Das Geräusch der sich öffnenden Haustür weckte Remy auf, gleichzeitig rammten sich Princess Dianas Pfoten schmerzhaft in seinen Bauch, als sie aufsprang, um zum Eingang zu rennen.
Remy sah benommen auf sein Telefon. Es war 5 Uhr morgens, ungefähr drei Stunden nachdem JJ ihn um Hilfe gebeten hatte. Jason war wahrscheinlich erschöpft von seiner langen Schicht und Remy hatte es noch nicht einmal geschafft, Mrs. Hendricks zu Bett zu bringen. Seine Rettungsaktion war gescheitert.
Er erhob sich und umrundete das Sofa, als Jason das Zimmer betrat. „Hey, es tut mir leid.“
Jason hob die Augenbrauen. „Was tut dir leid?“
Remy deutete hinter sich, wo Mrs. Hendricks noch immer auf dem Boden lag. Jason konnte sie von seinem Blickwinkel aus nicht sehen, also tat er einige weitere Schritte vorwärts und spähte um die Ecke der Chaiselongue.
„Ich konnte sie allein nicht hochheben. Scheinbar muss ich mehr Gewichte heben“, sagte Remy unsicher. „Aber ich habe alles versucht, um es ihr so bequem wie möglich zu machen, und ich habe ein Auge auf sie gehalten, damit sie sich nicht übergibt und sich daran verschluckt …“
Jasons Mundwinkel bogen sich zu einem schwachen Lächeln nach oben. „Du hast alles richtig gemacht, Remy. Ich danke dir. Ich habe nicht von dir erwartet, sie zu tragen. Du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich sie nicht zum ersten Mal auf dem Boden gefunden habe.“
Sein Gesicht sah müder aus, als Remy es jemals zuvor gesehen hatte, und seine Augen tränten vor Erschöpfung. Remys Brust schmerzte vor Mitleid, als er dabei zusah, wie Jason, so abgeschlagen er auch war, sich vorbeugte und seine Mutter vom Boden aufhob. Er verlagerte ihr Gewicht in seinen Armen und ging dann mit ihr den Flur hinunter zu einem Raum am anderen Ende des Hauses.
„Das hier ist nicht ihr Schlafzimmer, aber es ist besser, als sie die Treppe raufzuhieven“, sagte er, nachdem er sie auf dem großen Bett abgelegt hatte. Während Jason die Tagesdecke herunterzog und ein paar Kissen neben sie legte, um sie zum Auf-der-Seite-Schlafen zu animieren, ging Remy ins angrenzende Badezimmer und schnappte sich einen Mülleimer, den er neben das Bett stellte. Er füllte außerdem einen Becher mit Wasser und stellte ihn auf den Nachttisch. „Wollen wir sie jetzt dazu bringen, etwas zu trinken?“
„Nee, wenn sie so drauf ist, wacht sie in der Regel nicht mehr auf“, sagte Jason seufzend.
Remy folgte ihm zurück in den Flur und in die Küche, wo Jason sich selbst ebenfalls ein Glas Wasser eingoss und es trank, als hätte er gerade eine Wüste durchquert. Als es leer war, füllte er es wieder auf und nahm einen weiteren großen Schluck.
„Danke noch mal für deine Hilfe“, sagte er und lehnte sich gegen die Küchenzeile.
„Ich habe eigentlich nicht viel gemacht“, gab Remy zu. „Ich habe es nicht einmal geschafft, sie vom Boden aufs Sofa zu kriegen, und schon gar nicht ins Schlafzimmer …“ Er deutete den dunklen Flur hinunter.
Jason schenkte ihm ein Lächeln, aber es kam nicht von Herzen. Der Mann stand kurz davor, wie ein Kartenhaus zusammenzuklappen, aber er versuchte, es nicht zu zeigen. „Ich war bloß froh zu wissen, dass sie nicht allein war. Ich habe nicht von dir erwartet, jemanden die Treppe hochzutragen, der doppelt so schwer ist wie du.“
Remy nickte, noch immer nicht ganz überzeugt davon, dass er nicht mehr hätte tun können. Aber wenn er schon Jasons Mutter nicht genügend geholfen hatte, vielleicht könnte er zumindest noch etwas für Jason tun. „Du siehst erschöpft aus. Brauchst du noch etwas? Ich könnte dir Frühstück machen, während du duschst.“
„Ich habe auf der Feuerwache geduscht. Rieche ich wirklich so schlecht?“
„Wie ein Lagerfeuer, aber unangenehm ist es nicht.“ Remy kam näher, schnupperte mit der Nase über Jasons Hals und atmete seinen rauchigen Duft ein.
„Hmm. Vielleicht könnte man diesen Duft in ein Parfüm verwandeln. Fire and Ash , für Männer.“
Jasons Hände umfassten seine Hüften, er stieß ein Lachen hervor und ließ seine Stirn auf Remys Schulter sinken. „Du bist hier und du bist so was von sexy und ich bin so müde, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Wie ist das fair?“
„Also, wie war das mit Frühstück, oder soll ich dich gleich ins Bett bringen?“
„Bett?“ Jason wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, es zu versuchen.
„Zum Schlafen , JJ. Du bist total erschöpft. Ich bleibe noch eine Weile und schaue nach deiner Mutter, damit du dir etwas Ruhe gönnen kannst.“
„Das ist unglaublich lieb von dir, Remy. Vielen Dank.“
* * *
Jason stolperte die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf, das in den Jahren, in denen er in seiner eigenen Wohnung gelebt hatte, komplett renoviert worden war. Das war, bevor er zu dem Schluss gekommen war, dass seine Mutter jemanden brauchte, der auf sie aufpasste. Er hatte versucht, seinen Vater zur Vernunft zu bringen, und als das scheiterte, hatte er in den sauren Apfel gebissen und war selbst eingezogen. Zu dem Zeitpunkt war er solo gewesen und da er sowieso viel Zeit auf der Feuerwache verbrachte, war ihm nicht klar gewesen, was für ein großes Opfer er damit brachte. Denn er hatte vergessen, wie sehr es schmerzte, seine Mutter in diesem Zustand zu sehen. Als er mit Achtzehn von zu Hause ausgezogen war, hatte er zum ersten Mal seit Langem frei aufatmen können.
Der Raum war in Lavendel- und Grautönen gestrichen worden. Beruhigende, dezente Farben, die er jedoch selbst für sich nicht ausgewählt hätte. Dennoch, das Bett war weich, und das war im Moment das Einzige, was zählte.
Er streifte seine Schuhe ab und zog sein Hemd halb über den Kopf. Er bemerkte erst, dass Remy ihm gefolgt war, als er sich bereits hoffnungslos in seiner eigenen Kleidung verheddert hatte. Offensichtlich hatte seine Koordinationsfähigkeit unter seiner Erschöpfung gelitten. Schlimm genug, dass er zu müde war, um die Tatsache auszunutzen, dass Remy und er sich allein im selben Haus befanden. Jetzt würde er auch noch wie ein Idiot aussehen.
„Hier, lass mich dir helfen“, murmelte Remy, der nach seinem Shirt griff und ihm dabei behilflich war, es über seinen Kopf nach oben zu ziehen. Dann hakte Remy seine Finger im Bund seiner Jogginghose ein und zog sie über seine Schenkel nach unten. Jason ließ es zu, dass Remy ihn rücklings auf das Bett schubste, dann zog er ihm die Hose über die Knöchel aus, entledigte ihn seiner Socken und hob seine Beine hoch aufs Bett. Jason war es peinlich, sich so hilflos zu zeigen vor dem Kerl, der so selbstsicher darauf bestand, ihn nur für eine einmalige Affäre gewollt zu haben. Aber als sein Kopf das Kissen berührte und seine Augen nahezu sofort zufielen, da konnte er seine Worte nicht länger zensieren.
„Bitte gib mir einen Gute-Nacht-Kuss“, flüsterte er.
Er spürte die federleichte Berührung zarter Lippen und wurde kaum Sekunden später vom Schlaf übermannt.
* * *
Als Jason aufwachte, strömte die Sonne bereits durch das Fenster und er war allein. Es war keine große Überraschung, dennoch versetzte es ihm einen Stich der Enttäuschung. Er hätte gerne noch mehr Zeit mit Remy gehabt, und sei es nur, um sich bei einem Kaffee mit ihm zu unterhalten.
Plötzlich meldeten sich in seinem Bauch Schmetterlinge zu Wort. Er erinnerte sich daran, dass Remy angeboten hatte, länger zu bleiben. Vielleicht war er noch im Haus.
Jason ging kurz zur Toilette und begab sich dann nach unten. Im Haus war alles still, dennoch hegte sein Herz die Hoffnung, dass er um die Ecke biegen und Remy erblicken würde. Jason sah kurz nach seiner Mutter, die so laut schnarchte, dass sie damit die Nachbarn wecken könnte, und ging dann in die Küche.
Vor seinem geistigen Auge konnte er bereits eine schlanke, dunkelhaarige Schönheit am Herd stehen sehen.
Aber nein. Die Küche war genauso leer wie der Rest des Hauses. Normalerweise genoss Jason es, zur Abwechslung mal allein zu sein. Auf der Feuerwache war er stets von anderen Crew-Mitgliedern umgeben, also sehnte er sich oft nach ein wenig Privatsphäre. Und sich im selben Raum mit seiner Mutter zu befinden war frustrierend und stressig. Normalerweise wäre die Einsamkeit also eine Art Zuflucht für Jason gewesen. Aber heute fühlte sie sich leer und betäubend an.
Jason fiel die Nachricht auf, die von zwei Magneten an der Kühlschranktür festgehalten wurde:
Bin bis um 6 geblieben, um nach deiner Mutter zu schauen. Musste heim, um mich für die Arbeit fertig zu machen. Hoffe du hast ein wenig Schlaf gekriegt! xoxo Remy
Jason fuhr mit dem Finger über die Buchstaben xoxo . Umarmungen und Küsse? Er fragte sich, ob Remy dies aus Gewohnheit geschrieben hatte oder ob er es ernst meinte. Er schüttelte den Kopf. Seit wann handelte es sich bei ihm um einen emotionalen Teenager?
Nicht schwer zu beantworten, Sherlock . Es hat mit einem wütenden Kuss gegen die Tür angefangen, oder vielleicht schon vor viel längerer Zeit, und zwar in all den Jahren, in denen er Remy heimlich aus der Ferne bewundert hatte. Remy war klug und erfolgreich, und in vielerlei Hinsicht hatte er Jason damit verunsichert, da dieser einfach nicht so viel auf dem Kasten hatte wie er. Auch hatte er Remy als egoistisch empfunden, weil er Jason lediglich als einen Rebound hatte benutzen wollen. Aber die Tatsache, dass er über Nacht geblieben war, obwohl er am nächsten Morgen arbeiten musste, hatte Jason gezeigt, dass er damit unrecht gehabt hatte. Remy war nicht egoistisch, er hatte sich lediglich mit einer Mauer der Gleichgültigkeit geschützt. Zum Teil lag das an der Behandlung, die Jason ihm bereits seit ihrer Kindheitstage hatte zuteilwerden lassen. Er hatte ihn viel und oft gequält, um von seinen eigenen verwirrten Gefühlen abzulenken.
Jason holte sein Handy heraus, um eine kurze Nachricht zu senden:
Jason : Du bist mein Held. Danke
Remy : Sollte das nicht von mir kommen? Du bist doch hier der Feuerwehrmann
Jason : Nee, gestern Nacht hast du mich gerettet. Danke und sorry, dass ich so todmüde war
Remy : Du hast es dir verdient. Weißt du was, geh wieder ins Bett und schlaf noch ein bisschen. Das waren doch nur ein paar Stunden
Jason : Ich werde mich heute ausruhen, aber erst mal habe ich Hunger
Remy : Okay, ich muss in ein Meeting aber … Ich hoffe, dass es deiner Mutter heute besser geht. Sag Bescheid, falls ich dir mit ihr noch irgendwie helfen kann
Jason : Ich glaube nicht, dass ihr zu helfen ist, Remy. Aber vielen Dank
Als er sich umdrehte, stand sein Vater in der Tür und sah genauso müde aus, wie Jason sich fühlte. Er trug einen stark zerknitterten Anzug, also kam er vermutlich direkt vom Flughafen.
„Wann bist du nach Hause gekommen?“, fragte Jason.
„Vor etwa einer halben Stunde.“ Er nickte zur Kühlschranktür. „Ich muss deinen Freund gerade verpasst haben. Habe aber seine Nachricht gesehen.“
Jason warf einen Blick auf den Zettel hinter sich und überlegte, ob die Worte mehr als nur Freundschaft verrieten. Aber das war nicht der Fall. Sie waren von Remy geschrieben worden, nicht von ihm, sonst hätte die Botschaft wahrscheinlich ein oder zwei sexuelle Anspielungen enthalten.
„Ich wusste nicht, dass du unsere schmutzige Wäsche nun schon vor der ganzen Nachbarschaft wäschst.“
Jasons Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Remy wohnt nicht mehr um die Ecke.“
Sein Vater ging an ihm vorbei, um zwei Tassen aus dem Schrank zu nehmen und ihnen Kaffee aus der Maschine einzuschenken, die so eingestellt war, dass sie jeden Morgen um sechs automatisch eine Kanne Kaffee brühte.
„Du weißt, was ich meine“, sagte er, während er Jason eine Tasse reichte.
Jason nahm einen Schluck und gab sich Zeit, sein Temperament zu beruhigen. Er stellte die Tasse auf den Tisch, zog einen Stuhl heraus und setzte sich. Er atmete tief ein und aus. Und dann noch einmal.
„Jason?“
„Setz dich, Dad.“
Er wartete darauf, dass sein Vater ihm gegenüber Platz nahm, und begann dann mit dem Gespräch, dem sie beide zu lange aus dem Weg gegangen waren. Er hatte seinem Vater die Schuld dafür gegeben, dass er das Offensichtliche ignorierte, aber Jason war Teil des Problems. Er ermöglichte ihr Verhalten.
„Ich war auf dem Weg zu einem Feuer, als Mom anrief und mir mitteilte, dass sie hingefallen sei. Außer einen Krankenwagen zu rufen, hatte ich keine andere Wahl.“
Die Stirn seines Vaters zog sich besorgt in Falten. „Geht es ihr gut?“
„Sie hat sich keine ernsthafte Verletzung zugezogen, wenn du das meinst, aber gut geht es ihr nicht. Es geht ihr schon seit Jahren nicht mehr gut. Und ich kann nicht weiterhin derjenige sein, der ständig zu ihrer Rettung geeilt kommt.“
Das Gespräch dauerte über eine Stunde. Es fiel ihm nicht leicht, seinem Vater zu offenbaren, wie enttäuscht er von ihm war. Wie ausgelaugt und gestresst er sich pausenlos wegen seiner Mutter fühlte. Wie sehr sie ihn beide damit verletzt hatten, dass sie durch die Trauer um ihr anderes Kind total vergessen hatten, dass er überhaupt existierte. Aber er schaffte es, alles, was ihm auf dem Herzen lag, zum Ausdruck zu bringen.
Die Emotionen seines Vaters wechselten zwischen Wut, Traurigkeit und Bedauern hin und her, aber zum Schluss stimmte er zu, dass seine Frau in Behandlung gehen musste und dass sie alle Therapie brauchten.
„Wann wirst du ausziehen?“, fragte sein Vater mit müder Stimme, nachdem sie sich einen Plan zurechtgelegt hatten, zu dem auch gehörte, dass Jason sein eigenes Leben führen musste.
„Wahrscheinlich irgendwann im neuen Jahr“, sagte er. „Ich muss mir eine neue Wohnung suchen.“
Sein Vater nickte. „Ich hätte dich niemals ermutigen sollen wieder einzuziehen. Aber weil ich doch so viel unterwegs bin, habe ich gedacht, dass es eine gute Lösung für uns alle wäre.“
„Das war es aber nicht.“
„Du hast recht“, stimmte er zu. „Es tut mir leid, mein Sohn.“
Jason trank seinen Kaffee aus und stand auf. Seine Mutter stolperte mit trüben Augen ins Zimmer. „Brauche Kaffee.“
Jason nahm eine weitere Tasse aus dem Schrank und schenkte ihr Kaffee ein. Sie nahm die Tasse entgegen und trank einen großen Schluck daraus. „Danke, Schatz. Gott, ich habe solche Kopfschmerzen.“
Der Wein machts möglich.
„Schön, dich auch mal wieder zu sehen, Fremder“, sagte sie zu ihrem Ehemann, während sie zum Tisch hinüber schlurfte und sich zu ihm hinunterbückte, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Hab’ dich vermisst.“
„Ich dich auch, Natalie. Genau wie immer.“
„Hmm. Wer’s glaubt“, neckte sie ihn.
Jason warf seinem Vater einen eindringlichen Blick zu, denn es waren Momente wie diese, in denen man Spuren der echten Natalie Hendricks erkennen konnte, was zu dem Trugschluss führte, dass es ihr gut ginge.
Sein Vater nickte ihm kaum merklich zu. „Jason, leg dich wieder hin und ruh dich aus. Deine Mutter und ich müssen miteinander reden.“
Erleichtert darüber, dass nicht von ihm erwartet wurde, an dieser Unterhaltung auch noch teilzunehmen, flüchtete er aus dem Zimmer, als er seine Mutter sagen hörte: „Worüber willst du mit mir reden? Stimmt etwas nicht?“
Seine Wut und Frustration waren noch immer nicht abgeklungen, aber als er daran dachte, dass er bald ausziehen würde, verspürte er Erleichterung. Er würde endlich die Kontrolle über sein Leben zurückerlangen.