XII   Das Diarium des Clemens vom Stein

Das Diarium des Clemens vom Stein

Dreizehneichen, d. 15. September

Der alte Eisenmann hat mich im Herrenzimmer an die Chaiselongue gefesselt. Worte waren seine Stricke und er hat sich wahrlich ein dickes Seil geflochten, das auch mit der unverschämtesten Interessenlosigkeit nicht zu durchtrennen war. Kein noch so blutleeres Was Sie nicht sagen! hat ihn entmutigen, kein noch so geschickt eingestreuter Verweis auf andere, schneller zu bestellende Felder ihn von seinem Thema abbringen können.

Hüte! Natürlich ging es wieder um Hüte — man sehe es mir nach, wenn ich die Einzelheiten übergehe. Ich habe auch beileibe nicht das ganze Jahrhundert, das ich auf der Chaiselongue herumrutschend den Jüngsten Tag der Hutmacherei, wenigstens aber des Eisenmann’schen Hutgeschäfts herbeisehnte, so zugehört, wie es die Höflichkeit gegen meinen großzügigen Patron wohl verlangt hätte.

Längstens ist es, so viel kann ich sagen, um Zylinder gegangen, und zwar in Besonderem um die Vorzüge des Biberfilzes im Vergleich zur Seide, wobei ich in Eisenmanns verlässlich modulationsfreiem Vortrag einen leisen Vorbehalt gegen den Glanzzylinder herausgehört habe. Das passt zu ihm und seinem männlichen Widerwillen gegen zu viel Putz, verdankt sich in Wahrheit aber wohl ganz allein der gesunden Eisenmann’schen Opposition gegen jedwede Mode, die ihn ja überhaupt erst in den Stand setzt, ein respektables Hutgeschäft zu führen, das nicht im Widerspruch zu unseren hiesigen Überzeugungen steht. Die Mode ist schließlich nichts als der Bastard des unseligen Fortschritts, der sich schmeichelnd der Eitelkeit bedient, um uns mit dem fatalen Geist des Neuen anzugreifen.

Nur das Abgetragene verdient Ersatz, so habe ich es Eisenmann schon oft und gewiss auch an diesem zähen Nachmittag sagen hören — selbst wenn dieser treffliche Satz, sollte er heute gefallen sein, diesmal zum Überhörten zählt. Natürlich, Biberfilz oder Seide — das ist am Ende auch eine weltanschauliche Frage, nur stand mir der Sinn eben nicht nach Politik, und ich musste mich mit einem zweiten und schließlich sogar einem dritten Tortenstück über den Ernst der Lage hinwegtrösten.

Auch konnte ich ganze Passagen lang den Blick nicht von der Schnurrbarttasse des alten Eisenmannes wenden, die über einen speziellen, durchbrochenen Deckel verfügt, um zu verhindern, dass er seinen Schnurrbart in den Hagebuttentee tunkt. Er trägt ihn zwar an den Enden gewichst und aufgezwirbelt, aber Vorsicht ist eben die Mutter allen Porzellans und insbesondere des Eisenmann’schen.

Gerettet hat mich endlich die kleine Minna. Das Fräulein Labasch war zu einer ihrer epischen Besorgungen aufgebrochen, der alte Eisenmann einmal mehr nicht im Geringsten großväterlich gestimmt, und so oblag es mir, Minnas neues Schaukelpferd zu bewundern — gewissermaßen ritt ich auf ihm aus dem Herrenzimmer hinaus und hätte dabei am liebsten das Tischtuch als Fahne meiner Erleichterung geschwenkt. Oh Minna, einziger Eisenmann’scher Lebensfunke, was täte ich ohne dich!

Das Schaukelpferd ist übrigens wirklich allerliebst. Mähne und Schweif sind aus fester roter Wolle und fliegen beim wilden Galopp über den Teppich fast so schön wie Minnas Locken. Ich selbst war für einen so temperamentvollen Ritt zu schwer, wusste aber immerhin eine hübsche Kulisse beizusteuern, indem ich Minna von meinen Franken und Sachsen erzählte, die, wie ich ihr versicherte, gleichfalls wilde Reitersleut gewesen waren.

Minna wollte auf ihrem Pferdchen denn auch gleich den tapferen Elmar darstellen. All meine Versuche, ihr den Part der Hildegunde schmackhaft zu machen, scheiterten kläglich. Also stellte ich kurzerhand selbst die schöne Fränkin dar, und wir spielten unter einigem Gejohle ein wenig Sachsenkrieg — schade und auch ein wenig rätselhaft, dass mir derselbe Stoff an meinem Schreibtisch nicht dieselbe Freude macht.

Aber es ist eben etwas an den Kindern, das immer fröhlich nach vorne drängt. Sie können die Zukunft nicht erwarten, weil alles Kommende für sie einzig und allein Verheißung ist. Man frage nur die kleine Minna, wie alt sie denn jetzt sei, und sie wird ein jedes Mal mit schon sechs Jahre antworten — strahlend stolz auf das Erreichte und sich eifrig vergewissernd, dass es genauso zügig weitergeht.

Und weiter, weiter, immer weiter ging auch unsere Reise auf dem Schaukelpferd, während derer Minna allerlei fremde Länder kennenlernte, derweil ich als keusche Hildegunde treuherzig in meiner Kemenate saß. Gut möglich, dass man der kleinen Minna ihren Forschergeist noch austreiben muss, aber wofür wären der graue Eisenmann und das gestrenge Fräulein Labasch besser geeignet, sind sie doch Bollwerke der Beharrlichkeit, Heroen nicht des Weiter , sondern des Wieder , wovon die kleine Minna natürlich noch nichts weiß. Denn noch ahnt sie ja nicht, dass sie auf einer paradiesischen Insel lebt, die sich Tag für Tag gegen einen Ozean der Neuerung erwehrt, geschützt durch wenig mehr als die Entschiedenheit ihrer Bewohner und das Geheimnis ihres Orts. Aber der Hang zum Neuen ist eben vor allem eine Anfechtung der Jugend und Minna wird von ihrem Forschergeist lassen und lassen müssen, so wie ich.

Das gesagt: Mich hat schon wieder der Hafer gestochen! Der kleine Saal, den ich vorgestern besucht habe, wollte mir nicht aus dem Kopf — nicht weil mir die genossene Geisterbeschwörung unvergesslich gewesen wäre, sondern weil ich mich ständig selber auf der kleinen Bühne sah, das Manuskript des ersten Gesanges in der Hand und im Takt meiner Verse auf- und abklabasternd wie ein fleißiges Pferdchen. Also habe ich heute, bevor mich der alte Eisenmann verhaftet hat, beim Betreiber vorgesprochen, dem ehrbaren Primus Falke, seines Zeichens Vorsitzender der Erbaulichen Gesellschaft und, so mein Eindruck, ein grundgütiger Mann, weicher als der alte Eisenmann, vielleicht sogar ein Stück weit ungewöhnlich , aber dabei doch ganz zweifellos respektabel. Man munkelt gar, dass er in Diensten der Abt. XIII gestanden habe und seither nur umso fester im Glauben sei. Einerlei, er hat sich, das ist das Entscheidende, sehr für meine Sachsen und Franken begeistert, eine Lobrede auf das Versepos und seine unauslöschliche Tradition gehalten und mir, auf mein, ich fürchte, ungestümes Drängen hin, den Saal gleich heute zu einer ersten Lesung offeriert. Zwar hat er meine Begeisterung zu dämpfen versucht — zur Nachtstunde sei der Saal nur schlecht besucht, zudem fehle die Zeit, meinen Auftritt wirksam anzukündigen, usw. usf. —, aber ich habe nun mal einen Hang zu übereilten Entschlüssen. Kurzum: Ich gehe zur dreizehnten Stunde hin. Ach was, ich werde fliegen! Und ich hoffe, in vielen Jahren erinnere ich diesen Abend als ersten, zarten Triumph.