I  Ein Fall für Secundus Falke

E r hatte Bäder aus Marmor gesehen, automatische Toiletten, die einem den Hintern brausten, kaum drei Schritte vom Bett entfernt. Und er hatte glitzernde Wände aus Spiegeln gesehen, indirekt elektrisch beleuchtet, in einer Hotelsuite nahe dem Kottbusser Tor. Er hielt all das für Verschwendung, aber eine klammheimliche Verachtung für sein Nachtgeschirr war Secundus Falke von diesen Eindrücken doch geblieben, und so schlug er seufzend das Federbett zurück und tastete mit den Füßen nach den Pantoffeln. Weil er das Schlafzimmer noch nicht beheizen ließ, schlüpfte er erst in den Schlafrock, bevor er die Öllampe entzündete, den Glaszylinder über die Flamme stülpte und seine Expedition zum stillen Örtchen im Hof begann.

Er kam nicht weiter als bis in die Stube, die er im Hellen eigentlich nur sommers beim Frühstück sah. Jemand hämmerte gegen die Wohnungstür, als stünde der Dachstuhl in Flammen. Secundus verfluchte den Klopfer oder den schmerzhaften Harndrang – beides zusammen vertrug sich nicht. Aber es entsprach nicht seinem Rang, den Klopfer einfach klopfen zu lassen. Secundus nahm Haltung an und schritt durch den Flur, während er sein drahtiges Haar zu glätten versuchte. Er öffnete kraftvoll die Tür und sah im Schein seiner Öllampe zwei Pickelhauben, die, von seinem schnellen Erscheinen überrascht, ihre Glieder sortierten, um zu salutieren.

Secundus blinzelte die beiden an, ganz offensichtlich hatte Kammholz sie geschickt. Er knurrte, um seinen Aufzug zu kompensieren. Er hatte einen Ruf als harter Hund zu verlieren, Harndrang hin oder her. »Ja, die Herren?«

»Herr Oberst!«, bellte der kleinere von den beiden, der vielleicht nicht ganz so tumb wie der andere war, ein käsiger Kerl mit schütterem Schnurrbart, Secundus hatte ihn schon mal gesehen. Leberecht Irgendwie, dämmerte es ihm. Nicht, dass es eine Rolle spielte.

»Stehen Sie bequem«, brummte Secundus, was an der Haltung der beiden nichts änderte. »Ich gehe davon aus, Sie haben einen guten Grund, mich aus dem Schlaf zu reißen?«

»Jawohl, Herr Oberst!« Dem Kleinen stand der Schweiß auf der Stirn. Der Große hatte ein Pferdegesicht, vermutlich hatte er bis eben an einem Pfeiler gelehnt und seine Nachtschicht verschlafen.

»Dann mal raus mit der Sprache, Wachtmeister. Wir stehen ja nun schon eine Weile hier.« Der Harndrang verursachte ihm Schmerzen bis in den Oberbauch. Secundus hatte nicht übel Lust, das Pferdegesicht und den käsigen Kleinen anzufauchen. Er war ein Raubtier, wenn auch eines auf der Jagd nach einem Klo.

»Leutnant Kammholz schickt uns mit einer Droschke, Herr Oberst. Er bittet Sie höflich, keine Zeit zu verlieren.«

»So? Und in welcher Angelegenheit?«

»Darüber haben wir keine Kenntnis, Herr Oberst. Wir haben nur Weisung, Sie abzuholen. Bitte um Verzeihung.«

Secundus strich sich über den Knebelbart. Da hatte Kammholz also wirklich den Deckel auf dem Topf gehalten. Das war mehr, als er ihm zugetraut hätte. Secundus grunzte. »Unter diesen Umständen: Warten Sie einen Augenblick, Wachtmeister.«

Er schloss die Tür, und hätte man ihn nicht hören können, er wäre ins Schlafzimmer gerannt. So beschleunigte er seine Schritte erst in der Stube. Sich in den Nachttopf zu erleichtern, war ein paradiesisches Gefühl. Secundus schob den Topf unters Bett. Es war weniger drin, als er erwartet hätte. Die Menge entsprach nicht dem erlittenen Schmerz. Unzweifelhaft war er nicht mehr der Jüngste.

Secundus beerdigte den Gedanken und beeilte sich. Er stieg in die Uniformhose und trat ungeduldig in die Stiefel. Dann kämmte er sich eine zu große Portion Pomade ins Haar, strich sich die Schnurrbartenden glatt, fuhr mit den Fingern über den immer noch dunklen Bart und schlüpfte hemdlos in den Rock. Er reckte das Kinn, um den hohen Kragen zu knöpfen, griff nach der Tellermütze und zog sie mit einem entschlossenen Ruck zurecht, bevor er das Licht löschte und im Dunkeln zur Tür zurückkehrte.

»Ja, worauf warten Sie noch?«, herrschte er den käsigen Kleinen an, kaum dass er die Tür wieder aufgerissen hatte. Dann folgte er den absatzklappernden Wachtmeistern gemessenen Schritts zur Treppe.

Die Droschke wartete am Rinnstein. Er nahm allein auf der kühlen Lederbank Platz und vermisste die Handschuhe, die er sich in diesem Augenblick von den Fingern gezupft hätte, hätte er sie zu seinem Ärger nicht vergessen. Stattdessen schob er den Vorhang beiseite und starrte in die Nacht. Sie fuhren Richtung Westen, Secundus erahnte das Tannhäuser Tor. Entweder war das Vorkommnis erheblich oder Kammholz hatte einen schrecklichen Fehler gemacht.

Die Droschke war von der Allee der Inneren Einkehr abgebogen, in jenes schlecht beleuchtete Gassengewirr von Unterbaum, das Secundus seit jeher ein Graus war: Er wollte schnurgerade Straßen und Laternen, die den Namen verdienten, statt dieser Funzeln, die die Leute nur deshalb vor die Türen hängten, weil die Policey es befahl. Letztlich spendeten sie weniger Licht, als dass sie Schatten warfen, in denen Gott weiß was geschah.

Secundus hatte eine Stadt zu bewachen, an schlechten Tagen wollte er Gas – wohl wissend, dass schon die Einführung von Argand-Lampen und Stahlfedern in der Abteilung ein Glaubenskrieg gewesen war. Alfart bemängelte bis heute die nachlassende Qualität der Handschrift in Berichten, die er doch bestenfalls mit halbem Auge las.

Die Droschke wurde immer langsamer, unter den Kopfsteinen dieser Winkelgassen mussten Maulwürfe wühlen, die sich von gebrochenen Speichen ernährten. Wahrscheinlich wäre er zu Fuß schneller.

Secundus hieb mit einer wegwerfenden Bewegung gegen das Droschkendach, aber offenbar kam die Droschke aus anderen Gründen zum Stehen. Der käsige Wachtmeister öffnete den Schlag. Secundus schälte sich unbehandschuht aus der Tür, rammte den Stiefel auf den Tritt und fand sich einer ganzen Traube von Pickelhauben gegenüber, die eine kleine, schäbige Tür verstellten. Einer nach dem anderen nahm Haltung an, aber Secundus wischte sie alle unwirsch zur Seite. Im Vorübergehen las er die veraltete Ankündigung einer Séance, die er so glücklich versäumt hatte wie alle anderen Aufrichtungen zur 13. Nachtstunde, dann stieß er die Tür auf, bemerkte im engen Vorraum das Fehlen der vorgeschriebenen Teilnehmerliste und erreichte mit wenigen Schritten genau jene triste Sorte Saal, die ihm der Zettel draußen versprochen hatte. Ein paar Stuhlreihen, getrennt durch einen schmalen Mittelgang, eine winzige Bühne mit einem Pult – und das alles beleuchtet von rußenden Kerzen und erfüllt von zum Schneiden schlechter Luft.

Auch hier drinnen traten sich die Pickelhauben auf die Füße, aber immerhin ragte der lange Kammholz aus ihnen hervor, schnieke wie immer, an diesem Abend sogar in Ausgehuniform. Kammholz war ein Geck – noch etwas, das Secundus nicht an ihm mochte –, aber immerhin hatte der Milchbart ihn endlich entdeckt und eilte auf ihn zu.

»Herr Oberst!«

»Leutnant?« Von allzu weit unten warf Secundus einen skeptischen Blick zu Kammholz hinauf. Kammholz hatte nur diesen einen Moment, sich zu erklären. Secundus war auf Ärger aus.

»Ein Übertritt, Herr Oberst. Vor reichlich einer Stunde.«

»Oh.« Beinahe war er enttäuscht: Da hatte Kammholz trotz mangelnder Erfahrung also alles richtig gemacht. Dann setzte Secundus’ fachmännisches Interesse ein. Es hatte seit Jahren keinen Übertritt mehr gegeben. Dies war eine besondere Nacht. »Wo?«, bellte er Kammholz an.

»Hinter der Bühne, Herr Oberst.«

»Und wer?«

»Ein junger Mann. Ahnungslos, wenn Sie mich fragen.«

»Ich frage Sie nicht.«

»Außerdem betrunken«, sagte Kammholz furchtlos. Er hatte so eine Art, sich nicht von Secundus einschüchtern zu lassen, die Secundus jeden Tag aufs Neue missfiel.

»Ach ja?«

»Er roch stark nach Bier.«

»Ist er noch da?« Secundus ließ den Blick durch den Saal schweifen. Links vorn, am anderen Ende, saß jemand, von Pickelhauben umstellt.

»Nein, Herr Oberst. Wir haben ihn vorschriftsgemäß abtransportiert. Er müsste bereits abgesondert sein. Den jungen Mann da vorne haben wir als Zeugen hierbehalten. Ich dachte, Sie würden ihn gleich befragen wollen.«

»Noch mehr Zeugen?« Durchaus möglich, dachte Secundus, dass selbst ein so schäbiger Saal zur 13. Nachtstunde halbwegs gut besucht gewesen war.

»Vier, Herr Oberst. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat der junge Mann hier heute Abend ein Gedicht vorgetragen. Zu so etwas kommen nicht viele Leute und im Voraus angekündigt war die Veranstaltung offenbar auch nicht. Ich habe die vier gehen lassen, Herr Oberst. Wir haben ihre Namen und Adressen.«

Deshalb also hatte die Liste im Vorraum gefehlt; Kammholz hatte sie schon an sich angenommen. »Aussagen?«

»Haben wir aufgenommen. Stimmen alle überein. Kein Wunder, der Übertritt fand praktisch auf offener Bühne statt.«

Secundus legte die Stirn in Falten. »Er ist einfach so auf die Bühne gelaufen?«

»Jawohl, Herr Oberst. Gestolpert trifft es wohl eher.«

»Gut so weit, Leutnant. Jetzt eins nach dem anderen. Zuerst will ich hinter die Bühne. Ist die Abteilung XII schon da?«

»Oberst Jochum, Herr Oberst. Wir waren beide auf derselben Veranstaltung, ganz in der Nähe.«

»Was Sie nicht sagen.« Kammholz’ perennischen Eifer konnte Secundus auch nur schlecht ertragen.

»Ein Vortrag über die vedischen Gesänge, Herr Oberst. Sehr erhebend. In meinen Augen zumindest. Oberst Jochum hat ja gewisse Vorbehalte gegen den Orientalismus.«

Secundus nickte uninteressiert. Jochum war ein Narr und Purist. Er schritt schon durch den Mittelgang und warf im Vorübergehen einen Blick auf den kleinen Dichter, der mit leuchtenden Augen in der vordersten Reihe saß.