Kapitel Zwanzig

An Heiligabend machte sich die ganze Familie auf den Weg in die nahe gelegene Stadt Heartridge, um Luminaria zu erleben. Solange Jason zurückdenken konnte, war es eine Tradition, dass die Wells über den sechs Blocks großen Platz schlenderten, der von Lichtern erleuchtet war – braune Papiersäcke voller Sand, in denen sich jeweils eine brennende Kerze befand. Es war eine wunderschöne, altmodische Weihnachtsdekoration im Zeitalter digitaler, blinkender Lichtshows. Es gab heißen Apfelwein, Zuckerkekse und Pferdekutschenfahrten sowie einen Weihnachtsmann, der Zuckerstangen verteilte.

Als sie begannen, Mäntel, Schneestiefel, Handschuhe und Schals einzusammeln, wies Marge sie alle an, sich in zehn Minuten im Eingangsbereich zu treffen. Jason folgte Remy in sein Schlafzimmer, wohl wissend, dass er sich wahrscheinlich warm einpacken wollte. Ihm wurde schon immer leicht kalt, während auf Jason genau das Gegenteil zutraf. Er trug seinen Mantel über dem Arm, und das würde ausreichen, um den Ausflug zu überstehen.

„Was gibts?“, wollte Remy wissen, während er einen blauen Hoodie aus dem Schrank nahm, um ihn über seinem langärmligen T-Shirt und unter seiner dicken Winterjacke anzuziehen.

Jason steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans, und druckste nervös herum, „Ich habe ein Weihnachtsgeschenk für dich. Ich dachte, dass ich es dir vielleicht heute Abend unter vier Augen gebe, bevor du … ähm …“

„Bevor ich dir die Unschuld raube?“

Remy grinste, als Jason nach einer Antwort suchte. Er kam sich albern vor, weil er in seinem Alter wegen Sex nervös wurde. Aber das war für ihn ein erstes Mal, noch mehr als der Sex am Abend zuvor, der umwerfend gewesen war. Noch nie hatte er beim Ficken eine solch emotionale Verbindung gespürt.

Er räusperte sich. „Genau. Möchtest du heute Abend also überhaupt Geschenke austauschen?“

„Nein.“

„Nein? Willst du es vor allen Leuten öffnen?“ Er wackelte mit den Augenbrauen. „Es könnte ein wenig zu provokativ sein.“

Remy holte seine Schneestiefel aus dem Schrank. „Nein, JJ. Keine Geschenke. Das hier ist eine Affäre, die sich einzig und allein auf die Feiertage beschränkt, da kauft man sich gegenseitig keine Geschenke.“

Nun ja, das war wahrlich keine große Überraschung. Remy wollte sich auf nichts festlegen, aber er täuschte niemanden. Wahrscheinlich nicht einmal sich selbst. Am Abend zuvor war er emotional gewesen. Sein Gesicht hatte sich wie ein offenes Buch lesen lassen. Es war leicht zu erkennen, dass Jason ihm nicht gleichgültig war, aber die eigentliche Frage lautete: Würden diese Gefühle für Jason ausreichen, um seine Angst zu überwinden?

Jason verdrehte die Augen. „Komm schon, wir haben uns immer gegenseitig Geschenke gemacht.“

„Sicher, familiengerechte Geschenke, die man einander kauft, um sich zu necken. Ich schenke dir Brettspiele, weil ich weiß, dass du sie hasst, oder hässliche Unterwäsche, damit ich mir vorstellen kann, wie du von einer Frau ausgelacht wirst …“

„Das erklärt die SpongeBob -Boxershorts“, murmelte er.

„Und du kaufst mir Krawatten in der Farbe, die ich am wenigsten mag –“

„Pink steht dir gut.“

„Und unechte Kacke, weil du dich wie ein Dreijähriger aufführst.“

Die Erinnerung daran ließ Jason laut drauflos lachen. „Das war lustig. Du hättest dein Gesicht sehen sollen.“

„Handelt es sich um ein solches Geschenk?“

„Ähm, nein.“

„Dann will ich es nicht.“

„Remy …“

„Ich will es nicht haben“, sagte Remy bestimmter. „Du hast dich noch nicht als bisexuell geoutet. Und du bist noch nicht so weit, es zu tun. Du hast es noch nicht einmal meinen Eltern gestanden, und sie haben wahrlich kein Problem damit. Also hör auf, JJ. Ich bin schwul. Und ich stehe offen dazu. Und wenn ich eine ernsthafte Beziehung habe, dann verstecke ich mich nicht. Verstehst du, was ich damit sagen will?“

Er wollte widersprechen, aber Remy hatte recht. Er hatte keine Schritte unternommen, um sich zu outen, und wenn er wollte, dass Remy sich auf etwas Ernstes mit ihm einließ, musste er ihm zeigen, dass er dazu bereit war. Er schämte sich nicht für seine Sexualität, aber seinem Umfeld mitzuteilen, dass er bisexuell sei, nachdem er sich so lange als heterosexuell präsentiert hatte, fühlte sich so an, als würde er zugeben, dass sein Leben eine Lüge war.

Jason schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. „Ja. Das ist der Grund, warum du Unwillens bist, dich auf mehr als nur eine Affäre mit mir einzulassen, nicht wahr?“

„Teilweise“, sagte Remy. „Außerdem bin ich ein Angsthase, der keine weitere schmerzhafte Trennung durchmachen will.“

Jason ergriff seine Hand und drückte sie. „Ich weiß, dass ich dir nicht versprechen kann, dass es funktionieren würde, aber was ich dir versprechen kann, ist, dass ich dich niemals hintergehen würde.“

Remys Stimme wurde weicher. „Das weiß ich. Und es ist okay, wenn du noch nicht bereit dazu bist, dich zu outen. Ich will nicht, dass du denkst, dass ich dich darum bitte. Jeder muss den richtigen Zeitpunkt für sich selbst bestimmen.“

Er senkte den Kopf und gab Remy einen Kuss auf die Schulter. „Danke.“

„Aber keine Geschenke“, fügte Remy mit zitternder Stimme hinzu.

„Keine Geschenke“, willigte Jason ein, während er hinter dem Rücken seine Finger überkreuzte. Ihm war es egal, dass sie kein Paar waren. Das Geschenk war viel zu gut, als es ihm nicht zu geben. Er würde es später heimlich in Remys Weihnachtssocke stecken müssen.

* * *

Heartridge sah wunderschön aus, da die Luminaria von einer frischen, neuen Schneeschicht reflektiert wurde. Der Stadtplatz – komplett mit altmodischen Backsteinstraßen – war für Fußgänger abgesperrt, sodass der Verkehr, den Schneefall noch nicht in einen schmutzigen Matsch verwandelt hatte.

Remy lief mit hängenden Schultern und tief in der Tasche vergrabenen Händen über den Stadtplatz. Ihre Nasen waren rot und ihr Atem kondensierte dank niedrigster Temperaturen, aber sie hielten an einer Bude an, um ihr Inneres mit heißem Apfelwein zu erwärmen. Normalerweise machten sie einen Rundgang über den Platz und genossen die Lichter und die Schulkinder, die sich in einer Ecke versammelten und Weihnachtslieder sangen, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Dieses Jahr blieb Jason jedoch an der Reihe der Pferdekutschen stehen. Der Rest der Familie Wells hielt auf dem Bürgersteig an.

„Wie kommt es, dass wir noch nie eine Rundfahrt gemacht haben?“, wollte Jason wissen.

„Ich habe keine Ahnung“, entgegnete Remys Vater Theodore. „Ich schätze, wir hatten immer eine Horde von Kindern im Schlepptau.“

„Und nun haben wir eine Horde Erwachsener“, sagte Marge mit einem Kichern.

Er sah Remy an, der mit von der Kälte geröteten Wangen und vom Wind zerzausten Haaren neben ihm stand. Und es war lächerlich. Absoluter Wahnsinn. Doch plötzlich wollte er mit Remy eine Kutschfahrt unternehmen. Er wollte sehen, wie sich die Luminaria  – und andere Weihnachtslichter der umliegenden Häuser – in seinen Augen spiegelten. Er wollte ihn im Mondlicht küssen und eine Million anderer kitschiger Dinge machen.

Er konnte jedoch keine dieser romantischen Sachen tun, weil niemand davon wusste, dass er auf diese Weise an Remy interessiert war. Und das war – zumindest teilweise – darauf zurückzuführen, dass Jason es noch nicht fertiggebracht hatte, sich zu outen. Und plötzlich begriff er, warum Remy Angst davor hatte, sich an jemanden zu binden, der nicht offen lebte. Weil ihm dadurch eine einfache Geste wie eine Kutschfahrt verweigert wurde. Und diese Tatsache erfüllte ihn mit Traurigkeit.

„Ihr solltet dieses Jahr eine Fahrt mitmachen“, ermutigte er Marge und Theodore. Wenn er es schon nicht genießen konnte, dann sollten sie es wenigstens tun.

„Na ja …“

„Ach, ihr zwei seid solch ein süßes Paar“, säuselte eine neben ihnen stehende Großmutter. Sie tätschelte Jasons Arm. „Gutaussehend und romantisch.“ Sie zwinkerte Remy zu. „Er ist ein guter Fang.“

Sie hatte die Situation offensichtlich missverstanden, aber für Jason schien es ein Zeichen des Himmels zu sein. Vielleicht sollte er tun, was er wollte, und sich einen Teufel darum scheren, was irgendjemand dachte.

„Oh nein, wir –“

Jason unterbrach Remys Erklärungsversuch. „Dankeschön. Ich denke jedoch, dass er die bessere Hälfte ist.“

„W-wa-“, stotterte Remy und sie kicherte.

„Oh, hier kommt jetzt eine Kutsche. Ihr zwei nehmt sie“, sagte sie und stieß sie vorwärts.

Remy, immer noch verblüfft über Jasons Showeinlage, ließ sich nach vorne und in die Kutsche schieben. Jason folgte ihm und schaute dann auf die Wells hinunter.

„Möchte noch jemand mitfahren?“, fragte er und hoffte im Stillen, dass sie seine Einladung nicht annehmen würden.

Derek starrte ihn an, als wäre er verrückt, scheinbar hin- und hergerissen zwischen Lachen und Misstrauen. Marge lächelte und winkte ab. „Dreht ihr mal eine Runde!“

Die Kutsche rollte los und das langsame Klappern der Hufe auf den Backsteinen hallte über den Platz. Remy blinzelte benommen. „Was war das denn gerade?“

Jason tat die Sache mit einem Achselzucken ab, obwohl er ein nervöses Flattern in der Magengegend verspürte. „Sie hat offensichtlich angenommen, dass wir ein Paar sind“, sagte er.

Remy sah ihn mit weit aufgerissenem Mund an. „Aber … du hast dich noch nicht zu deiner Bisexualität bekannt.“

„Ja“, sagte Jason entschuldigend. „Es wäre einfacher, wenn ich das bereits getan hätte. Das verstehe ich. Aber es macht mir nichts aus, wenn die Leute denken, dass wir ein Paar sind. Ich schäme mich nicht für dich.“

„Und was ist mit meiner Familie?“

„Sie glauben, dass ich einer netten alten Dame eine Freude gemacht habe.“

Remy leckte sich die Lippen. „Und was ist jetzt die Wahrheit?“

Die Lichter spiegelten sich in seinen Augen wider, genau wie Jason es vor seinem geistigen Auge vor sich gesehen hatte. Er lehnte sich zu ihm hinüber und sagte leise zu ihm, „Ich wollte diese Kutschfahrt mit dir machen. Das ist die Wahrheit. Ich habe keine Angst, Remy. Die Leute können denken, was sie wollen.“

„Wenn das deine Art ist, etwas zu beweisen …“

Jason legte ihm einen Finger auf die Lippen, als er sich sicher war, dass sie sich außer Sichtweise befanden. „Manchmal ist eine Kutschfahrt nur eine Kutschfahrt.“

Remys Augen verengten sich.

„Und manchmal ist es eine Entschuldigung, um dich zu berühren“, fügte Jason hinzu.

Er senkte seine Hand und küsste Remys Lippen, bevor er sich zurücklehnte und sich ihre Finger ineinander verflochten. Er legte ihre miteinander verbundenen Hände auf sein Knie und Remy lehnte sich bei ihm an, wobei er etwas von seiner Wärme stahl.

„Das ist verrückt“, murmelte Remy.

„Ich bin verrückt nach dir“, sagte Jason und schmiegte seine Nase an Remys dunkles Haar. „Aber ich verstehe deine Zurückhaltung. Wirklich. Jetzt habe ich es kapiert.“

Ihm war klar geworden, dass sein Verhalten, sich nicht zu outen, seinen Worten widersprach, obwohl er sich mehr von ihrer Beziehung wünschte. Remy war klug genug zu erkennen, dass sie nichts Echtes haben konnten, bis Jason dazu bereit war, ehrlich mit sich selbst zu sein.

Er war nicht so schlau wie Remy, das war er noch nie gewesen, aber langsam durchschaute er die Dinge. Und er wusste ohne jeden Zweifel, dass er alles, was das Leben ihm in den Weg stellte, auf sich nehmen würde, nur um die Chance zu haben, mit dem wundervollen Mann an seiner Seite zusammen zu sein.

„Ich möchte nicht verletzt werden, aber ich möchte dich auch nicht wegstoßen“, sagte Remy mit leiser Stimme.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Jason schlicht. „Ich ziehe dich einfach wieder näher an mich heran.“

Er beobachtete Remys Gesicht, als sie über den Platz rollten, spürte die Wärme seiner Hand in seiner eigenen und machte Frieden mit der Tatsache, dass er sich Hals über Kopf in den kleinen Bruder seines besten Freundes verliebt hatte.