifahrer und Snowboarder, wenngleich die Gondeln weiter ein- und ausfuhren, indes der Seilbahnwärter auf dem Gummibelag an der Ausstiegsstelle stand. Ben ging geradewegs auf ihn zu. »Hallo, ich bin’s wieder.«
Der Mann schaute verdrießlich drein. »Tja, was kann ich tun?«
»Haben Sie schon eine Leiche gefunden?«
De Mann schüttelte den Kopf und lachte. »Ist nichts gesichtet worden. Tut mir leid.«
»Sie haben jede einzelne Gondel überprüft?«
»Ich war den ganzen Tag hier. So etwas würde ich nicht übersehen. Davon abgesehen sehe ich gerade nach.« Er kicherte beinahe schon.
»Sind Sie von hier?«
»Ja, ich wohne in einem kleinen Dorf fünfundvierzig Minuten von hier.«
»Gefällt Ihnen Ihr Job?«
»Ja.« Der Mann machte zusehends ratlose Miene.
»Werden Sie gut bezahlt?«
»Es ist Saisonarbeit. Im Winter, ja, werden wir gut bezahlt. Diese Anlage ist etwas Besonderes.«
»In einer besonderen Alpenregion«, hängte Ben für ihn an. »Wir lange dauert es noch, bis Sie den Lift über Nacht abstellen? Ist schon ein bisschen spät dafür, dass er noch läuft, oder?«
»Ski gefahren wird heute nicht mehr. Aber der Abend fällt aus dem Rahmen. Das Bergrestaurant hat wichtige Gäste. Der Lift wird weiterlaufen, bis die Gäste alle wieder nach unten gekommen sind.«
Die Kälte kroch allmählich durch Bens Kleider. Selbst hier unten hatte der Wind ungeheuer zugelegt. »Oh. Wann wird das sein?«
»Das ist Sache der Veranstalter und Gäste.« Er zucke die Schultern.
»Dann sind jetzt alle da oben?«
Er nickte. »Gibt es sonst noch was? Andernfalls würde ich gern reingehen.« Er machte eine Geste in Richtung der verglasten Führerkabine, in der Ben ihn am Morgen angetroffen hatte.
Ben konnte es ihm nicht verübeln. Es war bitterkalt, und in der Station blies der Wind wie durch einen Trichter. »Ich dachte, Sie überprüften jede Gondel?«, fragte er.
»Sehen Sie die da?« Der Seilbahnwärter zeigte auf eine Blase, die langsam ihre Runde durch das Innere der Station drehte. »Das ist die letzte. Ich habe sie jetzt alle überprüft.«
»Woher wissen Sie das? Die sehen alle gleich aus.«
»Sind alle nummeriert, wenn man weiß, wo man hinsehen muss.«
»Nur nicht fortlaufend, haben Sie mir doch gesagt.«
»Wenn Sie diesen Job mal so lange gemacht haben wie ich, kennen Sie alle Nummern, selbst wenn sie aus der Reihe tanzen.«
Ben schenkte ihm keinen Deut Glauben. Er wollte einfach nur raus aus der Kälte und weiteren Fragen ausweichen. Entweder erledigte der Seilbahnwärter bloß seine Arbeit und war nicht Teil irgendeiner Verschwörung, oder er wusste, dass die Leiche inzwischen aus dem Weg geräumt war. »Wie lange arbeiten Sie schon für das Resort?«
»Seit seinen Anfängen.«
»Arbeiten Sie für den Liftbetreiber?«
Er nickte, doch abermals mit ratloser Miene.
»Wie wird das Wetter in den nächsten vierundzwanzig Stunden?«
Der Mann ging ans Ende des Gummibelags und spähte hinaus. Draußen schien es sehr dunkel zu sein von Bens Standpunkt aus gesehen. Er kam zurück und rieb sich die bloßen Hände.
»Wird Schnee geben. Viel Schnee. Vielleicht einen Schneesturm.«
»Das können Sie kommen sehen?«
»Ich kann es riechen«, sagte er.