Remy verließ das Büro seines Chefs mit so fest zusammengebissenen Zähnen, dass sein Kiefer schmerzte. Seit er bei der führenden Marketingfirma in Chicago angefangen hatte zu arbeiten, war ihm eine Beförderung versprochen worden und nun war er furchtbar wütend darüber, dass er gerade erfahren hatte, dass Greg Patterson den Titel des Creative Directors für digitale Kampagnen erhalten hatte. Von den beiden war Remy der Kreativere, aber Greg war der Arschkriecher, und mit dieser Strategie war er bisher gut gefahren.
Er ging an den Arbeitsplätzen mehrerer Kollegen vorbei und war sich der Tatsache bewusst, dass sie die Köpfe hoben. Bei Taras Schreibtisch angekommen hielt er an. Sie war seine engste Vertraute, seit er angefangen hatte bei Comeet Corp zu arbeiten, wo Sie einen maßgeschneiderten Marketingplan erhalten, um Ihr Unternehmen zum nächsten aufstrebenden Stern zu machen!
Tara war am Telefon, aber sie blickte auf, als er vor ihr stehen blieb. Er deutete mit dem Kopf in Richtung Pausenraum, und sie nickte und hielt einen Finger hoch. Gut genug.
Er ging weiter durch das Hauptbüro, einen kurzen Flur entlang und in den kleinen Pausenraum, in dem sich eine Kaffeemaschine, ein Kühlschrank und ein Automat voller ungesunder Snacks befanden. Es gab genügend Platz für zwei runde Tische und Stühle, aber Remy setzte sich nicht. Er hatte zu viel Frustration im Blut und das ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er tigerte im Raum auf und ab, bis sie hereinkam.
„Was ist passiert?“
„Greg hat die Beförderung bekommen“, sagte er ausdruckslos.
„Verarsch mich nicht!“
Er nickte, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Spüle „Carl sagte, ich brauche mehr Zeit, um ein besseres Gefühl für unsere Marke zu entwickeln, und Greg habe sich bewährt.“ Remy schüttelte den Kopf. „Vor ein paar Wochen sagte mir Carl noch, ich solle mich bewerben. Ich verstehe es nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich gegen die Strategie für die Lidschatten-Kampagne ausgesprochen habe …“
„Nein, damit hattest du recht“, sagte sie. „Das weiß sogar Carl. Irgendetwas muss vorgefallen sein. Du weißt, dass es politische Gründe haben könnte.“
Er zog eine Grimasse. „Ich hoffe, es liegt nicht daran, dass ich schwul bin.“
„Es geht nicht immer bloß darum, dass du auf Penisse stehst“, erwiderte sie schlagfertig.
Er verschluckte sich an einem Lachen. Tara war nicht die allerdiplomatischste Person, aber genau das gefiel ihm an ihr. Sie war oft etwas zu direkt und das konnte abschreckend wirken, aber sie war immer ehrlich und das wusste er zu schätzen. Sie erledigte größtenteils die gleiche Arbeit wie er, indem sie digitale Anzeigen erstellte und Online-Marketingpläne umsetzte, aber Remy hatte eine Leidenschaft für Strategie, die sie nicht teilte. Er probierte gerne neue Sachen aus und trieb die Dinge bis an die Grenzen, während Tara sich damit begnügte, die Produkte zu entwickeln, sodass sie nicht im Wettbewerb um die Beförderung gestanden hatten. Sie wollte sie gar nicht haben.
Sie zog ihn tröstend in die Arme und er wurde von einer Duftwolke von Kräutershampoo und Erdbeer-Lipgloss umhüllt. Ihre natürlich gelockten blonden Haare kitzelten sein Gesicht und er trat einen Schritt zurück.
„Ich schätze, das Leben geht weiter.“
Barry betrat den Raum und steuerte schnurstracks auf den Snack-Automaten zu. Tara warf einen Blick in seine Richtung, bevor sie weitersprach. „Es ist trotzdem scheiße. Greg hasst mich.“ Sie formte ihre Lippen zum Schmollmund. „Ich habe mich darauf verlassen, dass ich den neuen Boss bereits um meinen kleinen Finger gewickelt habe.“
Remy kicherte. „Du hältst wohl ziemlich viel von dir selbst, hm?“
„Darauf kannst du dich verlassen!“
Barry gesellte sich zu ihnen und hielt ein Twix in die Höhe. „Hey Tara, ich habe zwei Schokoladenriegel bekommen. Willst du einen?“
Sie betrachtete die Süßigkeit mit unverhohlenem Verlangen. „Du bist schuld daran, wenn ich einen fetten Arsch kriege, aber warum nicht. Danke, Barry.“
Sie riss ihm den Schokoriegel aus der Hand und fiel darüber her wie ein ausgehungerter Piranha. Barry wandte sich an Remy, während sie den Snack in drei großen Bissen verschlang.
„Also, was ist scheiße?“
„Greg ist scheiße“, murmelte sie kauend und Barrys Augen weiteten sich. Ihr unhöfliches Verhalten hätte Remy beinahe in Gelächter ausbrechen lassen. Barry hatte ihr einen Schokoriegel gegeben, und zwar keinen, den er aus Versehen erhalten hatte, sondern den, den er für sich gekauft hatte. Remy war auch aufgefallen, wie er sie mit trauriger Hingabe anhimmelte, während sie dies überhaupt nicht zu bemerken schien.
„Greg wurde zum Creative Director befördert“, erklärte Remy Barry. „Ich hatte gehofft, die Stelle zu bekommen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Da kann man eben nichts machen.“
„Oh, das ist … das ist, ähm ….“
Tara saugte sich die Schokolade von ihren Fingern, während Barry nach Worten suchte. Sein Blick blieb an ihr hängen und er schien nicht weitersprechen zu können. Remy füllte die Pause mit seinen eigenen Worten.
„Schlimm genug, dass ich sitzengelassen wurde, weil ich erfolgreich und nicht aufregend bin, aber jetzt bin ich noch nicht einmal mehr das.“
„Remy, das ist bloß gequirlte Scheiße von einem Verlierer, der endlich erwachsen werden und herausfinden muss, dass er kein wildes Leben voller Drogen, Sex und Rock ʼnʼ Roll führen wird“, sagte Tara.
„Du wusstest schon immer, wie du mich am besten tröstest.“
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, wobei sie einen Abdruck ihres Lip Gloss auf seiner Haut hinterließ. „Es werden sich andere Türen für dich öffnen.“
Er konnte Barrys Neid regelrecht spüren. Tara war jedoch nicht sein Typ. Sie waren schon seit seinem ersten Tag im Büro gute Freunde gewesen, aber er stand eben ausschließlich auf Männer.
„Beim nächsten Mal klappt es“, pflichtete Barry ihr bei. „Du bist noch ein junger Hecht, aber obwohl ich schon seit fünf Jahren hier arbeite, bist du mir auf der Karriereleiter bereits meilenweit voraus. Wenigstens kann der Chef dich gut leiden! Carl spricht immer von deinen kreativen Ideen.“
„Deswegen habe ich ja gedacht, ich hätte die Beförderung in der Tasche“, murmelte er finster.
Jedoch hatte Barry recht. Remy arbeitete noch nicht allzu lange für die Firma. Aber so, wie die Sache mit Trey geendet hatte, hätte er einen Ego-Booster gut gebrauchen können. Die kleine Affäre mit Jason hatte geholfen, und wie sie geholfen hatte. Sobald sie sich geeinigt hatten, hatte Jason sich so sexy gefühlt wie noch nie zuvor. Aber nun, da es vorbei war, da war Remy erneut in eine Depression verfallen.
Barry richtete seine Aufmerksamkeit auf Tara. Während sie über einige ihrer anderen Kollegen schwatzten, verkündete der Signalton von Remys Handy die Ankunft einer Nachricht.
Er zog es aus der Tasche und war überrascht zu sehen, dass Jason ihm eine Nachricht geschickt hatte. Seit Thanksgiving waren zwei Wochen vergangen, und keiner von ihnen hatte bis jetzt Kontakt aufgenommen.
JJ : Du solltest deinen Bruder anrufen. Courtney hat mit ihm Schluss gemacht
Remy unterdrückte den Anflug der Enttäuschung darüber, dass Jason sich nicht meldete, weil er mit Remy reden wollte. Er hatte über den Feiertag alle Angebote von Jason abgelehnt, mehr als nur ein flüchtiger One-Night-Stand zu sein. Er musste sein Herz beschützen, weil er wusste, dass Jason mit seiner ursprünglichen Reaktion recht gehabt hatte. Sie standen sich zu nahe und ihre Leben waren zu sehr miteinander verwoben, als dass sie belanglosen Sex miteinander haben konnten. Remy wusste, wenn er es zuließe, würde er sich schwer in Jason verlieben und letztendlich mit einem gebrochenen Herzen dastehen. Aber er wünschte, dass es anders sein könnte.
Er tippte eine Antwort ein, während sich Taras und Barrys Gespräch anderem Arbeitsklatsch zuwendete.
Remy : Wow, das hätte ich nicht gedacht. Was ist passiert?
Sein Handy klingelte und der Name ‚Jason‘ leuchtete auf seinem Display auf. Er nahm an, dass es eine lange Geschichte sein musste, die man schlecht in einer Textmitteilung übermitteln konnte, also entschuldigte er sich, um den Anruf entgegenzunehmen.
„Hey, du.“
„Hey, Remy. Ich habe mir gedacht, dass du auf der Arbeit bist, aber da du zurückgeschrieben hast, wollte ich fragen, ob du kurz Zeit hast zu sprechen?“
Es fühlte sich gut an, seine Stimme zu hören. Der tiefe, vertraute Ton verursachte eine Gänsehaut auf seiner Haut, aber Remy tat sein Bestes, um unberührt zu klingen.
„Ich mache gerade Pause. Der Tag ist sowieso fast vorbei. Ich kann die verdammte Happy Hour kaum abwarten. Also, was ist mit Derek und Courtney los?“
„Ich bin mir nicht sicher. Er hat mir nur gesagt, dass sie sich getrennt haben. Aber er hat keine meiner Anrufe entgegengenommen, also schaute ich bei ihm vorbei und er ist in keiner guten Verfassung. Ungewaschen, dunkle Ringe unter den Augen, das komplette Programm. Er sagt andauernd Blödsinn wie: ‚Es hat einfach nicht sein sollen‘ und ‚wir lagen nicht auf einer Wellenlänge, was unsere Zukunft betrifft‘. Aber er sieht aus wie ein Mann, dem das Herz aus der Brust gerissen wurde.“
„An Thanksgiving schienen sie noch so glücklich zu sein.“
„Ich weiß!“ Jason schnaubte. „Ich habe keine Ahnung, was vorgefallen ist. Deswegen denke ich, dass du ihn anrufen solltest. Derek und ich waren noch nie gut darin, miteinander über unsere Probleme zu sprechen, verstehst du? Wir sind nicht so emotional veranlagt.“
„Aber ihr seid bereits seit eurer Kindheit beste Freunde!“
„Ich weiß“ , sagte Jason mit einem Seufzen. „Aber wir waren die Art von Freunden, die sich für Sport und Videospiele interessieren. Wir haben nicht über Gefühle gesprochen. Und als wir älter wurden, sind wir eben zusammen Partymachen gegangen in die Kneipen und Clubs, um dort Frauen aufzureißen. Er würde mich auslachen, wenn ich versuchen sollte, mit ihm darüber zu reden, warum er für die Liebe kämpfen sollte. Es ist nicht so, dass ich Beziehungserfahrung hätte.“
Remys konzentrierte sich auf den letzten Satz. „Du kommst also ganz schön rum, hm?“
„Nein, Remy. Ich habe bloß noch nie eine feste Beziehung gehabt.“
„Oh.“
„Dein Bruder denkt, dass es daher komme, dass ich mich nicht fest binden möchte, aber daran liegt es nicht.“
„Woran liegt es dann?“
„Ich warte auf die richtige Person.“
In Remys Magengegend machten sich Schmetterlinge bemerkbar, und er legte die Stirn in Falten. Er sollte sich nicht nach Jasons Liebe verzehren. Er war derjenige, der ihm gesagt hatte, dass er bloß einen Rebound wollte und genau das hatte er bekommen, und zwar einen verdammt guten. So gut sogar, dass Trey kaum noch mehr als eine langsam verblassende Erinnerung war, dabei hatten er und Jason noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, zu ficken. Ein paar Blowjobs hatten sogar den versautesten Sex, den er jemals mit Trey gehabt hatte, übertroffen, nicht dass sie so ein wildes Sexleben gehabt hätten. Treys Vorstellung von Abenteuer bestand darin, einen Dreier vorzuschlagen, den Remy jedoch jedes Mal abgeschlagen hatte. Wenn Remy besser aufgepasst hätte, dann hätte er spätestens dann merken müssen, dass etwas nicht stimmte, doch war er sich sicher gewesen, dass Trey ihn vergötterte. Er hatte sich irgendwie wie die ‚bessere‘ Hälfte ihrer Paarung gefühlt, was im Nachhinein gesehen keine gute Sache war. Bestenfalls war Remy zu sehr von seinem eigenen Charme überzeugt gewesen, schlimmstenfalls hatte es sich um Arroganz gehandelt.
„Und was genau soll ich Derek sagen, dass du ihm nicht sagen kannst?“
„Ähm, dass du um die Person, die du liebst, kämpfen musst? Oder dass du es nicht zulassen darfst, dass deine Ängste dich davon abhalten, ein Happy End zu finden? Ich weiß es nicht, Remy. Du bist derjenige, der mit Worten gut umgehen kann.“
Remy war sich dessen nicht so sicher. Jasons Worte hörten sich in seinen Ohren verdammt gut an.
„Es könnte sein, dass er keinen Rat annehmen möchte von jemandem, der selbst gerade erst sitzengelassen wurde“, bemerkte er. „Es ist nicht so, als ob ich die Trophäe für die perfekte Beziehung gewonnen hätte.“
„Ich bitte dich, er weiß, dass Trey ein Idiot war. Wir haben ausführlich darüber gesprochen.“
„Du hast mit meinem Bruder über meinen Ex gesprochen?“
„Äh, ja?“
Das war … überraschend. „Okay, ich rufe ihn an, aber ich kann nichts versprechen.“
„Danke, Mann. Ich weiß es zu schätzen.“
Remy schnaubte. „Nun, er ist schließlich mein Bruder. Sei nicht zu dankbar. Ich tue nur meine Pflicht.“
„Ja.“ Jason zögerte. „Geht es dir gut?“
„Sicher.“
„Irgendwelche neuen Rebounds?“
Remy lachte. Diese drei Worte gaben seinem Ego einen größeren Boost als sich in der Disco einen Fremden anzulachen. „Tschüss, JJ.“
„Was, keine Antwort?“
Er drückte auf ‚Auflegen‘ und schüttelte lächelnd den Kopf. Einen Moment später klingelte sein Telefon mit einer neuen Nachricht.
JJ : Wenn du Telefonsex haben möchtest, um dein Gehirn von der Erinnerung an Trey zu reinigen, dann hast du meine Nummer
Remy reagierte mit einem Emoji, das einen schockierten Gesichtsausdruck hatte, aber er grinste die ganze Zeit über, als er die letzte halbe Stunde Arbeit des Tages hinter sich brachte.
* * *
Remy rief Derek nach der Arbeit an, doch hätte er dies auch genauso gut bleiben lassen können. Sein Bruder ließ sich nichts weiter entlocken, als dass er und Courtney miteinander Schluss gemacht hatten. Er befahl Remy, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Angesichts seiner lallenden Worte beschloss dieser, bei seiner Wohnung vorbeizufahren und nach ihm zu sehen.
Als er nach zehnminütigem Klopfen ohne Antwort eintrat, überkam ihn eine Welle von Fast-Food-Gestank. Pizzakartons, Behälter für chinesisches Essen und leere Bierflaschen lagen in einem Durchmesser von etwa einem Meter rund um das Sofa herum auf dem Couchtisch und dem Boden verstreut. Im Epizentrum der Zerstörungszone befand sich sein Bruder, der ungepflegter aussah, als Remy ihn jemals zuvor gesehen hatte.
„Heilige Scheiße, Derek. Hast du mein Klopfen nicht gehört?“
Sein Bruder grunzte, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden, auf dem ESPN Highlights liefen. Manche Menschen essen Eis, wenn sie deprimiert sind, oder schauen sich kitschige Filme an. Nicht sein Bruder. Er war selbst nie ein überragender Sportler gewesen, aber er verfolgte beliebte amerikanische Sportarten wie Football, Baseball und College-Basketball. Doch nun flackerten die Highlights eines Golfturniers über den Bildschirm. Soweit er wusste, interessierte Derek sich ganz und gar nicht für Golf.
Remy hob die Fernbedienung vom Tisch auf und drückte den Ausschaltknopf. Derek warf ihm einen bösen Blick zu. „Hey, ich schaue Fernsehen.“
„Oh ja? Was haben sie gerade über Tiger Woods gesagt?“
„Ich erinnere mich nicht.“
„Ha! Sie sprachen nicht einmal über Tiger. Du warst völlig weggetreten.“
„Wie auch immer“, sagte er. „Was willst du?“
Remy musste den Drang unterdrücken, weiterhin den kleinen Bruder zu spielen. Er schob eine auf dem Couchtisch stehende Pizzaschachtel zur Seite und setzte sich vor Derek. „Dir scheint es nicht gut zu gehen. Ich kam vorbei, weil ich mir Sorgen um meinen Bruder mache. Du nimmst diese Trennung ziemlich schwer.“
„Als ob du es nicht schwer genommen hast, als Trey dich fallengelassen hat? Ich wette, dass du gar nicht genügend Eiscreme in die Finger bekommen konntest.“
„Autsch. Okay, zunächst einmal habe ich mich von ihm getrennt. Er hat mich betrogen, aber ich war derjenige, der Schluss gemacht hat. Und zweitens ist Eis die traditionelle Art, mit einem gebrochenen Herzen umzugehen. Nicht Golf. Also mach mich nicht blöd an, bloß weil ich Cherry-Garcia -Eiscreme liebe.“
Derek zog die Nase kraus. „Igitt, wie kriegst du den Mist bloß runter?“
„Darum geht es jetzt nicht.“
Derek rieb sich mit der Hand über das Gesicht. Er hatte sich seit etwa drei Tagen schon nicht mehr rasiert, aber dieser Look stand ihm irgendwie. Das mit Pizzasoße befleckte T-Shirt dagegen? Das war eine ganz andere Geschichte. Und dann erst die Jogginghose mit dem Loch im Schritt … Remy hatte kein Bedürfnis, die Geschlechtsteile seines Bruders zu sehen.
„Du siehst beschissen aus und riechst auch so“, sagte Remy. „Geh duschen und ich werde etwas von diesem Chaos beseitigen. Zumindest muss ich nicht fragen, ob du regelmäßig Nahrung zu dir nimmst. Mein Gott, Derek.“
„Halt den Mund“, sagte Derek, während er sich vom Sofa hievte. Er taumelte etwas und streckte den Arm aus, um seine Balance wiederzuerlangen. „Schwindelanfall. Ich schätze, ich bin zu schnell aufgestanden.“
„Bist du sicher, dass es daher kommt? Wie viel hast du getrunken? Mir ist aufgefallen, dass du dich am Telefon ziemlich beschwipst angehört hast.“
„Eh.“ Derek wedelte mit der Hand in der Luft herum. „Heute habe ich nur Bier getrunken.“
Nur Bier. Gott sei Dank hatte er den Schnaps heute im Schrank gelassen.
Remy schob ihn in Richtung Dusche davon und begann damit, den Müll, der sich im Wohnzimmer türmte und den Küchentisch bedeckte, in Tüten einzupacken. Sobald er die Wohnung einigermaßen hergerichtet hatte, öffnete er ein Fenster, um sie zu lüften.
Als Derek frisch geduscht und in sauberer Kleidung zurückkam, hatte Remy eine Kanne Kaffee für ihn bereitstehen. Er schenkte ihm eine Tasse voll ein und bedeutete Derek, sich an den frisch abgewischten Tisch zu setzen.
„Danke“, sagte er und hob die Tasse zum Mund, um einen Schluck zu trinken. „Ich war wirklich nicht so betrunken.“
Er wirkte munterer, als er es kurz nach Remys Eintritt in die Wohnung getan hatte. Die Dusche schien ihn aus seiner Benommenheit gerissen zu haben.
Remy setzte sich ihm gegenüber mit seiner eigenen Tasse Kaffee, die mit reichlich Milch und Zucker angereichert war, an den Tisch. Remy mochte ein wenig Kaffee mit seinem Zucker, wie seine Mutter gerne sagte.
„Willst du mir erzählen, was zwischen dir und Courtney vorgefallen ist?“
„Nicht wirklich.“
Remy beschloss, das Thema aus einem anderen Winkel anzugehen. „Wie habt ihr euch noch gleich kennengelernt?“
„Mein Büro hat mit ihrer Anwaltskanzlei Geschäfte gemacht. Sie ist Anwaltsgehilfin und hat daher den Großteil des Papierkrams erledigt. Ich traf sie zum ersten Mal, als ich ein paar Papiere vorbeibrachte, und nachdem unsere gemeinsamen Geschäfte erledigt waren, lud ich sie zum Mittagessen ein.“
„Sehr verantwortungsbewusst von dir zu warten, bis kein Interessenkonflikt mehr besteht“, sagte Remy.
Derek zuckte mit den Schultern. „Es ist einfach nicht klug, die Arbeit und das Vergnügen zu mischen. Und schau nur, was es mir gebracht hat“, sagte er säuerlich. „Am Ende hat es keinen Unterschied gemacht.“
„Ihr habt an Thanksgiving noch so glücklich miteinander ausgesehen.“
Jedoch konnte er sich an den merkwürdigen Moment erinnern, an dem Derek sich eifersüchtig benommen hatte und Courtney darüber wütend gewesen zu sein schien. Vielleicht war doch nicht alles so perfekt gewesen, wie es zunächst ausgesehen hatte?
Alles, was Derek dazu sagte, war: „So ist das Leben eben.“
„Aber was ist denn wirklich passiert? JJ hat mir gesagt, dass du gemeint hättest, dass es halt nicht hätte sein sollen, aber du hättest sie nicht unseren Eltern vorgestellt, wenn du es nicht ernst gemeint hättest.“
„Jason sollte seine große Klappe halten.“
„Komm schon, Derek. Sprich mit mir. Ich mache mir Sorgen um dich.“
Sein Bruder stöhnte und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. „Na gut. Du willst es so sehr wissen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie an jemand anderem interessiert war, also habe ich ihr gesagt, dass wir uns trennen sollten. Ich wollte nicht so enden wie du, ein Idiot, der betrogen wird.“
Remy zuckte bei diesen Worten zusammen. „Ich wusste nicht, dass du mich als Idioten ansiehst, weil ich meinem Freund vertraut habe, also danke dafür.“
„Tja, also … Ich sage nicht, dass du etwas falsch gemacht hast, aber ich wollte einfach nicht, dass mir dasselbe passiert, das ist alles.“
„Du wolltest einfach nicht denselben Fehler machen, den ich begangen habe, schon verstanden.“ Remy stand auf und spülte seine Kaffeetasse aus. Es hätte ihn nicht so verletzen sollen, dass Derek seine Beziehung als abschreckendes Beispiel dafür nahm, was er vermeiden wollte, aber es tat weh. Es war nicht seine Schuld, dass Trey ihn betrogen hatte, aber vermutlich war er ein Idiot dafür, dass er einem Mann, den die meisten Leute als unzuverlässig bezeichnen würden, so viel Vertrauen geschenkt hatte.
„Das ist mir so rausgerutscht“, sagte Derek. „Ich habe eine Scheiß-Laune. Es tut mir leid. Es tut eben verdammt weh. Ich hatte geglaubt, endlich die richtige Frau gefunden zu haben, verstehst du? Jemand, der mich lieben und mich unterstützen würde, und all diese Sachen. Ich dachte wirklich, dass sie die Richtige für mich ist.“
„Es tut mir leid“, sagte Remy.
„Nun kann ich nachvollziehen, wie furchtbar du dich wegen Trey gefühlt haben musst.“
„Ja“, sagte Remy, „aber das Leben geht weiter und ich blicke wieder mit etwas mehr Zuversicht in die Zukunft, und das wirst du auch bald tun.“
„Aber wie erholt man sich von einem solchen Schlag?“, wollte Derek wissen. In seiner Stimme lag ein Hauch der Verzweiflung. „Wie kann man danach wieder jemandem vertrauen? Meine erste richtige Freundin hat mich betrogen, und ich habe lange gebraucht, darüber hinwegzukommen, und nun das hier …“ Er schüttelte den Kopf. „Vielleicht bin ich besser damit bedient, solo zu bleiben.“
Seine Worte trafen ihn mitten ins Herz. Auch Remy war im Moment nicht dazu bereit, noch einmal jemandem zu vertrauen. Mit Jason zu schlafen war großartig für sein Selbstwertgefühl gewesen und das Flirten übers Telefon gab Remy das Gefühl, wieder lebendig und sexy zu sein. Aber Jason sein Herz anzuvertrauen? Er hatte schreckliche Angst davor, sich wieder derart jemandem auszuliefern.
„Es ist nicht einfach“, gab er zu. „Trey hat mir wehgetan und ich habe Angst davor, mein Herz erneut zu öffnen. Aber wir können nicht einfach aufgeben. Wir sind zu jung, um so zynisch zu sein.“
Derek schnaubte. „Du bist alles andere als zynisch. Du bist hoffnungslos romantisch. Ich wette, dass du dir noch vor dem neuen Jahr einen neuen Kerl anlachst wirst, dem du Kulleraugen machen kannst.“
„Sei still. Ich mache niemandem Kulleraugen.“
Derek imitierte Remys angeblich schmachtenden Blicke und lachte leise, als Remy ihm einen Schlag auf die Schulter versetzte. Einen kurzen Moment lang schien er besserer Laune zu sein.
„Geh nach Hause“, sagte er. „Ich möchte mich in Ruhe meinem Liebeskummer hingeben.“
„Trink nicht so viel.“
„Ich bin ein großer Junge. Ich kann auf mich selbst aufpassen.“
Remy nickte, aber er war nicht überzeugt. Derek zog eine glaubhafte Masche ab, aber er vermutete, dass sein Bruder, sobald er ging, wieder deprimiert auf dem Sofa herumlungern würde.
„Vielleicht könntest du Jason anrufen.“
„Nein, danke.“
„Warum bist du so wütend auf ihn?“, wollte Remy wissen.
Die beiden waren bereits ihr ganzes Leben lang beste Freunde. Remy konnte sich nicht erinnern, jemals eine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen miterlebt zu haben, die länger als ein paar Stunden gedauert hätte.
Derek zuckte mit den Schultern. „Brauche ich einen Grund?“
„Ja, irgendwie schon.“
„Du magst ihn nicht einmal, Remy. Es ist doch nicht allzu weit hergeholt, sich vorzustellen, dass Jason mich angepisst hat, oder?“
„Nein“, sagte Remy. „Aber in all den Jahren, in denen er mich angepisst hat, habt ihr beiden wie Leim zusammengehalten.“
„Tja, der Leim klebt nicht mehr so gut wie früher. Aber lass es gut sein, ich will nicht darüber reden.“
Remy konnte seinen Bruder nicht dazu zwingen, mit ihm zu sprechen. Er griff nach den drei Müllsäcken, die er zusammengepackt hatte, und nahm sie mit, als er die Wohnung verließ. Wenigstens hatte er Derek zum Duschen überreden können und seine Wohnung stank nicht mehr so schrecklich nach Abfall und Bier. Remy nahm sich vor, ein Auge auf seinen Bruder zu halten, und da Jason in der Nähe wohnte und eher mit seinen Angewohnheiten vertraut war, würde er seinen Freund um Hilfe bitten, ob es Derek nun gefiel oder nicht.