VI   Das Diarium des Clemens vom Stein

Das Diarium des Clemens vom Stein

Unfallkrankenhaus Marzahn,

bei elektrischem Licht am 10. November

So also neigt sich mein längster Tag auf diesem wunderlichen Erdenrund. Ich möchte glauben, auf diesem durchs All schleudernden Ball hätte ich die ungläubige Sonne, solange er währte, öfter umrundet als an all meinen Tagen zuvor.

Hat sich da, kaum habe ich Dreizehneichen für die leuchtende Zwölfwelt verlassen, schon die erste szientistische Metapher in meine Prosa geschlichen? Wenn ja, dann zu Lob und Preis und gar nichts anderem, denn es ist ja der Szientismus, der meiner Minna in diesem Augenblick das Leben rettet, und vor allem anderen — namentlich meiner Angst vor dem Unbekannten und meinem kindergleichen Staunen — empfinde ich eine gewaltige Erleichterung. Wahrlich, ich möchte es in den kleinen, dunkelnden Park hinter meinem Fenster brüllen — und hoffen, dass es noch die zurückgelassenen Freunde in Dreizehneichen hören: Minna, unsere Minna, wird gesund!

Mein weiß gewandeter Gabriel, ein Erzengel aus eigenem Recht, hat es mir geschworen, als er mich lächelnd aus Minnas Zimmer schob, und ich hätte ihn küssen mögen dafür! In der Tat möchte ich ihn immer noch küssen, aber das ist ein Kapitel für sich. Mag sein, dass mir der sündige Strom das Herz verwirrt, immerhin schreibe ich das hier im Schein elektrischen Lichts. Und die Laterne dort draußen, die nun mein Versteck hier drinnen beleuchtet, könnte bei Gott eine zweite Sonne sein. Einerlei, ich habe mein herübergerettetes Diarium ganz ohne Argwohn in ihren Kegel gerückt.

Größer ist mein Befremden über den neuen Federkiel. Ich habe ihn drüben vom zufällig unbemannten Empfang stibitzt und schätze mich glücklich, ihn überhaupt als Schreibgerät erkannt zu haben. Zwar liegt er durchaus leicht in der Hand, jedoch verdirbt er mein Schriftbild, indem er statt Tinte eine zähe, klebrige Masse auf dem Papier verteilt. Ob, was davon in seiner Röhre steckt, für meine lange Erzählung reicht?

Wohlan, jetzt braucht es eine Reihenfolge! Ich muss den Faden finden, auch wenn’s die Umstände erschweren. Soeben etwa hat sich wieder eines dieser erhabenen Fluggeräte wie eine riesenhafte, eiserne Libelle auf das schier unglaubliche Gebäude vis-a-vis gesenkt, und abermals habe ich mich in den Eindrücken verloren — den wirbelnden Flügeln auf seinem Rücken und dem dramatisch anschwellenden Gebrumm und in den bunt blinkenden Lichtern, die sich im Haupthaus spiegeln, das sagenhafterweise auf einem gläsernen Sockel ruht. Ich bin auch schon darin gewesen und habe mich in seinem luftigen Rund verpflegt und nachher habe ich mich im Park nach den Fluggeräten erkundigt, die für diesen Flecken Zwölfwelt offenbar bezeichnend sind.

Sie meinen den Hubschrauber?, hat mich der Angesprochene gefragt, und so ist mein Wortschatz also um einen trefflichen Begriff reicher, denn tatsächlich hebt und senkt sich diese eiserne Libelle ja, indem sie ihre langen Flügel dreht. Wie banal mir dagegen jetzt das Automobil vorkommt, mit dem wir in der Steinzeit dieses Tages an diesem Orte angelangt sind — dabei erschien es mir in jener grauen Vorzeit, als ich drinsaß, gleichfalls wie ein Wunder. Glaubte ich nicht einmal, die Maschinen hätten keine Poesie? Kann ich zu meiner Rechtfertigung vorbringen, dass ich nicht von Hubschraubern wusste? Dass mich Stackebrandts rüttelndes, schüttelndes Automobil noch nicht — und ganz buchstäblich — im Innersten erschüttert hatte?

Doch jetzt der Faden — und nicht länger die Krumen, die ein launisches Gedächtnis im Wald der Erinnerung verstreut! Ich bin wieder in jenem dunklen Zimmer, in das mich die Elise — ich glaube : die Elise — kurzerhand gestoßen hat. Oh, ich erinnere mich ungern an die Furcht, die ich darin empfand, aber ich barg die besinnungslose Minna in meinen Armen und hielt nicht nur aus lauter Verblüffung, sondern auch ihretwegen still.

Hinter der eilig zugezogenen Tür schien derweil ein Weltenkampf entfacht. Man brüllte — ich glaube: es brüllte Oberst Falke —, und es brauchte eine Ewigkeit, bis all die gefährlich polternden Schritte verklangen. Erst danach habe ich mich, die kleine Minna tragend, aus meinem improvisierten Versteck gewagt, stets jene Anweisungen memorierend, die statt meiner doch eigentlich der gute Momme empfangen hatte. Doch ich dachte gar nicht viel an ihn, ich dachte nun allein an meine Queste — sie leitete mich zwei Treppen tief durch das dunkle, gespenstische Haus und dann hinaus in den Mondschein, wo ich mich am Ufer eines rabenschwarzen Gewässers wiederfand.

Links herum, an der Garage vorbei , so hatte es Momme bei unsrer abenteuerlichen Kutschfahrt zur Probe einmal aufgesagt, und so beschloss ich es zu halten, und also wandte ich mich nach links. Eilends trug ich Minna in den Wald, der an das Gewässer grenzte. Ich strauchelte und stolperte in der Dunkelheit oft, doch stürzte ich nie — ich glaube, weil Minna ihre kleine, fiebrige Hand die ganze Zeit schützend über mich hielt. Einmal nur verloren wir Mommes Phönix, den Minna in den Armen trug wie ich sie in den meinen, aber weiterhastend las ich ihn gleich wieder auf.

Doch Flucht war das eine — ich hatte bald das Gefühl, sie gelinge —, Hilfe zu finden etwas ganz anderes. Immerhin: Ich wähnte mich in Feindesland. Ich mochte mit Dreizehneichen abgeschlossen haben, aber ich war — ich bin! — doch in der Zwölfwelt fremd. Wohin sollte ich mich wenden — zumal da doch außer dem Spukhaus in meinem Rücken gar nichts war?

Ich lief um das dunkle Gewässer, schon weil es am Ufer leichter vorwärtsging, und dann — zu meinem Glück, aber zugleich zu meinem großen Schrecken — sah ich mein erstes elektrisches Licht! Ich hatte mich, Minna im Arm, einen Hang hinaufgekämpft, und es leuchtete mir aus einem Gehöft entgegen, das sich in die dunklen Felder duckte. Für einen Augenblick schien es mir unerreichbar zu sein — unerreichbar, weil ich mich nicht überwinden konnte —, aber dann rannte ich doch auf diesen Hoffnungsschimmer zu.

Hilfe!, schrie ich, Hilfe! — und kurz darauf erschien auch Meister Stackebrandt in der Tür, natürlich kannte ich da noch nicht seinen Namen, den ich auf immer in Ehren halten will.

Wer sind Sie denn?, fragte er im elektrischen Lichterkranz auf seiner Schwelle, und als ich darauf zunächst nichts Besseres wusste, denn mit aufgerissenen Augen zurück zum Haus zu sehen, das ich geflohen hatte, sagte er: Ach so, zeigte seltsamerweise auf den Phönix und fragte: Haben Sie jetzt die Stelle? Sehen Sie auch Gespenster? Ich weiß es noch Wort für Wort, obwohl es sich mir bis jetzt so gar nicht erschließen will.

Und natürlich weiß ich auch noch, wie ich: Fleckfieber! schrie und nach einem Doktor verlangte und mir überdies nicht mehr zu helfen wusste. Sie ist krank, sie ist krank — ich glaube, mehr habe ich für einige Äonen nicht gesagt, nicht als Meister Stackebrandt die Stirn plötzlich in dicke Sorgenfalten legte, und auch nicht, als er entschwand, um sein Automobil für unsere Ausfahrt zu rüsten. Ich habe auf unserer Reise hierher noch viele andere Automobile gesehen — gar nicht zu reden von den Hubschraubern  — und kann deshalb sagen: das Stackebrandt’sche ist eher ein bescheidenes, altes, übrigens auch übelriechendes Exemplar. Doch als er es aus seiner Scheune zauberte und Minna und mich auf der rückwärtigen Bank verstaute, erschien es mir wie der Sonnenwagen des Helios. Über dunkle Straßen, glatt wie der Wind, brausten wir wie dessen vier Feuerrösser leuchtend zu Minnas Rettung — auch wenn ich natürlich gar nicht wusste, wohin. Doch ich verließ mich auf Meister Stackebrandt, dem an seinem Steuerrad ein ätherisches Licht im Gesichte stand.

Ach, Lichter — was habe ich auf dem Weg für Lichter gesehen! Bald war es, als würden wir in Stackebrandts Sonnenwagen über die Milchstraße sausen, wenngleich vielleicht eine, auf der obendrein Jahrmarkt war. Von gebirgsgleichen Häusern sprangen mich grell leuchtende Botschaften an, und weil Minna sich jetzt rührte, begann ich ihr wie damals auf dem Sternenfest von all den Lichtern zu erzählen. Diesmal aber versicherte ich ihr, dass der Himmel heute geschlossen habe und wir — sie und ich und Meister Stackebrandt — bald an ein weltliches Tor klopfen würden, hinter dem man sie in Windeseile gesund machen würde. Und Stackebrandt, der wackere Stackebrandt, stimmte in meine Erzählung ein, während er an seinem Steuerrad drehte und immer noch schneller und schneller fuhr.

Hand aufs Herz: Ich wäre ohne ihn verloren gewesen, bei allem, was dann kam. Stackebrandt hat mir jede Tür aufgestoßen, er hat eine jede Verhandlung geführt und Gott sei Dank wusste er auch mit den Kärtchen umzugehen, die die Schwestern — ich weiß nicht wie — zum Zwecke von Minnas zwölfweltlicher Rettung beschafft hatten. In einer Art gläsernem Kubus wartete er mit mir auf seltsamen Bänken, während über unseren Köpfen in einer Art Fenster ein elektrisches Theater spielte, und als der Morgen graute und mir erstmals mein Erzengel Gabriel erschien, sprach er ihn fachmännisch mit Dr. Ergun an und übersetzte mir, der ich nicht nur von Gabriel geblendet war, die frohe Botschaft: Minna, unsere Minna, wird gesund!

Stackebrandt bot mir nachher sogar an, mich zurück zu seinem Gehöft zu kutschieren und mir dorten Logis zu gewähren, aber niemals hätte ich Minna allein gelassen — und wie froh bin ich jetzt, dass ich am Nachmittag an ihrem Bett sitzen konnte, während sie den Schlaf der Genesung schlief, Mommes Phönix über sie wachte und ich, stumm vor Ehrfurcht, zusehen durfte. Habe ich je auf Fortschritt und Wissenschaft geschimpft? Habe ich je die Abschaffung der Krankheit die wahre Krankheit genannt? Es war in einem anderen Leben, in dem es keine Minna und auf ihrem Nachttisch keinen Phönix gab.

Ich habe mich gerade auf den Flur gestohlen, was kein ganz einfaches Unterfangen ist, aber jetzt bin ich glücklich und vor allem unbemerkt zurück — um einen Apfel und ein Glas Wasser reicher. Und so nehme ich meinen sonderbaren Federkiel aufs Neue in die Hand. Denn bevor mein längster Tag zu Ende geht, will ich noch festhalten, wo ich hier gelandet bin — ich gebe zu, nach langem Suchen. Zugleich aber erfüllt mich diese Lösung mit einem gewissen Stolz. Ich bin als Narr in die Zwölfwelt gereist, keine Frage, aber zu helfen habe ich mir als Kind Dreizehneichens gewusst. Ich konnte ja weder auf den Bänken im Kubus noch an der Verpflegungsstelle noch im bitterkalten Park da draußen bleiben, wusste aber, nachdem Stackebrandt die Heimreise angetreten hatte, auch nicht, wohin, zumal mich meine Kräfte langsam verließen.

Ist es die Fügung gewesen, die mich ein Nebengebäude unweit des Kubus betreten ließ, oder hat es mich angezogen, weil es ein tra-ditionelles, in gelben Backstein gekleidetes Gebäude ist, wie es sie auch in meiner zurückgelassenen Heimat gibt? Neurologie, stand an der gläsernen, ganz und gar nicht traditionellen Tür, aber was hier an den Türen steht, sagt mir im Allgemeinen nichts, und so trat ich einfach dennoch ein und schlafwandelte eine Weile über den feuerroten Boden eines langen Gangs. Ich war entsetzlich müde, einerseits, aber andererseits war ich gehobener Stimmung, vor allem Minnas verbesserten Zustandes wegen, aber nicht nur. Es war auch die Neugier, die in mir brannte — so rot wie der Flur, auf dem die Schritte lustig quietschten.

Geschäftige Krankenschwestern, Männer wie Frauen, flitzten vorbei, ein Bett, darin eine holde Greisin, segelte über den Gang, man schob auch einen großen, grauen Turm an mir vorüber, in dessen blindweißer Fensterscheibe unausdeutbare Schriftzeichen aufschienen. Niemand schenkte mir Aufmerksamkeit, ganz offensichtlich hielt man mich für einen Besucher, ohne zu ahnen, was für ein sonderbarer Besucher ich bin — einer, der nunmehr begann, sich für die kleinen Schilder zu interessieren, die links von jeder Tür etwa auf Kopfhöhe angebracht sind. Wie gesagt, die meisten Wegweiser hier haben mir bisher keine Wege gewiesen — die großen, einsamen Ps draußen etwa hatte ich nicht entschlüsseln können und auch das rätselhafte Stroke Unit verriet mir weniger als nichts. Die Schilder an den Türen jedoch sangen mir eine altvertraute Melodey, und bald fand ich mich ihre Tonleiter abschreitend wieder.

Ich schritt von der 1 hinüber zur 2 und immer so weiter und spürte es schon, das Zauberkunststück der Zahl, das zwischen der biederen 12 und der einfallslosen 14 das weiße Kaninchen der 13 verbirgt. Ist es nicht kurios, dass sie der Zwölfwelt als Unglückszahl gilt? Und ist es dann zugleich nicht folgerichtig, dass ein dreizehntes Krankenzimmer in einem hiesigen Spitale fehlt? Wer wollte jemanden dort einquartieren, der ängstlich auf Genesung hofft? Wer, der die 13 fürchtet, wollte ausgerechnet in einem dreizehnten Zimmer mit dem Unglück seiner Erkrankung ringen?

Nun wohl, es gibt hier ein dreizehntes Zimmer und es gibt es zugleich auch nicht. Ich, der ich bin, wer ich bin, sah es auf meinem Weg die Zahlenreihe entlang — von mir abgesehen jedoch quietschte ein jeder eilig vorüber; ich nahm mir die Zeit, darin ganz sicherzugehen. In einem unbeobachteten Augenblick schließlich trat ich durch die dreizehnte Tür und so und nicht anders erreichte ich diese meine Insel, auf die vom Festland des Parks jene Laterne scheint, in deren elektrischem Licht ich diese Zeilen schreibe. Gleich morgen, sobald die wahre Sonne scheint, werde ich wieder nach meiner Minna sehen und, denke ich, dem Erzengel Gabriel von meinem hübschen Unterschlupf erzählen.