Kapitel Zwei

Remy duschte und zog sich an, jedoch ohne sich das seidene Höschen überzustreifen, das Jasons Aufmerksamkeit erregt hatte. Stattdessen hatte er es kurzerhand in eine Ecke des Schränkchens unter dem Waschbecken gestopft. Er hatte sie bloß mitgebracht, weil er sich sexy fühlte, wenn er die Unterhose trug, und er konnte nach der schlimmen Trennung von Trey wahrlich einen Ego-Booster gebrauchen. Jedoch wusste er, er würde es nicht ertragen können, pausenlos Jasons wissenden Blick auf sich zu spüren, lieber würde er mit freischwingendem Gemächt herumlaufen. Auf diese Weise konnte er Jasons überhebliches Lächeln wenigstens erwidern, weil dieser nämlich nicht so schlau war, wie er glaubte.

Jason hatte mit seinem Sexy-Unterwäsche-Kommentar bewiesen, dass er seine Taktik geändert hatte. Er hatte es schon immer genossen, Remy damit zu ärgern, dass er sich über seine Kleidung lustig machte. Nun machte er ihm Komplimente, als ob ein nicht-schwuler Mann sich darum scherte, was für Unterwäsche Remy trug. Wenn überhaupt, lachte er sich vermutlich schlapp darüber, dass Remy gerne seidene, eng anliegende Höschen anhatte. Jason trug vermutlich jeden Tag der Woche simple, schwarze Boxer-Briefs. Der Stoff schmiegte sich vermutlich an seinen Körper und zeichnete seine Rundungen ab …

Remys Schwanz verhärtete sich und er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Nein. Böser Remy!“

Sich Jason in seiner öden Unterwäsche vorzustellen, dürfte eigentlich keine solche Reaktion hervorrufen. Offensichtlich war er etwas notgeil nach der traumatischen Trennung von Trey. Dem Arschloch.

Er rief sich ins Gedächtnis, dass Trey ihn langweilig und berechenbar genannt hatte, während er die Tatsache herunterspielte, dass er mit einem ‚Freund‘ Blowjobs ausgetauscht hatte. Das wirkte besser als eine Eiswasserdusche, um die Aktivitäten unterhalb seiner Gürtellinie zu beenden.

Er sah sich im Spiegel an und rollte die Augen. „Reiß dich zusammen“, raunte er sich selbst zu. „Es ist Thanksgiving. Zeig gefällig etwas Dankbarkeit.“

Ich habe eine tolle Familie. Dafür bin ich dankbar. Und dafür, dass dieser untreue Hund in meiner Vergangenheit liegt. Ohne ihn bin ich besser dran. Ich freue mich, dass Mom heute Nudeln mit Hühnchen kocht… Das hilft mir immer, mich besser zu fühlen.

Mit einem tiefen Seufzen verließ er das Bad und begab sich ins Wohnzimmer, wo sein Vater auf ESPN die Sporthighlights anschaute. Jason saß zurückgelehnt neben ihm auf dem Sofa und nippte an einem Bier.

Er fühlt sich wirklich zu Hause hier. Vielleicht sogar mehr als du selbst. Der aufgenommene Sohn der Wells-Familie.

„Remus, mach’s dir gemütlich. Die Hennen sind in der Küche.“

Remy zog eine Augenbraue hoch. „Wo ist Derek?“

Jason schnaubte. „Wie schon gesagt, die Hennen sind in der Küche. Derek hängt wahrlich an ihrem Rockzipfel.“

Dad lachte glucksend und schüttelte den Kopf. „Er scheint wirklich vernarrt zu sein.“

„Bin ich in deinen Augen denn auch eine Henne, weil ich schwul bin? Deine Ansichten in Bezug auf Geschlechterrollen sind so fortschrittlich.“

„Oh, Remy …“, meinte sein Vater voller Unbehagen.

„Beruhige dich“, sagte Jason. „Wir albern doch bloß ein bisschen herum. Du weißt selbst am besten, was sich unter der Oberfläche verbirgt.“ Jason ließ seinen Blick südwärts unter seine Gürtellinie wandern, dann zwinkerte er ihm zu.

Gut gekontert, JJ.

Remy lächelte. „Das weiß ich sehr wohl, vielen Dank. Aber das hat nichts mit meinem sozialen Geschlecht zu tun. Das ist mein biologisches Geschlecht.“

„Wie bitte?“, fragte Jason mit geweiteten Augen.

„Du weißt schon, der Unterschied zwischen biologischem und sozialem Geschlecht?“, fragte Remy voller Unschuld. „Mit biologischem Geschlecht sind die tatsächlichen Geschlechtsorgane gemeint und –“

„Hab’s kapiert“, fiel Jason ihm ins Wort und sprang auf. „Ich, ähm … brauche ein neues Bier.“

Er eilte aus dem Zimmer, wobei er auf niedliche Weise nervös aussah. Genauso wollte Remy ihn haben.

„Remy“, wiederholte sein Vater verunsichert. „Ich wollte dich nicht beleidigen.“

Remy ließ sich auf den von Jason freigemachten Platz auf der Couch fallen. Er trug ein zufriedenes Lächeln zur Schau. Jason und er feixten immer so miteinander herum, aber es kam nicht allzu oft vor, dass Remy sich danach als Sieger fühlte. Es kam nicht selten vor, dass Remy danach abends im Bett lag und ihm bessere Retourkutschen einfielen. Am liebsten würde er sich dann selbst in den Hintern treten, dass er Jason gegenüber nicht besser gekontert hatte.

Dieses Mal hatte er jedoch gepunktet. Er war erwachsen und über den Schwarm seiner Kindheit hinweg, also konnte er sich besser verteidigen. Was auch immer Jason ihm gegen den Kopf warf, Remy war darauf vorbereitet. Er hatte viele Jahre damit zugebracht, ihn zu bewundern, das war, bevor er alt genug gewesen war, um zu verstehen, was es bedeutete, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen. Und dann, als die Pubertät einsetzte, hatte er sich Hals über Kopf verknallt.

Eine traurige Angelegenheit, aber Jason war heterosexuell und er liebte es, Remy zu quälen. Es würde ihm wahrscheinlich eine unglaubliche Freude bereiten, wenn er wüsste, welche Gefühle Remy ihm gegenüber hegte. Beziehungsweise einst gehegt hatte. In der Vergangenheitsform. Remy war inzwischen komplett darüber hinweg.

„Du hast mich nicht beleidigt, Dad. Ich wollte bloß JJ ärgern. Keine Sorge.“

Sein Vater brach in Gelächter aus. „Liegt ihr euch noch immer in den Haaren? Ich dachte, dass ihr aus dieser Phase herausgewachsen seid, besonders nachdem die Sache mit Trey so ernst geworden ist. Sorry übrigens, dass es mit euch nicht geklappt hat. Das hätte ich dir schon längst sagen sollen.“

Remy zog eine Grimasse. „Das ist Schnee von gestern. Ich bin schon drüber weg.“

Er ignorierte bewusst den Rest von dem, was sein Vater gesagt hatte, denn seine Familienmitglieder wussten alle, dass er als Kind für Jason geschwärmt hatte. Peinlicher ging es gar nicht.

„Das hoffe ich. Trennungen sind nicht einfach“, sagte er. „Aber hey, vielleicht könntest du mit Jason endlich einen Waffenstillstand schließen? Wäre doch ganz nett, wenn unsere Jungs sich zur Abwechslung mal vertragen würden.“

Remy schüttelte den Kopf. „Ich glaube kaum, dass dies passieren wird, Dad. Aber JJ und ich verstehen uns gut. Mach dir mal keine Sorgen um uns. Hunde, die bellen, beißen nicht.“

„Na ja, vermutlich würden wir gar nicht damit umzugehen wissen, wenn ihr euch plötzlich nicht mehr kabbelt“, sagte sein Vater. „Ich mache mir jedoch Sorgen um den Kerl.“

„Warum?“

Obwohl sie alle in Chicago lebten – wo Remys Eltern selbst noch ein Haus besaßen, auch wenn sie jetzt, wo die Kinder nicht mehr zu Hause lebten, mehr Zeit im Blockhaus verbrachten – sah er Jason nur bei Familienzusammenkünften. Remy hielt sich meistens auf seiner Seite der Stadt auf, wo er arbeitete und sich mit Freunden traf. Er war tief in der Schwulenszene verankert, wodurch er sicherlich keinerlei Gefahr lief, Derek und seinen Freunden über den Weg zu laufen. Er wusste, dass sie sich meist in einer anderen Ecke der Stadt tummelten, wo sie Sport schauten, Biere tranken und sich anderen männlichen Aktivitäten hingaben.

„Du weißt sicher, dass er unsere Independence-Day-Party verpasst hat, weil seine Mutter mal wieder im Knast gelandet ist.“

„Nein …“

Es war kein Geheimnis, dass Jason Familienprobleme hatte. Seine Mutter war eine Alkoholikerin, die sich auch gerne mal verschreibungspflichtige Medikamente genehmigte. Sein Vater war jemand, der es ihr einfach machte. Er kaufte ihr Alkohol und warf Jason vor, dass er sich nicht in seine Mutter und ihre Probleme hineinversetzen konnte, nur um sich dann hinter seiner Arbeit zu verstecken, wenn die Dinge eskalierten. Sie hatten ein Kind verloren, Jasons ältere Schwester, als er selbst noch ein Kleinkind gewesen war. Jason hatte sein ganzes Leben im Schatten eines im nachbarlichen Schwimmbad ertrunkenen Kindes verbracht.

„Ja. Schon wieder Trunkenheit am Steuer, nur dieses Mal hat sie leider einen Unfall verursacht.“

Remy verzog das Gesicht. „Das wusste ich nicht. Ist sie in ernsthaften Schwierigkeiten?“

„Jason hat ihre Kaution bezahlt und das Letzte, was ich gehört habe, war, dass man ihr hohe Geldstrafen aufgebrummt hat. Schadensersatz, für all die Kosten, die von der Versicherung nicht gedeckt wurden. Sie hat ihren Führerschein verloren. Glücklicherweise ist niemand verletzt worden. Denn wenn das der Fall gewesen wäre …“

Sein Vater musste es nicht aussprechen. Jasons Mutter hätte jemanden umbringen können. Anstatt dem Verlust ihres Führerscheins und ihres kurzen Gefängnisaufenhaltes, hätte sie wegen Mord angeklagt werden können.

Jason verdiente etwas Besseres. Er war schon immer so ein lebensfroher Kerl gewesen, jedoch hatte Remy schon immer gewusst, dass die Beziehung zu seiner Familie nicht die beste war. Andernfalls hätte er in seiner Kindheit nicht so viel Zeit im Hause der Familie Wells verbracht. Sogar jetzt noch wohnte Jason mehr Familienfeiern bei, als Remy es tat. Zwischen dem College und seinem neuen Job, sowie den Besuchen bei der Familie seines Ex-Freundes, hatte Remy einige Gelegenheiten verpasst, Zeit mit seiner Familie zu verbringen.

Aber Jason hatte seine Probleme nie an die große Glocke gehängt. Als Remy noch jünger gewesen war, hatte er sich darüber nie groß Gedanken gemacht. Er war viel zu beschäftigt mit seinem eigenen Leben gewesen, dem Mobbing einiger Schulkameraden, die wohl geahnt hatten, dass er schwul war, der Tatsache, dass ihm nie gefiel, wie sein Haar lag oder die Art und Weise wie er ständig über seine eigenen Füße stolperte. Wann immer Jason in der Nähe war, fühlte er sich nur noch verunsicherter und war umso fixierter auf seine Emotionen.

Jedoch war er kein Kind mehr. Derek war Jasons bester Freund, und nicht Remy, aber sein Bruder war niemand, der gerne tiefgehende Gespräche führte. Er war ein Macho-Freund. Er war ein cooler Kumpel zum Abhängen. Remy hatte JJ und Derek sein ganzes Leben lang dabei beobachtet, wie sie Zeit miteinander verbrachten, und dabei hatte er kein einziges Mal mitbekommen, wie sie über ihre Gefühle sprachen. Sofern sie es nicht gut versteckten, fanden solche Gespräche zwischen ihnen wohl einfach nicht statt.

Remy war nicht in der Lage, sich Jason als neue Vertrauensperson anzubieten. Eine solche Beziehung hatten sie nun mal einfach nicht. Was sie hatten, war eine Art Hassliebe. Jason würde wohl lieber ein Foto von Remys Unterwäsche auf Facebook posten, als Remy seine Probleme zu gestehen.

Aber vielleicht könnte er eine gute Gelegenheit finden, um sich nach Jasons Familie zu erkundigen und ihm ein offenes Ohr anbieten, sollte er sein Herz ausschütten wollen. Er würde Jason zeigen, dass er erwachsen geworden war, und dass er ihn wie einen Gleichgerechtigten behandeln konnte, anstelle eines kleinen Bruders.