Jason wachte auf, als sein Telefon klingelte. Er griff eifrig danach – auch wenn es schon weit nach ein Uhr morgens war und er eigentlich schlafen sollte – in der Hoffnung, dass es Remy sein könnte. Er hatte in den letzten paar Tagen nichts von ihm gehört und sehnte sich so sehr danach, seine Stimme zu hören, dass er sich selbst über einen Anruf in betrunkenem Zustand riesig gefreut hätte.
Als er jedoch den Namen seiner Mutter auf dem Bildschirm las, rutschte ihm das Herz in die Hose.
„Mom?“, sagte er, wobei ihm bereits klar war, dass es nichts Gutes sein konnte. Schon gar nicht um diese Zeit. Nicht, dass sie zu irgendeiner anderen Stunde jemals mit guten Neuigkeiten angerufen hätte.
„Jas“ , lallte sie. „Bin gefallen.“
Heiseres Gelächter folgte, das hin und wieder von ein paar Schmerzenslauten unterbrochen wurde. „Komm heim“ , murmelte sie.
„Bist du verletzt?“, fragte er. „Ich bin an der Arbeit, aber wenn du ernsthaft verletzt bist, dann –“
Der blecherne Ton des Feueralarms schnitt ihm den Satz mitten im Wort ab. Andere Besatzungsmitglieder sprangen rechts und links aus ihren Betten und Jason hatte keine Zeit herauszufinden, ob seine Mutter einfach nur betrunken oder tatsächlich verletzt war und wirklich Hilfe benötigte. Er legte mitten in ihrem unverständlichen Gemurmel auf, denn er musste sich beeilen, seine Ausrüstung anzuziehen. Er schaltete auf Autopilot, gesellte sich zur Crew an ihren Schließfächern und zog die feuerhemmende Hose und Jacke an, die für ihn bereitlagen. Unruhe breitete sich in seinem Bauch aus und er gab dem Chef der Mannschaft ein Zeichen.
Joe kam herüber geeilt und beugte sich zu ihm hinunter, um über das Läuten der Glocke hinweg hören zu können, was Jason ihm zu sagen hatte.
„Familiennotfall. Ich brauche zwei Minuten, um einen Anruf zu machen.“ Er hielt das Handy hoch. „Kann ich es auf den Einsatz mitnehmen?“
Joe runzelte die Stirn. „Mach sicher, dass es die schnellsten zwei Minuten deines Lebens sind. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Vorschriften und ich möchte, dass das Handy weggeschlossen wird, bevor wir den Einsatzort erreichen. Kapiert?“
Jason hielt zum Schwur zwei Finger in die Höhe. „Großes Ehrenwort!“
Aller Wahrscheinlichkeit nach war Jasons Mutter völlig betrunken und hatte einen harmlosen Sturz hinter sich. Aber was, wenn es doch nicht harmlos war?
Jason war nach ihrer Fahrerflucht im Sommer wieder nach Hause gezogen. Er konnte nicht rund um die Uhr über sie wachen, aber er hatte sich damit abgefunden, in seiner freien Zeit ihren Babysitter zu spielen und ihr die Autoschlüssel abzunehmen, wenn er zur Arbeit ging. Seine einzige Gelegenheit dieser Situation zu entkommen, waren seine Schichten auf der Feuerwache und die Feiertage, die er bei den Wells verbrachte, wenn sein Vater normalerweise zu Hause war.
Einst hatte es eine Zeit gegeben, in der er sich schuldig gefühlt hatte, sie über die Feiertage hinweg allein zu lassen, aber diese Gefühle hatte er bereits vor Jahren hinter sich gelassen. Seine Familie hatte Feiertage nie groß gefeiert, dafür waren sie mit den Schuldgefühlen und der Trauer über Kristas Tod viel zu beschäftigt gewesen. Sie stellten noch nicht einmal einen Weihnachtsbaum auf. Wenn Dereks Familie nicht gewesen wäre, dann wäre seine Kindheit völlig unerträglich gewesen.
Er rutschte die Stange hinunter, die vom Wohnbereich im zweiten Stock zur Garage im Erdgeschoss führte, in der die Feuerwehrwagen untergebracht waren. Jason hatte vier Tage Dienst und dann drei Tage frei, also verbrachte er viele Tage und Nächte mit den anderen Männern auf der Station. Es blieben ihm noch etwa drei Stunden, bis er wieder dienstfrei hatte.
Sobald sie unterwegs waren, holte er sein Handy heraus und hielt es ans Ohr.
Sein Vater befand sich auf Geschäftsreise, also machte er sich nicht die Mühe, ihn anzurufen. Er versuchte es mit Derek, dieser nahm jedoch nicht ab. Kein Wunder, denn Derek hatte beschlossen, ihn abgrundtief zu hassen. Da ihm die Zeit davonlief, war er verzweifelt genug, Remy anzurufen, auch wenn das nicht der Eindruck war, den er hinterlassen wollte.
Remy hob erst beim vierten Klingelton ab. Er hörte sich völlig verschlafen an. „JJ? Es ist fast zwei Uhr morgens.“
Scheiße. Da hatte er recht.
„Sorry –“
„Ist das eine Sirene, die ich da höre?“, fragte Remy, wobei er sich sogleich wacher anhörte. „Bist du okay?“
„Ja, ich bin auf dem Weg zu einem Einsatz.“
„Oh.“
„Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Remy. Ich tue das wirklich nicht gerne, aber meine Mutter hat mich angerufen und gesagt, dass sie Hilfe braucht, aber ich bin auf dem Weg zu einem Feuer und kann mich nicht um sie kümmern. Sie meinte, dass sie gestürzt sei und ich weiß nicht, ob sie sich dabei ernsthaft verletzt hat. Wahrscheinlich ist sie betrunken.“
„Willst du, dass ich nach ihr schaue?“
Es klang nicht so, als verurteile er ihn, aber Jason verzog dennoch das Gesicht. „Ja, es ist bloß eine Vorsichtsmaßnahme, um sicherzugehen, dass sie nicht ernsthaft verletzt ist. Ich bitte dich wirklich nicht gerne darum. Wahrscheinlich ist sie in Ordnung, aber ich mache mir Sorgen und ich muss mich auf den Einsatz konzentrieren.“
„Okay, JJ. Ich kümmere mich um sie. Kümmere du dich um dich selbst.“
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher“, versicherte er mit fester Stimme.
Jason beeilte sich, den Anruf zu beenden, denn das Feuerwehrfahrzeug traf bereits beim Ort des Geschehens ein. Das einstöckige Motel war von dichtem Rauch und orangenen Flammen umhüllt, die aus dem Flachdach hinaus in den Himmel züngelten. Glücklicherweise befanden sich nicht allzu viele Autos auf dem Parkplatz und das Gebäude hatte nur ein Stockwerk, also hoffte Jason, dass es keine Fatalitäten geben würde. Wann immer Treppen im Spiel waren, konnte es passieren, dass das Feuer den Leuten auf den oberen Stockwerken den Fluchtweg abschnitt. Wenigstens würden sie beim heutigen Einsatz keine Leiter benötigen.
Er ließ sein Handy im Truck zurück und wandte seine komplette Aufmerksamkeit dem Einsatz zu. Er konnte es sich nicht erlauben, sich ablenken zu lassen, also wartete er mit den anderen Crew-Mitgliedern auf seine Anweisungen und machte sich dann an die Arbeit. Aber es fiel ihm definitiv leichter, sich auf den Einsatz zu konzentrieren, jetzt, wo er wusste, dass Remy sich um das Problem zu Hause kümmern würde. Was auch immer es sein mochte.
* * *
Remy bog in die gepflasterte Auffahrt ein, die zu dem imposanten, im mediterranen Stil gebauten Haus führte, in dem Jason aufgewachsen war. Das mit Gips verputzte Meisterwerk mit den Terrakotta-Dachziegeln und geschlossenen Innenhöfen hob sich entschieden von den benachbarten Kolonialhäusern ab, die durch große grüne Rasenflächen voneinander getrennt waren. Doch so schön das Äußere des Hauses mit seinen dekorativen Gittern über den Fenstern und den Balkonen vor den Schlafzimmern im ersten Stock auch war, so wusste Remy, dass im Inneren durchaus nicht alles so perfekt war, wie es von außen her den Anschein hatte – zumindest was Jason betraf.
Ihm hatten ein eigenes Schlafzimmer, ein Heimkino und ein Spiel- und Entertainmentzimmer zur Verfügung gestanden, und er hatte trotzdem lieber seine gesamte Zeit im um die Ecke liegenden Haus der Wells verbracht. Remys Eltern besaßen immer noch das ansehnliche Kolonialhaus, in dem Derek und Remy aufgewachsen waren, aber heutzutage verbrachten sie die meiste Zeit in ihrem Blockhaus außerhalb der Stadt.
Er parkte auf der gebogenen Auffahrt neben einer Laterne, die den Gehweg in ein goldenes Licht tauchte, und erklomm die Vordertreppe, die zu einer doppeltürigen Eingangstür führten. Jason hatte ihm während ihres kurzen Gesprächs erklärt, wo er den Ersatzschlüssel finden konnte. Er fühlte in der Erde einer Topfpflanze herum, bis seine Finger die gerillte Metallkante des Schlüssels ertasteten.
Er drehte den Schlüssel im Schloss um, wollte jedoch nicht einfach so ins Haus platzen. Falls es Mrs. Hendricks irgendwie gelungen war, vom Boden aufzustehen, wollte er sie nicht verängstigen. Er drückte auf den Klingelknopf, wartete kurz, und klopfte dann obendrein auch noch an der Tür. Das laute Kläffen eines kleinen Hundes erklang und Remy erinnerte sich etwas verspätet daran, dass Jasons Mutter einen Shih Tzu besaß.
Er öffnete die Tür einen Spalt breit und benutzte seinen Fuß dazu, um den aufgeregt bellenden Hund zurückzuhalten. „Hallo? Mrs. Hendricks? Ich bin’s, Remy Wells.“
Jason war lange genug mit Derek befreundet gewesen, sodass seine Eltern die Familie gut kannten, auch wenn sie nicht viel Kontakt zueinander hatten. Die Wellsʼ hatten Jason im Laufe der Jahre zu unzähligen Campingausflügen und Besuchen im Blockhaus abgeholt.
Der Shih Tzu winselte leise und strich schwanzwedelnd mit seinem Kopf an seinem Knöchel entlang. Remy ging in die Hocke und streichelte das Hündchen, während er auf ein Lebenszeichen von Mrs. Hendricks lauschte. „Ich kümmere mich gleich um dich, Schätzchen.“
Remy wäre nicht sonderlich überrascht darüber gewesen, sollte der Hund frisches Futter oder Wasser benötigen, aber erst einmal musste er Jasons Mutter finden, die möglicherweise verletzt war. Er betätigte den ihm am nächst liegenden Lichtschalter und ein Kronleuchter, der von der hohen Decke im Foyer hing, erwachte zum Leben. „Hallo?“, rief er noch einmal, bevor er weiter ins Innere des Hauses vordrang.
Zu seiner Linken führte ein Flur zur Küche, wenn er sich recht erinnerte. Er war ein- oder zweimal im Haus gewesen, aber nur ganz kurz. Zu seiner Rechten konnte er ein großes Wohnzimmer sehen, das von einem weißen Marmorkamin dominiert wurde. Er entschied sich dafür, dort zuerst nachzusehen.
„Mrs. Hendricks?“, rief er.
Ein riesiges Sofa in Hufeisenform nahm die Mitte des Raumes ein. Darum herum befanden sich zusätzliche Sessel und Bistrotische, die den Rest des Bereichs ausfüllten. Remy hatte noch nie zuvor ein so riesiges Wohnzimmer gesehen. Der Kamin selbst hatte eine Breite von zwei Metern, und zu beiden Seiten war noch jeweils gut ein weiterer Meter Platz.
Er konnte Jasons Mutter nirgendwo entdecken. Bis auf eine beträchtliche Anzahl dekorativer Kissen und einiger Decken befand sich nichts auf dem großen Sofa. Er wollte sich schon umdrehen und gehen, da fiel sein Blick auf eine halb leere Weinflasche, die auf dem Kaminsims thronte, direkt neben dem Bild eines glücklich lächelnden kleinen Mädchens mit blonden Zöpfen. Remy nahm an, dass es sich dabei um Jasons Schwester handelte.
Sein Herz hämmerte in seiner Brust, als er um das große Ledersofa herumging. Er verspürte ein mulmiges Gefühl der Angst, als wäre er der Star eines schlechten Horrorfilms und nicht ein Mann, der einem Freund einen Gefallen tat.
Sobald er um die Ecke der Chaiselongue gebogen war, erblickte er Jasons Mutter. Sie lag mit unwillkürlich gespreizten Beinen auf dem Rücken und für eine blutgerinnende Sekunde dachte er, sie könnte tot sein. Dann bewegte sich ihre Brust beim Atmen auf und ab und Remy entließ mit einem hörbaren Laut die angehaltene Luft aus seinen Lungen.
Sie blinzelte ihn benommen an. „Wer bischtn du?“
Remy eilte zu ihr und kniete sich neben sie. „Ich bin ein Freund von Jason. Einer der Wells Brüder.“
Der Hund folgte jeder seiner Bewegungen und schmiegte sich abwechselnd gegen Mrs. Hendricks Hals und Remys Hand.
„Oh, Der–“, nuschelte sie, ohne den Namen zu Ende zu bringen. „Bin hingefallen.“
Remy machte sich nicht die Mühe, ihr zu sagen, dass es sich bei ihm nicht um Derek handelte. Sie stand unter Alkoholeinfluss und höchstwahrscheinlich auch unter dem Einfluss von etwas anderem. Remy glaubte nicht, dass Wein allein einen solchen Rauschzustand verursachen konnte.
„Sind sie verletzt?“
Sie versuchte sich, auf die Seite zu rollen und sich hochzustemmen. Remy fasste sie beim Arm, um ihr aufzuhelfen, doch ihre Arme und Beine, die wie Pudding waren, gaben nach und sie fiel zurück zu Boden. „So müde“, murmelte sie und ihre Augen fielen zu.
„Mrs. Hendricks?“, fragte Remy und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ihr Atem ging gleichmäßig, sie hatte offensichtlich das Bewusstsein verloren. Er tippte sie an. „Kommen Sie, ich bringe Sie ins Bett, okay?“
Sie rührte sich nicht.
Remy betrachtete abschätzend ihre Körpergröße, um zu entscheiden, ob er versuchen sollte, sie vom Boden hochzuheben und zu tragen. Er schlang einen Arm um ihre Taille und bemühte sich sie anzuheben, doch sein Rücken protestierte.
„Nee“, grunzte er. „Das wird nix.“
Mrs. Hendricks war nicht gerade schmächtig und obwohl Remy eigentlich recht fit war, so war er nicht dazu gebaut, jemanden zu tragen, der mehr wog als er selbst. Frustriert legte er die Stirn in Falten. Er wollte nicht, dass Jason nach Hause kam und seine Mutter noch immer ausgestreckt auf dem Boden liegend vorfand. Er wollte ihm beweisen, dass er mit der Situation umgehen konnte.
Er rüttelte sie erneut an der Schulter, in der Hoffnung, sie möge dadurch wieder zu Bewusstsein kommen, damit er ihr ins Bett helfen könnte. Jedoch ohne Erfolg. Er gab ein resigniertes Seufzen von sich. „Verdammte Scheiße.“
Der Hund kläffte laut und trippelte nervös auf der Stelle. Zum Glück war er freundlich. Remy wandte sich ihm zu und griff nach dem Anhänger an seinem pinken, mit Glitzersteinen besetzten Halsband, um den darauf eingravierten Namen zu lesen. „Princess Diana, hm? Tja, Princess, übe dich noch ein paar Minuten lang in Geduld, bitte.“
Er tätschelte ihr beruhigend den Kopf, bevor er sich wieder Mrs. Hendricks zuwendete. Er bemühte sich, seine Stimme so leise und freundlich wie möglich zu halten, um Princess Diana nicht unnötig aufzuregen. „Ich werde nur schnell versuchen, Mrs. Hendricks aufzuhelfen … aaargghh!“
Er grunzte und schnaubte, aber es half alles nichts.
Nach ein paar weiteren gescheiterten Versuchen sie hochzuheben, von denen einer zu einer Muskelzerrung in seinem Rücken führte, ging Remy zu Plan B über. Er schnappte sich mehrere Kissen vom Sofa, schob sie zu einem provisorischen Bett zusammen, und bemühte sich, Jasons Mutter darauf zu ziehen. Dank seiner Bemühungen klebten ihm seine verschwitzten Haare wie ein Helm am Kopf und seine Muskeln schmerzten, so als hätte er gerade mit einem Alligator gekämpft, anstatt eine Hausfrau einige Zentimeter über den Bogen gezogen zu haben. Er breitete eine der Decken über ihr aus und machte sich auf die Suche nach Futter für Princess Diana.
Der Shih Tzu trottete fröhlich mit auf dem Fliesenboden klickernden Krallen hinter ihm her, während er die Speisekammer nach Hundefutter durchsuchte. Nachdem er die Futter- und Wassernäpfe aufgefüllt hatte, kehrte er ins Wohnzimmer zurück, um über Jasons Mutter zu wachen. Er holte sein Handy heraus und schickte eine Nachricht an Jason, um ihm mitzuteilen, dass seine Mutter mehr oder weniger bewusstlos war, aber keine Schmerzen zu haben schien.
Dann wartete er. Und wartete. Irgendwann war er auf dem Ende der Couch, auf dem sich noch Kissen befanden, eingeschlafen.