XII   Das Diarium des Clemens vom Stein

Das Diarium des Clemens vom Stein

Den 9. Nov., ein unruhiger Abend

Nun ist die Zeit des Abschieds also gekommen — ich sehe sie nahen, seit mein guter, tapferer Momme aus Doktor Murkens Kutsche gesprungen ist! Heute Nacht werden wir das feste Schicksalsband zerreißen, das Momme und mich zu Brüdern macht — der Gedanke daran erfüllt mich seit nunmehr einer Woche mit einem mal dumpfen, meist aber wie Feuer lodernden Schmerz. Manches Mal in den vergangenen Tagen habe ich Mommes holden Anblick deshalb kaum noch ertragen — und das allein aus dem Grund, dass ich wusste, dass er mir genommen wird! Ja, alles, wahrhaft alles und noch das Schönste im Leben ist Schmerz, wenn man nicht vergessen kann, was man vergessen muss, um, wenn schon nicht glücklich, dann wenigstens nicht unglücklich weiterzuleben: nämlich, dass man es verlieren wird! Nichts bleibt, nichts hält, nichts, das einem nicht schon im Augenblick des Erlebens das kleine, wunde Herz zerreißt!

Am ärgsten ist es eben gewesen, als Momme sich dort am Waschtisch den Bart abgenommen hat, denn für unsere Charade darf er ihn nicht tragen — er wird gehen, wie er kam. Und wie er da so schnitt und dann schäumte und schabte, verschleierten die Tränen mir den Blick, eine Locke von seiner Wange aber habe ich mir doch stibitzen können. Wie eine getrocknete Blume werde ich sie zwischen diese Seiten betten, denn sehen darf dieses Tagebuch von nun an ohnehin kein Mensch mehr. Ab heute schließlich ist es unwiderruflich: Clemens vom Stein, vor wenigen Wochen noch ein aufstrebender, wenngleich vielleicht verzagter Dichter, ist von nun an ein Rebell. Habe ich mir das träumen lassen? Hielt das Schicksal dieses Joch für mich bereit? Oder ist es vielmehr der Preis, den ich entrichte, weil ich die Fügung partout nicht Fügung sein lassen konnte? War das Stärke? Oder war ich, im Gegenteil, schwach?

Wie es auch sein mag: Was immer das Schicksal mir nun auch abfordern wird — zur Strafe, weil ich ihm seinen Willen nicht ließ —, ich werde es ertragen. Ich lasse Momme ziehen und werde, selbst wenn ich unentdeckt bleiben sollte, fortan ein Ausgestoßener sein — keiner, der noch hierhin gehörte oder guten Gewissens die Segnungen seines treuen Patrons in Anspruch nehmen könnte. Geht alles gut, bin ich zurück, bevor der Morgen graut, die Labasch bemerkt, dass Minna verschwunden ist, und Jenny, Lisbeth und ich unser Schauspiel beginnen, an dessen Ende der Verrat allein des guten Momme steht. Nichts habe ich gehört, die ganze Nacht habe ich geschlafen — ich weiß, was ich der Policey zu sagen habe, wenn sie denn morgen in meiner Türe steht. Natürlich, mir graut vor diesem Augenblick, zumal ich es für möglich halte, dass mich der Oberst Falke selbst befragen könnte, in Gedanken aber werde ich mich wappnen und dann bei Momme und bei Minna sein — drüben, wo man nicht bloß gegen menschengemachte Gesetze aufsteht, sondern gegen die ewige Herrschaft von Gevatter Tod.

Und ist es am Ende nicht auch das, was ich getan habe? Habe nicht auch ich mich — für meine Minna — gegen das ewige Gesetz des Sterbens gestellt? Grämt mich deshalb allein der Abschied, während mich sonst so etwas wie ein verwegener Stolz erfüllt? Ist das Hoffart? Schiere Dummheit? Oder ist es meine alte, mich stetig überfallende Abenteuerlust, in der — wer weiß? — vielleicht ja schon immer etwas Rebellisches keimte? Ist es auch jetzt jener unziemliche Drang, der mich einmal mehr auf die dunkle Straße treibt, um Ungewissheit zu atmen wie kühle, frische Luft? Ich habe mich oft treiben lassen, um vom Wohin nichts zu wissen und sogar zu vergessen, woher.

Auf meinem Bett habe ich nach dem Abendessen alles vorgefunden, genauso wie Momme es mir beschrieben hat: eine dickwollene Joppe, eine Arbeitshose, ein derbes Paar Schuh und eine Mütze, die ich mir tief in die Stirn ziehen muss, damit mich keiner der Wachtmeister später wiedererkennt. Und, oh, mich kribbelt’s beim Gedanken, dieses Kostüm anzulegen, um für eine Nacht ein anderer und auch danach nie mehr derselbe zu sein. Und es erfüllt mich mit einem glühenden Stolz, bei diesem Husarenstücke mitzureiten. Ich weiß es nicht und niemand hat mit mir darüber gesprochen, aber mir scheint, die geheimnisvolle Elise selber hat diesen tollkühnen Plan erdacht und, weiß Gott, ich will meine Rolle darin spielen, mehr noch: In diesem Augenblick brenne ich sogar darauf! Eine der in Drachenblut gebadeten Schwestern wird uns ein Zeichen geben. Bis dahin lege ich meine Rüstung an.