V  Lady Vintages Raritätenladen

E s war dunkel über seiner Ermittlung geworden. Plötzlich stand die Nacht am Fenster und spähte in den kahlen, nur von Nusselts Gerät erhellten Raum. Secundus hatte die Zeit vergessen. Seine Augen juckten und sein Rücken schmerzte. Er streckte die Arme, rollte die Schultern und rieb sich die fieberwarme Stirn. Die ganze Zeit hatte er hier beinahe reglos gesessen und doch kehrte er erst jetzt nach Wrota zurück. Er war an einem Unort gewesen, ach was, es mussten Hunderte Unorte gewesen sein, die in immer schnellerer Folge immer schwächere Eindrücke hinterließen.

Man hatte ihm angeboten, Japan-Krawatten zu kaufen, ohne dass er je herausgefunden hätte, was Japan-Krawatten waren; hätte ihm die »etruskische Toreutik« erklärt, wäre er nicht gleich wieder abgebogen; man hatte ihm »Porträts mit Katze« oder »900+ Armreif-Ideen« offeriert, während er doch eigentlich nach dem Armreif mit dem Jugendbildnis der späteren Frau Geheimrat suchte. Die Maschine schoss mit Schrot auf jedes Ziel, das er ihr vorgab, und danach irrte Secundus endlos durch den Pulverdampf, hoffnungsfroh, wenn es, wie die Maschine verkündete, nur »ungefähr 8 Ergebnisse« gab, und zwischen Wut und Verzweiflung schwankend waren es, nach nur leicht umformuliertem Befehl, auf einmal neunzigtausend.

Secundus wurde aufgefordert, die Vorhöllen von Redbrain , Wizzled , Smec und Shopping 24 zu besuchen, oder mit babylonischen Begriffsketten konfrontiert: Vintage Elgin Gold Gefüllt Manuell Wind Weißes Zifferblatt , stand da etwa blau auf weiß, und wenn er den kleinen weißen Handschuh, mit dem er der Maschine etwas zeigte, auf eine solche Zeile richtete, wurde der Unfug auch noch unterstrichen.

Die Kunst des maschinellen Findens bestand offenbar darin, das Allermeiste zu übersehen, zumal man für vorschnelle Entscheidungen oft mit Nachsitzen bestraft wurde. Streifen für Streifen, von oben nach unten, entstand dann auf dem Bildschirm ein Bild, von dem man lange, bevor es vollendet war, wusste, dass man keinen Blick daran verschwenden würde. Der Rückweg aber war einstweilen versperrt; es blieb einem nur, der Maschine ihren Willen zu lassen und sich irgendwie zu beherrschen.

Ein paar Mal hatte Secundus entmutigt nach dem geschirrklappernden Nusselt rufen wollen, damit der dem Spuk ein Ende machte, aber dann hatte er ihn nicht mal angesprochen, als Nusselt sich auf Zehenspitzen aus der Küche schlich. Zitternde Hände hatte Secundus selber. Nusselt richtete sich hinter der Tür auf dem Sofa ein. Secundus’ kreisender Zeigefinger formulierte im Telegrammstil der Maschine einen Befehl: durchbrochener Goldring Saphir , schrieb er, um dann in der bellenden Babysprache der Beschleunigungskrise noch hinzufügen: antik kaufen.

Kaufen war gut, das Wort machte Nusselts Gerät Beine, aber Vintage war besser als antik , ohne dass Secundus gewusst hätte, was es besagen sollte. Vielleicht hieß es einfach alt , wahrscheinlicher bedeutete es alt und teuer , nur eben ohne griechisch-römischen Beigeschmack. Er blieb dabei, als er seine Befehlsketten weiter ergänzte: durchbrochener Goldring Saphir Vintage kaufen Versand Berlin . Man türmte die Begriffe einfach aufeinander, ein kleines Babylon für sich.

Manchmal waren die aufgerufenen Summen beinahe schwindelerregend. So viel wusste er schon, bevor seine Suche ihr Ziel fand: Die Schwestern machten ein gutes Geschäft. Er schwankte zwischen Anerkennung und Verachtung. Drüben übersetzte sich alles in Geld, der Gedanke aber, dass Merle Alfart, die Dreizehneichen mit nichts außer ihren Kleidern verlassen hatte, drüben reich geworden sein könnte, war ihm auch darüber hinaus fast schmerzhaft unangenehm. Es war leichter gewesen, sie sich als Engel der Notleidenden vorzustellen, die um der Barmherzigkeit willen das Recht brach, denn als mit allen Wassern gewaschene Hehlerin.

Zum Ziel geführt hatte ihn, als seine Finger schon lange verkrampften, das Collier mit den dreizehn Kameen. Nach und nach, Streifen für Streifen, war es ihm auf schwarzem Grund erschienen, mit einem fett gedruckten Preis, für den man drüben wohl ein Automobil erwerben konnte, und einer Geschichte wie vom Baron Münchhausen: Klassizistisches Collier mit 13 intagli gefasst, darunter 7  antike römische Gemmen. Provinienz: Mailänder Sammlerbesitz.

Tatsächlich hatte Secundus, als er das las, sich zunächst ein weiteres Mal auf falscher Fährte gewähnt, aber dann hatte Nusselts Gerät auf einmal leicht scheppernd Musik gemacht: tedededim, tedededim , spielte es auf einmal Beethovens federleichtes Rondo »Für Elise«, und Secundus’ altes Herz hatte einen Sprung gemacht. Es war dasselbe Gefühl gewesen, das ihm ihr Telephon bescherte. Es war, als käme ihm Merle – tedededim, tedededim  – entgegen, so wie früher, als er jung gewesen war.

Von da an hatte er sich nur noch auf diesen Blättern aus Licht bewegt und atemlos zugesehen, wie ihm – tedededim, tedededim  – ein Kugler’sches Schmuckstück nach dem anderen erschien, versehen mit Fabelpreisen und Beschreibungen, dass ihm der Mund offenstand. Die goldene Fibel mit der Ente, las er, habe sich seit 1850 in bayerischem Familienbesitz befunden, und aus der jungen Frau Geheimrätin mit dem glänzend schwarzen Haar hatte Merle eine elbische Baronin aus dem erloschenen Geschlecht derer von Fink gemacht. Die Krawattennadel mit Swastika trug bereits einen stilisierten Stempel mit dem Schriftzug VERKAUFT , das Klavier klimperte dazu wie mit Münzen, und von Kammholz’ Liste konnte er überhaupt nur die Taschenuhr und die Trauerbrosche nicht finden, die nebenan in der Eingangshalle auf dem Sofatisch lag. Jetzt war Secundus sich sicher: Die Komplizin hatte sie zurückgebracht; vor dem Haar der toten Helene hatte Merles Frechheit haltgemacht.

Es war, wenn er es richtig sah, ihr erster großer Fehler seit Jahren. Ihre Trauer – nicht ihr Zorn – hatte sie ihm offenbart. Ein Herz, davon verstand Secundus seit Neuestem etwas, machte verwundbar. Er hatte Primus, seinen unbelehrbaren Bruder; Merle hatte die tote Sophie; und Julius Alfart, der glaubte, seine flüchtige Frau habe das Andenken ihre Tochter verraten, hatte weder Herz noch Verstand. Fast tat es Secundus leid, Merle nun an sein Messer liefern zu müssen – nicht einmal jetzt, dreißig Jahre später, hatte Alfart sie verdient.

Er zwang sich zu mehr Nüchternheit. Er hatte den Kugler’schen Schmuck gefunden, aber genau genommen wusste er nicht einmal, wo. Das Internet war eine Bibliothek, die man nicht durch eine Tür betrat, sondern indem man auf irgendeiner Seite irgendeines Buches landete, das in irgendwelchen Regalen stand. Voller Angst, dabei vom Weg abzukommen und das eine Buch nicht wiederzufinden, machte er sich also auf die Suche nach Titelblatt und Sigel. Er brauchte einen Namen, der gewiss nicht Merle Alfart lauten würde, und eine Adresse, vermutlich in Berlin, doch als er endlich bis zum Titel vorstieß, war er doch ziemlich überrascht: Er hatte den Schmuck in Lady Vintage’s Raritätenladen gefunden, betrieben von einer Sibylle Diesel in der Markgrafenstraße in 10969 Berlin.

Secundus sprang auf, während das Gerät unverdrossen »Für Elise« spielte und eilte – tedededim, tedededim  – zur Tür. Er brauchte sofort Feder und Tinte, um die Anschrift zu notieren, aber kaum, dass er den nutzlosen Nusselt nebenan aus dem Schlaf geschreckt hatte, griff er zuerst nach dem lange missachteten Buch. Charles Dickens’ Raritätenladen ; Secundus ließ den Daumen durch den Buchblock gleiten. Wie war er nur auf den Gedanken verfallen, Moritz Bang habe das Buch nach Wrota gebracht?