XIII  Rettungsversuch für Minna Eisenmann

D ie Hose kratzte, die Schuhe waren zu groß, und seit er in die Jacke geschlüpft war, schwitzte er. Beim Abendessen hatte er kaum etwas heruntergebracht, aber sogar von den wenigen Bissen war ihm jetzt schlecht. Er saß auf dem Bett, knetete die Mütze, die wie alles andere für ihn bereitgelegen hatte, und lauschte auf die Geräusche im Gang. Die Wäscherinnen waren endlich fertig und klapperten die Stiege hinauf, bald hörte er sie draußen auf der Straße, gefolgt von der Labasch, die zur Heiligen Messe aufbrach, ohne Kergels frechen Gruß zu erwidern.

Nur Augenblicke später schlüpfte Mathilda durch die Tür, in einen langen schwarzen Umhang gehüllt, ein schwarzes Häubchen auf dem Kopf – plötzlich mehr ein neues Fräulein Labasch als eine angemietete Wäscherin. Momme sprang auf und zog sich pflichtschuldig die Mütze über. Sie musterte ihn prüfend, nickte und verschwand, um Clemens herzuholen. Momme klopfte wie besessen, bis die beiden wiederkamen. Das kleine Nachtlicht ließen sie für Kergel brennen. Sollte er doch denken, dass Momme noch in der Philosophia perennis las.

Stumm schlichen sie durchs stille Haus bis in den Hof. Es mochte halb acht sein oder wenig später, finster war es schon seit dem späten Nachmittag. Dünnes Mondlicht leuchtete ihnen den Weg am stillen Örtchen vorbei – in diesem hinteren Teil des Hofs war Momme noch nie gewesen. Mathilda hielt auf die rückwärtige Mauer zu, und Momme erkannte das niedrige Tor, von dem er gern vor dem gestrigen Abend erfahren hätte, doch offenbar hatte es nie auf Clemens’ Weg gelegen. Die Mägde hatten ihr eigenes Reich. Unbemerkt von der Herrschaft, führten sie ein geheimes Leben.

Oben in einem der hinteren Fenster brannte Licht. In Minnas Krankenzimmer bewegte sich ein Schatten. Dann verschwand das Licht und tauchte eine Etage tiefer wieder flackernd auf, bevor es nach einer Weile erlosch. Das Haus war jetzt nur ein konturlos schwarzer Klotz. Die Kamine ragten wie abgebrochen in den Himmel.

Momme hörte Clemens neben sich atmen, er hörte leise, schnelle Schritte im Hof. Jenny hatte sich ein dunkles Plaid übergeworfen, sie trug die warm eingepackte Minna auf dem Arm, der bemützte Kopf des Kindes lag an ihrer Schulter. Die Kleine schlief nicht, aber sie war auch nicht richtig wach. In ihrem Arm hielt sie den Phönix, weshalb Momme für einen Moment das Wasser in den Augen stand. Jenny entwand ihr den Vogel sanft, reichte ihn Momme, und weil Minna sich plötzlich regte, murmelte sie: »Schsch … du kriegst ihn ja gleich wieder.«

»Ich trage sie.« Clemens nahm die leise stöhnende Minna auf den Arm und legte sie sich flüsternd an der Brust zurecht. Jenny schloss das Tor auf und reichte Momme den Schlüssel: Er hatte ihn gestohlen, das war die Geschichte. Die Mägde würden es in einer Stunde bemerken, weil Minna plötzlich verschwunden war und Momme fehlte.

Mathilda drängte mit einer knappen Geste zum Aufbruch. Jenny strich Minna zum Abschied flüchtig über den Arm, und dann tauchten sie auch schon durch das niedrige Tor, Mathilda zuerst, Momme als Letzter, ungelenk hob er noch einmal die Hand, aber Jenny war schon mit der Dunkelheit verschmolzen, und für einen Moment hielt es Momme für möglich, dass es sie nie gegeben hatte. Statt mit der einmal erhobenen Hand zu winken, begann er zu klopfen – den ganzen Weg durch den angrenzenden Hof bis zur Straße, wo Doktor Murkens Kutsche am Rinnstein stand. Es mochten zehn Minuten vergangen sein, seit sie aufgebrochen waren. Wer hatte das alles eingefädelt?

Doktor Murken, das Gesicht zur Hälfte von einem Schal bedeckt, öffnete ihnen den Schlag. In der Kutsche saß eine fremde Frau, mit der Momme nicht gerechnet hatte. Als sie ihn hineinwinkte, sah er ein Brillenglas blitzen. Misstrauisch rutschte er neben sie auf die eiskalte Bank. Viel Platz war da nicht mehr, außerdem wurde der Fußraum fast ganz von der Weidentruhe ausgefüllt. Mit einigen Verrenkungen brachte er seine Beine unter. Anders als die Frau gehörte die Truhe zum Plan, den Momme kannte.

Er hielt sich an den Phönix in seinem Schoß und mied den Blick seiner Nachbarin. Sie roch nach Lavendel und vielleicht hatte er sie doch schon einmal gesehen. War sie im Saal gewesen, als er zu Clemens auf die Bühne gestolpert war? Hatte sie in dem kleinen Pulk gestanden, als man ihn abgeführt hatte? Irgendwie gehörte sie in diese wirre, betrunkene, halb verdrängte, albtraumhafte Nacht. Er spürte, dass sie ihn musterte, und er hätte gerne geklopft.

Die Kutsche senkte sich, als Clemens einstieg, sich wieder hinausbeugte und die reglose Minna aus Doktor Murkens Armen löste. Mathilda folgte als Letzte, Doktor Murken schloss die Tür. Es dauerte einen Moment, bis die Kutsche anruckte. Es knirschte und knarzte, dann hallte der Hufschlag. Momme wischte seine nassen Hände notdürftig am Phönix ab. Clemens wiegte Minna und flüsterte in ihr Ohr.

»Hier.« Die fremde Frau reichte Mathilda ein gefaltetes Blatt, dann wandte sie sich Momme zu. »Wiederholen Sie«, sagte sie, während die Kutsche schneller wurde. »Nennen Sie mir jeden Schritt, sobald Sie drüben sind!«

Momme schluckte. Die fremde Frau verwirrte ihn. Er suchte Mathildas Blick, aber Mathilda nickte, und Clemens, die Hand schützend um Minnas Hinterkopf gelegt, nickte gleich mit.

»Ich …« Momme wusste nicht, wo anfangen. »Wir …« Mühsam berappelte er sich. »Wir warten oben«, sagte er dann. »Im Flur, bis sie kommt. Das … Haus ist leer, aber wir machen kein Licht.«

»Weiter.«

»Ich nehme Minna und laufe hinaus. Ich muss mich beeilen. Und links herum, an der Garage vorbei, nicht rechts. Links herum. Zurück kommen sie vom Parkplatz.«

»Halt«, sagte die Frau. »Nichts vergessen?«

»Doch … doch, natürlich. Die Papiere.« Momme würgte den Phönix in seinem Schoß. »Als Erstes gibt sie mir die Papiere, wenn sie oben ist, und ich stecke sie ein: Krankenkarte, Ausweis, Geld. Das Foto ist nicht besonders, wenn jemand fragt, später, sage ich, es ist alt. Ich laufe erst los, wenn ich die Papiere habe. Ich hatte das nicht vergessen«, schob er halb entschuldigend, halb ärgerlich hinterher.

»Dann ist es gut.« Die Frau schob sich die kleine Brille zurecht. Jetzt bezog sie auch Clemens in ihre Prüfung mit ein. »Im Saal sagen Sie beide kein Wort, verstanden? Sie verlassen sich ganz auf Mathilda. Hast du den Beutel gefunden, Mathilda?«

Mathilda hob einen Stoffbeutel hoch, der neben der Truhe im Fußraum gelegen haben musste. Der Beutel war offenbar schwer, es klirrte Glas darin.

Die Kutsche war unterdessen langsamer geworden, sie kurvten jetzt durch enge, dunkle Gassen. Sie waren schon in Unterbaum. Minna stöhnte im Schlaf, Clemens drückte sie ein wenig fester an sich, die Kutsche kam endlich zum Stehen, und Doktor Murken half Mathilda die Weidentruhe auf die Straße zu wuchten. Clemens schlüpfte hinaus, Momme wollte ihm folgen, aber die fremde Frau hatte eine Hand auf sein Bein gelegt und ließ ihn nicht gehen.

»Verderben Sie es nicht«, sagte sie. »Wenn alles gutgeht, hat das Kind nicht mehr als sein Leben und Sie.«

So weit hatte Momme in den letzten Tagen nur selten gedacht. Wenn sie es nach Wrota schafften, wenn er es mit Minna bis in ein Krankenhaus schaffte, wenn Minna es schaffte, würde er für sie verantwortlich sein. Er, Momme Bang, der vor lauter Angst nicht mal sein eigenes Leben auf die Reihe bekam.

»Finden Sie den Briefkasten?«, fragte die Frau. »Schaffen Sie das?«

Mathilda hatte ihm das verwilderte Grab beschrieben. Eine rostige Laterne im Gestrüpp. Sie hatte auch das Mausoleum an der Ostseite beschrieben. Ein Irrer wie er würde es erkennen – Mathilda hatte es höflicher ausgedrückt. »Der Alte St. Matthäus-Kirchhof.« Momme nickte. Er war plötzlich heiser. »Den finde ich.« Er hielt inne. »Sind Sie …«

»Ja. Wenn alles gutgeht, werden wir uns dort wiedersehen. Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann. Vom Friedhof haben Sie ihm nicht erzählt, oder?« Mit dem Kinn deutete sie auf die Gasse hinaus, wo Doktor Murken und Clemens Minna in die Truhe betteten.

»Ich habe ihm nur gesagt, was ich ihm sagen sollte.« Momme machte eine Pause. »Passen Sie auch auf ihn auf?«, fragte er dann.

»Keine Sorge. Wir werden nicht den Fehler machen und ihn aus den Augen lassen. Aber ich glaube, er ist ein beherzter junger Mann.« Sie ließ sein Bein los. »Und jetzt geben Sie ihm diesen komischen Vogel. Er soll ihn in die Truhe legen. Na los!« Sie stupste ihn an, er rutschte über die Bank zum Schlag, er hatte sie im Kastell gesehen, auf dem Weg ins Büro von Oberst Falke. Als er Clemens den Phönix reichte, fiel es ihm ein.

Angeblich war es nicht weit bis zum Saal, aber Momme erkannte überhaupt nichts wieder. Diese dünne, sich windende Gasse, diese sich darüber beugenden, rachitischen Häuser, das alles konnte überall in Unterbaum sein. Sie folgten Mathilda, die kippelnde Truhe zwischen sich, manchmal redete Clemens auf die unsichtbare Minna ein. »Ganz still, Minna, ganz still, es dauert nicht lange.«

Abrupt endete ihr Weg vor einer unscheinbaren Tür. Mathilda klopfte, als würde sie sie einschlagen wollen. Sie würde noch die ganze Gasse wecken, aber offenbar störte sie das nicht, dabei stand in einigen der kleinen Fenster gegenüber Licht. Doch niemand trat auf die Straße, niemand sperrte ein Fenster auf und die belagerte Tür blieb auch geschlossen. Mommes Arm wurde immer länger. Die Truhe war erstaunlich schwer.

Mathilda klopfte noch einmal. Drei, vier drängende Hiebe. Dann schlurfte drinnen jemand heran.

»Der Saal ist geschlossen.« Die Stimme schlurfte nicht. »Gehen Sie weiter!«

Mathilda dachte gar nicht daran. »Wachtmeister Leberecht Kamp? Ihre Abteilung schickt uns. Ein Botengang für Oberst Falke.«

Zunächst geschah nichts, dann hörte Momme einen Riegel, danach klackte zweimal ein Schloss. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit, ein käsiges Gesicht erschien, darüber ein Helm, von dem der Kinnriemen lose herabbaumelte. »Der Leutnant ist nicht dabei?« Der Blick des Polizisten wanderte von Mathilda zu Clemens, von Clemens zu Momme und blieb dann an der Truhe hängen. Momme atmete erst aus, als sich der Wachtmeister wieder an Mathilda wandte. »Habt ihr einen Passierschein?«

Beinahe gelangweilt streckte ihm Mathilda den Zettel hin, den sie eben erst in der Kutsche bekommen hatte. Momme hegte nicht den geringsten Zweifel, dass er wirklich aus dem Büro von Oberst Falke kam.

»Augenblick. Ich brauche Licht.« Der Wachtmeister schloss die Tür, der Schlüssel klackte wieder, Mathilda hatte seinen Namen gekannt – wenn es nötig war, kannten die Schwestern offenbar sogar die Dienstpläne.

»He!« Mathilda klopfte wieder an die Tür. »Hören Sie, Wachtmeister. Der Oberst wartet.«

Die Tür ging wieder auf. Der Wachtmeister ließ sie in den engen Vorraum ein und drückte sich rücklings an die Wand, um für die Truhe Platz zu machen. Sie mussten jetzt hintereinandergehen, Clemens war vorne und senkte den Blick. Momme starrte auf die Truhe. Für den Fall, dass sich Minna regte, hustete er.

»Was ist denn da drin?« Der Wachtmeister beäugte die Truhe.

Mathilda, ein paar Schritte voraus, lachte in aller Eile auf. »Das wüsstet ihr gerne, was?« Sie ließ Clemens und Momme vorbei, die beiden betraten den Saal, ein zweiter Polizist empfing sie mit einer Laterne. Der größte Teil des Saals lag im Dunkeln. Momme und Clemens schoben sich durch den Mittelgang und traten vor der Bühne schüchtern zur Seite. Mathilda lief schnurstracks auf den zweiten Polizisten zu.

»Hier, für euch.« Sie hob den Beutel aus der Kutsche an, dann zog sie eine schimmernde Flasche und zwei Gläser heraus und stellte sie auf die Bühne. Vermutlich war in der Flasche Wein. »Mit Gruß vom Oberst. Er wollte sich nicht lumpen lassen, wenn er …«, sie zeigte auf die Truhe, »… es sich selber mal schmecken lässt.«

»Verbindlichsten Dank!« Der zweite Polizist bellte und stand stramm. Wachtmeister Kamp zog schnuppernd die Nase kraus. Momme war heilfroh, so weit von ihm weg zu stehen. »Was lässt der Oberst denn auftischen drüben?«

»Lecker Essen«, antwortete Mathilda leichthin, raffte Umhang und Kleid und stieg auf die Bühne. »Ich mache es drüben noch warm. In längstens einer halben Stunde sind wir zurück.« Sie winkte Clemens und Momme heran. »Keine Sorge, die Herren, wir kennen uns aus. Treiben Sie es nicht zu bunt, verstanden?« Sie wies auf die Flasche, lachte hell auf und stiefelte dann, ohne sich noch einmal umzusehen, über die Bühne, in diesen engen, grässlichen Raum, den Momme leider nicht vergessen hatte. Dort hatte er mit Clemens gerungen. Jetzt ging ihm Clemens zum letzten Mal voran.

»Augenblick, Fräulein!« Plötzlich tauchte Wachtmeister Kamp wieder in Mommes Rücken auf, er legte ihm sogar eine Hand auf die Schulter, mit der anderen hob er die Laterne hoch. Grell fiel das Licht in Mommes Gesicht, er wandte sich ab, so gut er konnte. »Einer muss euch doch leuchten«, rief Kamp und strahlte Mathilda an.

Der Raum hinter der Bühne war leer, die beiden Sessel fehlten, der Vorhang war zur Seite gezogen, und da war die Tür. Der Wachtmeister öffnete sie, als wollte er sie einfach ins nächstbeste Zimmer geleiten. Das Licht seiner Laterne schwappte auf den ochsenblutroten Flur.

»Halbe Stunde, ja?«, sagte er.

Clemens schob sich an ihm vorbei. Dann kam die Truhe, dann Momme. Es war der alte Wrota-Geruch, staubig und gottverlassen.

»Halbe Stunde höchstens«, hörte Momme Mathilda sagen.

Jetzt war auch die weiße Frau zurück in Wrota, und gleich wurde es dunkel, denn Wachtmeister Kamp schloss die dreizehnte Tür.