XI  Große Wäsche

K einer dieser Tage wollte vergehen. Die wohlige Ordnung war zum Teufel, das geregelte Nacheinander – die morgendliche Toilette , das Frühstück, der Gang zur befohlenen dreizehnten Stunde – dahin. Nicht mal eingeheizt wurde verlässlich, jedenfalls nicht unten, die Mahlzeiten verliefen unter Seufzen und Schweigen, die Tischgebete waren inbrünstiger und länger als sonst, und oft saßen Momme und Clemens allein am Tisch, weil der alte Eisenmann sich, statt appetitlos im Gemüse zu stochern, lieber in seinem Geschäft vergrub und die Labasch nun allabendlich in die Petrikirche rannte, ganz in Schwarz, mit Handschuhen und Schleier, als wäre die kleine Minna schon tot.

Wenn Doktor Murken erschien – mehrmals täglich und oft noch spät am Abend –, warf er Momme düstere, unausdeutbare Blicke zu, ohne je ein Wort mit ihm zu wechseln. Sogar Clemens blieb die meiste Zeit stumm, nur manchmal packte ihn ein wildes Gemisch aus Hoffnung und Verzweiflung. Dann hockte er auf der Bettkante im Souterrain, rang die Hände – Momme wusste nicht, ob im Gebet – und ließ die Tränen laufen, bis er plötzlich wütend aufsprang, zum Fenster rannte und durch das Gitter auf die Beine von Herrmann oder Kergel starrte, die sich, einmal ausgetrickst, jetzt ungeniert vorm Haus postierten. »Sie kommen, Momme!«, zischte Clemens dann, ballte die Faust und zog die Nase hoch. »Ich bin ganz sicher! Sie kommen!«

Momme hatte ihm lange nicht alles, aber das Wesentliche erzählt – ohne Primus Falke und die Frau des Schusters Schikalla zu erwähnen. Die Schwestern würden Minna holen kommen, daran hielt sich Clemens seitdem fest. Darüber, dass sie, falls sie kämen, auch Momme holen würden, verlor er hingegen niemals ein Wort. Er schien es nicht zu glauben oder einfach nicht wahrhaben zu wollen, aber vielleicht spielte ja auch Clemens das ein oder andere magische Spiel. Vielleicht hatte er dem Schicksal seinen Schicksalsbruder angeboten, im Tausch gegen Minnas Leben. Wochenlang hatte er nichts von der Zwölfwelt wissen wollen, aber jetzt bedrängte er Momme mit Fragen. Was würde mit Minna geschehen, sobald sie auf der anderen Seite wäre? Wie sahen die Spitäler dort aus? Was genau war eigentlich ein Tropf? Momme gab dann Auskunft, so gut er konnte, und kam sich, wenn er in Clemens’ immer heller leuchtende Augen schaute, doch wie ein Märchenerzähler vor, der die drachengleichen Rettungshubschrauber und die weißen Zauberer von der Visite einfach erfand.

Minna fieberte unterdessen immer heftiger, Jenny, Lisbeth und die Labasch fanden nur stundenweise Schlaf. Nachts, wenn Momme wach lag und überlegte, welche Optionen ihm noch blieben, hörte er sie im ersten Stock rumoren. Ja, er hat Primus Falke erpresst, aber eigentlich wusste er gar nicht so richtig, womit. Zu Hinckeldey zu gehen würde Minna nicht gesund machen. Momme war auf Primus Falkes guten Willen angewiesen oder aber auf Primus Falkes Angst. Manchmal klopfte er, um diese Angst wie einen bösen Geist zu beschwören, und wenn er zählte – und er zählte oft –, dann nie in Zehnerschritten.

Hundertachtzehn.

Hundertneunzehn.

Hundertzwanzig.

So alt sollte Minna werden. Momme zählte langsam jedes Jahr.

Nachts warf er sich im Bett herum, und so fiel sein Blick ein paar endlose Tage nach dem Rendezvous an der Unterbaumbrücke auf den Phönix, der es ganz ohne sein Zutun hergeschafft hatte. Jetzt stand er, bloß um ein paar Styroporfedern leichter, auf seinem Nachttisch – fest auf seinen Wegwerfaschenbecher gegründet, das Flaschenbürstenrückgrat intakt. Momme setzte sich auf, dann schlüpfte er im Dunkeln in die Hose und stopfte das Nachthemd in den Bund. Er hatte einen Entschluss gefasst, der nicht mehr warten konnte. Er griff nach dem Phönix und schlich barfuß die eiskalte Treppe hinauf.

Jenny saß vor der Tür zum Krankenzimmer, eine Kerze flackerte neben ihrem Stuhl. Als sie Momme bemerkte, legte sie den Finger an die Lippen. Licht und Schatten huschten über ihr Gesicht.

Momme hob den Phönix wie einen Blumenstrauß, und Jenny verstand ihn sofort. »Ich gebe ihn ihr, wenn sie wach ist«, flüsterte sie, nahm ihm den Phönix ab, und Momme wusste gleich nicht mehr, wohin mit seinen Händen. Er versteckte sie in den Hosentaschen und starrte Jenny an. Sie konnte schweigen und er nicht. Sie hatte alles in Gang gesetzt und ihm seither nicht eine einzige Frage gestellt. Wusste sie auch so über seine Expedition Bescheid oder konnte sie die Ungewissheit bloß besser ertragen? War das Gottvertrauen, wahrer Mut oder war sie ihm noch in etwas anderem über?

Jenny stellte den Phönix auf den Fußboden. Der wippende Plastikschnabel beruhigte sich. Die Klammer glänzte im Widerschein der Kerze. »Danke«, flüsterte Jenny und dann, mit der Spur eines Lächelns und als ginge ihn das irgendetwas an: »Morgen ist große Wäsche.«

Von großer Wäsche hatte sich Momme keine Vorstellung gemacht. Schon im Morgengrauen erschienen die Waschfrauen, angeheuert im Vermietungscomptoire im Petriviertel – Momme wurde vom Klappern ihrer Pantinen aus einem unruhigen Schlaf gerissen. Er hatte von Primus Falke geträumt, aber in seinem Traum war Primus der uniformierte Secundus gewesen und hatte ihn unter der grässlichen Uhr verhört. »Klopfen Sie nur! Klopfen Sie nur!«, hatte er gebrüllt, als die Waschküche auf der anderen Seite des Souterrains zum Leben erwachte. »Wir haben alle Schwestern verhaftet!«

Hin und her ging es plötzlich draußen auf dem Gang, und die Labasch rief vom Treppenabsatz Befehle. Fenster wurden aufgerissen, Zuber schrammten über den Steinfußboden, Ofenklappen quietschten, und die novemberkalte Luft strömte auf einmal durch alle Ritzen bis an Mommes Bett. Und kaum dass er sich die Augen reibend aus der Tür getreten war, stand er auch schon im Weg. Er wich zurück und ließ die Prozession vorüberziehen, eine weiß gewandete Gewichtheberin mit Schulterjoch, an dem zwei Wassereimer baumelten, noch eine mit einem Stapel Brennholz, erst Jenny, den Arm voller Wäsche, ließ ihn passieren.

Sogar das Frühstück wurde quasi im Vorübergehen serviert – der alte Eisenmann war gewarnt und hatte das Haus schon verlassen. Clemens köpfte mit unruhigen Händen ein Ei, während in seinem Rücken die Labasch aufmarschierte und in einem marmorierten Waschbuch ausbesserungswürdige Laken, Tischdecken und Taschentücher notierte; die Armee der Wäscherinnen trug das Zeug gleich körbeweise die Treppen herab. Als die Labasch dann auch noch mit einem handkoffergroßen Nähkasten anrückte, ergriffen Clemens und Momme die Flucht. Sie spazierten durch einen kühlen, lichtgrauen Novembermorgen, bis sie nicht mehr wussten, wohin, und den langen Herrmann verblüfften, indem sie einfach kehrt machten.

Im Haus war mittlerweile Nebel aufgezogen. Im Flur roch es nach Soda und Seife, feuchtwarme Schwaden krochen die Treppe zum Souterrain herauf. Momme und Clemens stiegen durch wabernde Dunstwolken hinab, die Tür zur Waschküche stand offen. Die Wäscherinnen aber waren bloße Schemen, die gewaltige Paddel in gewaltige Bottiche stießen oder schwere Waschstücke an martialischen Waschbrettern rieben. Momme kamen sie wie mythische Wesen vor, Walküren in einem undurchsichtigen Zwischenreich.

Sowohl Mittag- als auch Abendessen wurden improvisiert, im Herrenzimmer sortierte die Labasch Leibwäsche. Der alte Eisenmann sah in Murkens Schlepptau nach Minna und ging dann wortlos zu Bett, sorgenzerfressen und von der Wäsche in seinem mannhaften Leiden gestört. Momme und Clemens spielten unten teilnahmslos Mühle, bis das Wäschekommando mit dem gleichen Klappern abzog, mit dem es angerückt war. Die Wäsche würde über Nacht in Zubern, Kesseln und Bottichen weichen. Der Dampf hatte sich verzogen, aber der Seifengeruch blieb. Draußen hörte Momme den langen Herrmann nach den Waschfrauen pfeifen.

Danach kehrte Ruhe ein, was alles nur noch schlimmer machte. Maulfaul wechselten sie sich am Waschtisch ab und dann im Häuschen im Hof. Momme ging als Zweiter, im Hemd und mit einer kleinen, an ihrem Bügel quietschenden Laterne. Im Stehen erleichterte er sich in das kreisrunde, stinkende Loch, knöpfte und fingerte die Hosenträger zurecht. Dann schob er den Riegel zurück und zog an der Brettertür und hatte eine Erscheinung. Die Kleider waren andere, aber auch diese waren weiß.

Momme ließ die Laterne los.

Die Laterne fiel scheppernd zu Boden.

Das kleine Licht erlosch.

Im Hof war es auf einmal stockfinster, aber sie war hier. Sie stand ihm genau gegenüber.

»Erkennst du mich?«

Er hörte zum ersten Mal ihre Stimme, leise, aber fest. Er stand da wie auf den Bretterboden des Klohäuschens genagelt. »Ja.« Natürlich brachte er das nur mit Mühe heraus. »Du bist die weiße Frau.«

Lachte sie jetzt? Sie konnte das unmöglich begreifen. Was wusste sie von seinen Nöten? Andererseits: Als armen Idioten kannte sie ihn. Er erinnerte sich an ihren mitleidigen Blick, oben, im ochsenblutroten Flur von Wrota. Er hatte, als die Wäscherinnen kamen, nicht einen Augenblick an die Schwestern gedacht. Morgen, hatte Jenny gesagt, ist große Wäsche.

»Ich bin Mathilda«, sagte sie.

»Mathilda«, krächzte Momme. Ein wenig gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Mathilda war ein heller Fleck im finsteren Tal des Hofs, schartige Mauern ringsum, darüber ein sternenloser Himmel, der Mond hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. In keinem der rückwärtigen Fenster des Hauses stand Licht.

»Hörst du mir zu, Moritz Bang?«, fragte sie. »Kannst du dir merken, was ich dir jetzt sage?«

Momme war sich da keineswegs sicher. Langsam hob er die Hand und klopfte sich an die Schläfe. Dreimal links, dann dreimal rechts. Hatte sie das Joch mit den Eimern getragen? Wie viele Wäscherinnen waren im Haus gewesen? Er hatte so wenig nachgezählt wie der lange Herrmann.

»Ich … ich höre zu, ja.«

»Gut«, sagte Mathilda. »Morgen Nacht ist es so weit. Und alles, was ich dir jetzt sage, musst du haargenau so deinem fahrigen Vetter erklären.«