V  Im Fundus

D er Fundus ist unbesetzt?« Secundus verkürzte seine Schritte, damit die Schaf auch mithalten konnte. Er durchmaß den hallenden Gang und sie hielt trippelnd Anschluss. Es roch unverkennbar nach Bohnerwachs. Hinter der langen Fensterreihe zum Hof wurde es nur zögerlich Tag. Natürlich war noch niemand im Fundus.

»Um diese Zeit schon, Herr Oberst. Aber ich kann Ihnen zur Hand gehen. Ich bin ja eine alte Frau. Falls Sie sich um die Schicklichkeit …«

Er grunzte, nur damit sie nicht weitersprach. Die Schaf und Fragen der Schicklichkeit band man besser nicht in einem Gedanken zusammen. Wollte sie etwa einen Blick auf Kammholz’ Weißwäsche werfen? Er verscheuchte den Gedanken wie eine Pferdebremse und nahm die Treppe in Angriff. Das breite, steinerne Geländer überließ er ihrer wächsernen Altfrauenhand.

»Ist denn das Verhör zu Ihrer Zufriedenheit verlaufen?« Mit der Linken hatte sie ihren schwarzen Leichensack gerafft. Sie fragte beiläufig.

Er grunzte wieder, nicht ganz so sehr in Gedanken, wie er tat. Was ging es die Schaf an, wie seine Verhöre verliefen? Andererseits: Es war ein Lid. Ihre Neugier war begreiflich. »Wir stehen noch ganz am Anfang, Fräulein Schaf«, brummte er halb versöhnlich zu ihr hinauf, während er sie auf dem Treppenabsatz erwartete.

»Sie haben keine Vermutung?« Ein blanker Vogelblick über den Rand der Schubertbrille, dazu ein großmütterlich verschmitztes Lächeln. Er wusste: Die Schaf hielt große Stücke auf ihn. Sie war nicht dumm und schätzte seinen scharfen Verstand. Und nach einer einsamen Nacht über alten Wächterberichten stand ihr der Sinn vielleicht auch einfach nach ein bisschen Unterhaltung. »Mir«, sagte sie, neuerlich den Kaftan raffend, weil es wieder treppab ging, »ist der junge Mann ja eher bedauernswert vorgekommen. Wie er so durch das Vorzimmer schlich. Herr Oberst.«

»So?«

»Ja, Herr Oberst.«

»Ein armer Tropf, meinen Sie …«

»Eher ein reiner Tor.« Ein schneller, fragender Blick, ob sie zu weit gegangen war. Dann konzentrierte sie sich wieder auf den Abstieg.

»Reinheit ist drüben selten, wertes Fräulein Schaf. Sie ist dort abhandengekommen, nicht wahr?«

»Gewiss. Und doch: Er ist noch fast ein Kind.«

»In unseren Augen, Fräulein Schaf. Nur in unseren Augen«, sagte er, sich großmütig einschließend, obwohl Frauen doch erkennbar schneller alterten als Männer. Für Frauen gab es keine besten Jahre. »Sie machen sich ja keine Vorstellung, wie das drüben ist«, sagte er. »Sogar die Kindheit wird den Kindern dort immer schneller geraubt.« Er hörte sie anteilnehmend seufzen, fast kam er ein wenig in Fahrt. »Und zugleich«, sagte er, »bleiben die Erwachsenen drüben auf ewig Kinder. Das plärrende Wollen, Fräulein Schaf, das bewahren sie sich. Verzicht und Demut und alles andere, was Reife ausmacht, ist ihnen dafür gänzlich unbekannt. Sie lesen doch den Wächterbericht, gewinnen Sie da nicht denselben Eindruck?« Betrieb er jetzt Konversation oder meinte er es ernst? Oder machte er nur seinem Ärger über die allzu zahlreichen Kinder Luft, die in dieser Nacht seinen Weg gekreuzt hatten? Wenn er darüber nachdachte: Moritz Bang war nicht das schlimmste unter ihnen gewesen. »Ja«, sagte er etwas unvermittelt zur leise schnaufenden Schaf. »Vermutlich verdient er Ihr Bedauern.«

»Dann ist er kein Spion, Herr Oberst?«

»Aber Fräulein Schaf!« Er gab seinem Tadel einen spielerischen Anstrich. Andererseits: Sie las den Akt ja doch. Sie musste ihn schließlich pflegen. Er räusperte sich. »Ich kann es mir nicht vorstellen.« Er überblickte jetzt die enorme, fast völlig verwaiste Eingangshalle und das versetzte ihm einen Stich: Drüben machten sie die Nacht zum Tag, das andere Berlin schlief nie, und im Kastell hielt außer dem Pförtner nur eine alte Jungfer die Stellung. Und selbst wenn seine Leute am Morgen erschienen: Zur 13. Stunde streiften sie die Ärmelschoner ja schon wieder ab, um sich in Kirchen oder Vortragssälen aufzurichten . Er brauchte eine Nachtschicht im Kastell. Er brauchte mehr Männer. Und nein, Moritz Bang war nicht das Problem. Die Zwölfwelt war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um Spione zu schicken. Wenn es ein Problem gab, dann hieß es Veil Wallasch.

»Dann steckt ein Fährmann dahinter?«, fragte die Schaf.

Sie hatten die weite Ebene der Eingangshalle erreicht. Kühle, noch nächtliche Luft wehte sie an. In der Ferne leuchtete das Gesicht des tatenlosen Pförtners über dem einsamen Lichtlein am Empfang.

»Wie kommen Sie darauf?« Die Treppe ins Untergeschoss war schlecht beleuchtet. Ganz Kavalier, reichte er ihr seinen Arm.

»Nun, wenn er kein Spion ist … Nach einem Entdecker sah er mir nicht aus.« Lag da leiser Spott in ihrer Stimme? Mochte sie den jungen Mann nun oder nicht? Er hielt sich bedeckt und schwieg bedeutsam.

»Ich hätte gedacht«, fuhr sie fort, als hätte er ihr Antwort gegeben, »es gäbe gar keine Fährmänner mehr.«

»Vielleicht gab es nur keine Bahn, die wir nicht kontrolliert haben«, brummte er.

»Dann gehen Sie von einem Fährmann aus, Herr Oberst?«

Jetzt reichte es aber.

»Hat er denn jemanden erwähnt?«, fragte die Schaf ungerührt weiter.

Im Untergeschoss brannte Licht. Kammholz musste es entzündet haben. Sie schritten durch die schwankenden Schatten. Es roch nach Gruft.

»Doch«, sagte er nach einer Weile. »Ich habe entsprechende Anweisungen hinterlassen.« Eigentlich sprach er jetzt mit sich selbst. »Wir brauchen einen Handelsregistereintrag. Und eine Personenüberprüfung. Wenn ich zurück bin, sollte das erledigt sein.«

Keine neugierigen Nachfragen dazu. Stattdessen nickte sie wie ein Vogel. Am ehesten war sie ein seltsam farbloses Huhn.

»Wissen Sie denn, was Sie auf der anderen Seite erwartet, Herr Oberst?«

Sie hatten den Fundus erreicht. Die Tür stand offen. Kammholz hatte Moritz Bang schon abgeliefert. Er hatte sich beeilt.

»In etwa, Fräulein Schaf.« Er ließ ihren Arm los und machte sich groß. »So in etwa.«

Der Fundus war mit den Jahren erheblich gewachsen. Er nahm mittlerweile zwei große Kellerräume ein, vollgestellt mit Schränken und Regalen. Etabliert worden war er zeitgleich mit dem Wächtersystem, aber Secundus hatte diese bessere Kleiderkammer bald in eine durchdachte Requisite verwandelt. Er hatte sogar einen richtigen Requisiteur vom Stadttheater zwangsversetzen lassen, einen gewissen Hofmann, der mit einer Abstecknadel im Mund zur Welt gekommen zu sein schien, aber diesen Hofmann hatte er bald an die Schwindsucht verloren und durch keinen neuen Theatermann ersetzt. Stattdessen hatte er das Amt einem ehemaligen Wächter übertragen, der ohnehin gern auf dem Hintern saß und seinen Nachfolgern immerhin nicht das Gefühl gab, sie würden drüben den Karl Moor spielen. Zu viel Staffage war gefährlich, gerade für unerfahrene Wächter bedeutete ein auffälliges Äußeres ein nur noch größeres Risiko. Besser, sie blieben graue Mäuse und brachten ein paar genaue Beobachtungen zur Kleiderordnung drüben mit und nicht, wie der arme Hofmann damals angeregt hatte, überkandidelte Modezeitschriften.

Der eitle Kammholz hätte das vermutlich anders gesehen. Er erwartete sie mit übergeschlagenen Beinen in einem Sessel, der gleich neben dem Empfangstisch stand, und erhob sich aufreizend langsam. Die langen Finger stützte er auf den marmorierten Einband des Hauptbuchs, in dessen Spalten sich jetzt die Schaf würde zurechtfinden müssen. Sie würde das schon schaffen.

»Ich hatte an Polizeiuniformen gedacht, Herr Oberst«, sagte Kammholz.

Secundus lachte kurz und trocken. Beinahe war es tragisch, Kammholz fehlte es an Realitätssinn und an Fantasie. Ganz abgesehen davon, dass es im Fundus nicht eine einzige echte Polizeiuniform gab. Wie hätte ein Wächter auch darankommen sollen? Das ganze System war auch ohne geheime Raubzüge ein unkalkulierbares Risiko. Tatsächlich fuhr er nachts manchmal aus dem Schlaf und war plötzlich fest entschlossen, den amtierenden Wächter abzuziehen. Dann saß er senkrecht und schweißnass im Bett, schlaflos meist bis in den frühen Morgen, und malte sich aus, was alles schiefgehen konnte. Unfälle, die den Wächter ins Spital brachten. Zufälle, die die Polizei auf ihn aufmerksam machten. Nachbarn, denen er komisch vorkam. Primus war seinerzeit einmal Zeuge eines Verkehrsunfalls geworden und musste nachher Name und Wohnung wechseln.

Manchmal fand Secundus in solchen Nächten dennoch wieder in den Schlaf, oft aber grübelte er so lange, bis ihm wie ein Traumbild Elise erschien. Elise und ihr letzter, endgültiger Verrat. War sie dazu fähig? Hatte sie die Mittel dazu? Am Ende wurde Dreizehneichen vielleicht wirklich nur vom Unglauben der Zwölfwelt geschützt. Das Kastell, die Policey, seine Abteilung XIII waren nur die Verteidigungslinie dahinter.

Er baute sich vor Kammholz auf. »Oh nein, Leutnant«, sagte er. »Keine Polizeiuniformen, gewiss nicht. Reichen Sie mir doch mal das Licht.«

Immerhin war es eine Argand-Lampe, die ihm Kammholz zerknirscht – oder bockig? – reichte, und Secundus regulierte sie fachmännisch, bevor er in ihrem Schein an einem hohen Schuhregal entlangstrich, darin, in verschiedenen Größen, vor allem diese grässlichen Turnschuhe in kreischenden Farben – durch und durch unmännliches Zeug und überdies Schuhwerk, das die Haltung verdarb. Der Gang bekam notwendig etwas Schleichendes, Schlaffes, wenn man sie trug – und natürlich hatte Moritz Bang solche Schuhe getragen, wenn auch immerhin nicht in einem elektrischen Gelb oder Grün. Angeblich gab es solche Schuhe ja sogar mit Batterien. Secundus’ Ekel vor ihnen war körperlich. Überhaupt waren ihm sogenannte Kunstfasern zuwider. Es kam ihm vor, als tauchten sie ihre Körper drüben tagein, tagaus in ein Säurebad.

Seine Finger glitten über das glatt geschliffene Holz des Regals. Holz wurde seines Wissens drüben mittlerweile auch künstlich hergestellt. Es war eine Welt aus Surrogaten. Natürliche Stoffe hatte man dort ebenso eliminiert wie die natürliche Ordnung. Kein Wunder, dass die Menschen drüben unglücklich waren. Primus war damals regelrecht erschüttert zurückgekehrt. Erschüttert vom Unglück ihrer Entfremdung. Secundus’ Mitgefühl hielt sich in Grenzen.

»Was suchen Sie denn, Herr Oberst?« Die Stimme der Schaf kam aus dem Dunkel, in dem er sie zurückgelassen hatte. Es war nächtlich kalt hier unten. Dazu der beißende Geruch von Mottenkugeln. »Was vermuten Sie denn auf der anderen Seite?« Die Neugier der Schaf war weiterhin unbefriedigt.

»Eine verlassene Herberge.« Kammholz konnte wieder nicht an sich halten. »Weit außerhalb der Stadt. Einsam gelegen. So hat er es im Verhör beschrieben.«

Secundus schwieg. Er zog ein paar schwere schwarze Schuhe aus dem Regal und drückte mit der freien Hand auf ihnen herum. Offenbar hatten sie Stahlkappen. Er überlegte. »Sagen Sie, Fräulein Schaf: Haben wir auch welche von diesen Kattunanzügen?«

Unverständiges Schweigen. Dann, nach einer Weile: »Sie meinen diese Schutzanzüge?«

»Was die Handwerker tragen, genau.«

» Overalls heißen die«, meldete sich Kammholz aus dem Dunkel.

Secundus hasste Englisch.