Jason Hendricks warf seine Reisetasche auf das ordentlich glatt gezogene Bett und sah sich in dem kleinen Schlafzimmer um. Hier würde er es sich also über die Thanksgiving-Ferien gemütlich machen. Er hatte sich der Familie Wells für ihren Aufenthalt in ihrem Blockhaus angeschlossen. Das Häuschen war ein wahres Musterbeispiel der Idylle. Es hätte glatt aus einem Werbekatalog für Lincoln Logs stammen können, mit all seinen breiten Holzbalken und dem riesigen, steinernen Kamin.
Jason befand sich nicht in einem Gästezimmer, sondern in einem kleinen Raum, der einst vor langer Zeit einmal für Remy, den jüngeren Bruder seines besten Freundes, eingerichtet worden war. Es fühlte sich fast so an, als handele es sich bei ihm auch um Jasons kleinen Bruder. Sie alle waren gemeinsam in Chicago aufgewachsen, und Jason bildete sich ein, mit den Wells mehr Zeit verbracht zu haben, als mit seiner eigenen Familie, die um die Ecke gewohnt hatte.
Remy schien mal wieder einen Feiertag zu überspringen, oder Jason wäre sicher nicht in dieses Zimmer gesteckt worden. Normalerweise kam er in Dereks Zimmer unter – sie waren bereits seit der dritten Klasse beste Freunde – aber Remys älterer Bruder hatte zum ersten Mal in seinem Leben eine Freundin mitgebracht, um sie seiner Familie vorzustellen.
Das Schlafzimmer war ordentlich aufgeräumt. Neben dem Bett befand sich darin lediglich eine Kommode sowie einige an der Wand hängende Bilder, mit geschmackvoll gemalten Landschaften. Jason nahm an, dass Remys Eltern diese bereits vor Jahren ausgesucht hatten.
Er betrachtete das eingerahmte Foto von Remy, das auf der Kommode thronte. Bereits seit drei Jahren hatte er den jüngeren Bruder seines besten Freundes nicht mehr gesehen. Zwischen Jasons Verpflichtungen als Feuerwehrmann, die ihn oftmals dazu zwangen, an den Feiertagen zu arbeiten, und den Spannungen mit seinen eigenen chaotischen Familienmitgliedern, konnte er nicht unbedingt allen Familienzusammenkünften der Familie Wells beiwohnen. Und er wusste, dass auch Remy es nicht schaffte, alle Feiertage mit seiner Familie zu verbringen, zu oft hatte er Reisen mit Freunden geplant oder war dazu eingeladen, die Familie seiner Partner zu besuchen.
Partner, wie der blonde, zottelhaarige Idiot, der auf dem sich vor ihm befindlichen Foto mit Remy abgebildet war. Jason betrachtete Remys Erscheinung: dunkles Haar, dunkle Augen, grazile Züge und ein elegantes Gesicht. Er war atemberaubend attraktiv und vermutlich viel zu gut für den Trottel, der auf dem Bild den Arm um ihn legte. Jason würde seine Pflicht als vermeintlicher großer Bruder tun und Remy über diesen Kerl ausfragen müssen.
Die Tür öffnete sich, und als ob seine Gedanken zum Leben erwacht wären, spazierte Remy über die Schwelle, mit einem riesigen Koffer im Schlepptau.
„Scheiße, kannst du glauben, dass wir uns ein Zimmer teilen sollen? Ich kann kaum fassen, dass Derek endlich eine feste Freundin hat. Hätte nicht gedacht, dass ich diesen Tag jemals erlebe.“
Jason hätte in diesem Moment normalerweise einen Witz gerissen, aber er war zu beschäftigt damit, Remy geschockt mit offenem Mund anzustarren. Als Marjory Wells ihm offenbart hatte, dass er Remys Zimmer bekommen würde, da hatte er angenommen, dass ihr jüngerer Sohn nicht über Thanksgiving nach Hause kommen würde.
Jetzt stand er Remy zum ersten Mal seit dessen neunzehnten Lebensjahr wieder gegenüber.
Natürlich war Remy mit neunzehn auch großartig gewesen. Jasons Augen hatten sich bereits seit Beginn von Remys Pubertät zu seinen feinen Gesichtszügen hingezogen gefühlt. Aber jetzt? Er war in den letzten drei Jahren erwachsen geworden. Remy war noch immer schmal gebaut und noch immer gute zehn Zentimeter kleiner als der ein Meter achtzig große Jason. Aber seine Schultern waren breiter geworden und sein Bizeps war gerade ausgeprägt genug, dass er sich unter seinem langärmligen T-Shirt abzeichnete. Und das Sahnetüpfelchen waren seine endlich aufgetauchten leichten Bartstoppeln, die Jason als verdammt sexy empfand.
Remy warf sich mit müdem Grunzen auf das Bett. Er drehte den Kopf und blickte auf Jasons Reisetasche neben ihm. „Ich hoffe, du bildest dir nicht ein, in meinem Bett zu schlafen.“
Eine Welle der Hitze wallte durch Jasons Körper bei dem Gedanken allein. Schön wär’s …
„Ist ja schon schlimm genug, dass ich ein Zimmer mit dir teilen muss“, fuhr Remy fort. „Auf dem Boden werde ich sicherlich nicht schlafen. Das ist dein Platz, JJ. Wenn dir das nicht passt, dann kannst du dich mit einem meiner Cousins um die Couch streiten.“
Ein warmes Gefühl breitete sich in Jasons Brust aus, als er nach so vielen Jahren seinen alten Spitznamen hörte. Als sie noch Kinder waren, hatte Remy herausgefunden, dass Jasons zweiter Vorname Jeremiah war und dass Jason diesen Namen leidenschaftlich hasste, weil es sich dabei um einen solchen „Bibelnamen“ handelte. Also hatte Remy damals damit begonnen, ihn mit dem Spitznamen JJ zu nerven. Der Spitzname war jedoch nicht hängengeblieben. Remy war der Einzige, der ihn so nannte, und Jason liebte es insgeheim. Es gefiel ihm ebenfalls, dass er in der Familienrangfolge über den Wells-Cousins rangierte, denn seiner Meinung nach war es meilenweit besser, ein Zimmer mit Remy zu teilen, als im kleinen Wohnzimmer des kleinen Blockhauses, das eine dreistündige Fahrt von Chicago entfernt lag, auf der Couch zu nächtigen.
„Oooohh, ich habe dich ebenfalls vermisst“, säuselte er.
Remy blickte alarmiert auf. Vermutlich hatte er den neckenden Ton in Jasons Stimme wahrgenommen. Aber er war viel zu verschlafen, und daher von der Reaktionszeit her viel zu langsam, um sich zu retten. Jason zog ihn vom Bett herunter und nahm ihn in einen Schwitzkasten. Mit einem abscheulichen Grunzen drückte er fest zu. Dank der Stärke seines gut gebauten Körpers, der nicht zuletzt von seiner anstrengenden Tätigkeit als Feuerwehrmann gestählt war, konnte er Remy problemlos überrumpeln. Leute herumzuschleifen, machte normalerweise nicht so großen Spaß, aber in Rettungssituation war es durchaus eine Notwendigkeit.
„Jason!“, rief Remy empört, wobei er versuchte, sich seiner Umklammerung zu entwinden.
Oh ja, Remy könnte sich jederzeit derart an ihn schmiegen. Er würde sich weitere Gründe einfallen lassen müssen, um mit seinem ‚kleinen Lieblingsbruder‘ herumzualbern. Andererseits, wenn Jason die Tatsache bedachte, dass sein Schwanz Interesse an Remy zeigte, dann sollte er vielleicht damit aufhören, ihn als kleinen Bruder zu sehen.
„Lass mich los“, verlangte Remy. „Ich bin kein Kind mehr!“
Jason lockerte seinen Griff mit einem weiteren Grunzen, aber nicht ohne ihm ins Ohr zu flüstern: „Du bist definitiv kein Kind mehr, Remy.“ Er ließ von ihm ab und schüttelte seinen Arm aus. „Verdammt, wie viel Gewicht hast du zugelegt?“
Remy versetzte ihm einen Schlag gegen die Schulter. Er war stärker, als er aussah, und der Stoß hatte mehr Kraft als erwartet. Autsch. Jason weigerte sich zuzugeben, dass es schmerzte, also lachte er stattdessen. „Ich freue mich ebenfalls, dich zu sehen.“
„Du bist, wie immer, ein richtiges Arschloch.“
Jason zuckte die Achseln. „So bin ich halt.“
Ein zögerliches Lächeln erschien auf Remys Lippen. Jason konnte kaum glauben, wie sehr er sich verändert hatte. Remy war schon immer ein hübscher Knabe gewesen, aber das volle Potenzial seines guten Aussehens hatte sich erst mit dem Alter enthüllt. In frühen Teenager-Jahren war er furchtbar tollpatschig und schüchtern gewesen, aber mit Siebzehn war er langsam in seinen Körper hineingewachsen und plötzlich war es Jason schwergefallen, seine Aufmerksamkeit irgendjemand anderem im Raum zuzuwenden. Sein Interesse an Remy hatte ihn komplett überrumpelt, da er bisher nur mit Mädchen ausgegangen war. Er selbst war nicht aufs College gegangen, somit hatte er die typische Experimentierphase nicht durchlebt, aber schlussendlich hatte er sich damit abgefunden, wohl bisexuell zu sein. Wie immer war der Groschen bei ihm etwas langsam gefallen.
Leider hatten diese Jahre der Verwirrung Remys Leben nicht gerade erleichtert, da Jason sich in dieser Zeit sehr unreif verhalten hatte. Um von seinen Gefühlen abzulenken, hatte er sich jedes Mal, wenn jemand Remy Aufmerksamkeit schenkte, in ein richtiges Arschloch verwandelt. Umso größer seine Anziehung zu Remy, umso mehr Energie hatte er hineingesteckt, ihn wie einen kleinen Bruder zu behandeln. Er hatte ihn so arg geneckt, dass Remy oftmals kurz davor gewesen war, in Tränen auszubrechen, und Jason hatte ihm Streiche gespielt, die Remy fürchterlich wütend gemacht hatten. Kurz gesagt, hatte er sich wie ein klassisches Arschloch benommen. Aus diesem Grund hatte Remy ihm schließlich die kalte Schulter gezeigt, was nur noch schlimmere Neckereien und Streiche von Jason zur Folge gehabt hatte, bloß um Remys Aufmerksamkeit nicht zu verlieren.
Vom Verstecken von Kleidung, bis hin zum Schießen peinlicher Fotos, dem Zusammenbinden von Schnürsenkeln und dem Träufeln von Wasser auf den Bettbezug, um die Illusion des Bettnässens zu erschaffen, war alles dabei gewesen. Die Situation hatte sich in eine richtige Rivalität zwischen ihnen verwandelt. Fast war es mitunter richtig feindselig daher gegangen, aber zumindest von Jasons Seite aus gab es auch Bewunderung. Er liebte Remy als Teil seiner Familie, was auch auf die anderen Mitglieder der Familie Wells zutraf. Und das würde sich auch niemals ändern.
Remy hievte seinen großen Koffer auf das Bett und öffnete den Reißverschluss. „Okay, so viel Spaß es auch gemacht hat, dieses Wiedersehen zu feiern, nun muss ich erst einmal unter die Dusche hüpfen.“
„Meine Güte, hast du vor einzuziehen, Remy?“, scherzte Jason. Es erweckte den Anschein, als habe Remy für einen dreiwöchigen Aufenthalt gepackt und nicht einen drei Tage langen.
„Sehr witzig.“
Remy öffnete den Deckel des Koffers und Jason sah dabei zu, wie er ein T-Shirt und eine Jogginghose zutage beförderte. Aber seine Augen blieben an der Unterwäsche hängen. Verdammte Scheiße, diese eng anliegenden Boxershorts waren winzig.
Er streckte die Hand aus und hob den Fetzen aus rotem Satinstoff auf.
„Bist du etwa inzwischen zu einem Stripper mutiert?“
Tatsächlich würde Remy einen fantastischen Stripper abgeben. Jason konnte sich gut vorstellen, dass Remy sich gut zur Musik bewegen konnte. Wahrscheinlich war er in den Schwulenbars unterwegs und lieferte den anderen Gästen auf der Tanzfläche eine Show, von der Jason nur träumen konnte.
Remy riss ihm die Unterwäsche aus der Hand. „Gib her!“
Er legte die Höschen zu den anderen Kleidungsstücken, die er plante, nach seiner Dusche anzuziehen, und schloss seinen Koffer.
„Denk nicht mal daran, in meinen Sachen herumzuwühlen, während ich im Bad bin. Wenn ich herausfinde, dass du meine Unterwäsche überall im Haus aufgehängt hast, dann …“
„Was dann, Remy?“, wollte Jason wissen. „Was wirst du dagegen tun?“
Ja, das wird ihn beeindrucken. Toll gemacht, Jason.
Die zwei hatten sich bereits so lange in den Haaren, dass das gegenseitige Ärgern ihnen schon fast in Fleisch und Blut übergegangen war. Aber Jason war nicht länger derselbe Teenager, der sich von seinen sexuellen Neigungen bedroht fühlte. Er machte sich keinen Kopf mehr darüber, was andere davon hielten. Er hoffte, dass dieser Besuch ihre Dynamik in ein freundlicheres Verhältnis verwandeln konnte.
Aber nicht mehr als freundlich.
So heiß er Remy auch fand, er wusste, dass er die Finger von ihm lassen musste. Zum einen gab es da den blöden Kerl von dem Foto, mit dem unmöglichen Haarschnitt und dem verlogenen Lächeln. Und selbst wenn diese Hürde nicht wäre, so war er noch immer Dereks kleiner Bruder, was ihn noch mehr zu einer verbotenen Frucht machte. Jasons Blick glitt noch einmal über Remys Körper und blieb dabei an der guten Passform seiner Jeans hängen.
Verboten, aber sicherlich köstlich.
Remy schüttelte mit müdem Seufzen resigniert den Kopf, wobei er von Jasons innerem Monolog der Lust natürlich keine Ahnung hatte. Fast erschien er traurig, doch konnte Jason nicht genau sagen, warum er zu diesem Schluss kam. Vielleicht lag es an seinem verkniffenen Mund oder den Schatten unter seinen Augen.
„Nix, JJ. Dann tob dich eben aus. Ich habe beschlossen, mich von dir nicht mehr ärgern zu lassen.“
Remy setzte sich in Bewegung und steuerte auf die Tür zu. Seine rote Unterwäsche lag noch immer ganz oben auf dem Stapel seiner frischen Anziehsachen. Jasons Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken, dass Remy das erotische Kleidungsstück später unter seiner Jogginghose tragen würde.
„Ich würde mir nicht einfallen lassen, Unsinn mit deiner Unterwäsche zu treiben“, rief er ihm hinterher.
Remy warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Seine Lippen zuckten, jedoch lächelte er nicht. „Nein?“
„Wie du schon bemerkt hast, wir sind keine Kinder mehr.“
Remy nickte, doch spiegelte sich in seinen Augen noch immer Unsicherheit wider.
„Mit deiner Unterwäsche ist nicht zu spaßen“, fügte er hinzu, wobei er Remys Reaktion genau beobachtete. „Dafür ist sie viel zu sexy. Ich kann es kaum erwarten, dich in deinen Jogginghosen zu sehen, vor allem, weil ich wissen werde, dass du darunter diese klitzekleinen, engen Höschen anhaben wirst.“
Remy fiel die Kinnlade herunter.
„Genieß deine Dusche“, fügte Jason grinsend hinzu.
Remy schnaufte, drehte sich abrupt um und beeilte sich, die Tür zu öffnen. Er verschwand im Flur, wobei er heterosexuelle Männer verfluchte, die einen immer mit ihren Scherzen verarschen mussten. Doch hatte er damit gleich doppelt unrecht. Jason war nicht hetero und er verarschte ihn nicht. Er war völlig angetörnt.
Remy mochte verbotene Frucht sein, aber das hieß nicht, dass Jason nicht ein wenig mit ihm spielen konnte, und zwar ganz ohne ihn auch nur anzurühren. Tatsächlich war es vermutlich so am besten. Auf diese Weise konnte er seine aufgestaute, sexuelle Energie freisetzen, ohne irgendwelche Konsequenzen dafür zu riskieren, mit dem kleinen Bruder seines besten Freundes ins Bett zu steigen.