VIII  Am Kartentisch

L eutnant Kammholz’ Kassiber erreichte sie am nächsten Abend, lange nach Einbruch der Dunkelheit. Merle hatte mit wachsender Nervosität darauf gewartet. Wie es um Secundus’ Nerven stand, wusste sie nicht; er sprach nicht mehr als unbedingt nötig, und wenn sie gemeinsam beratschlagten, war auch nicht immer eindeutig, mit wem er eigentlich sprach. Falls er Lottes Anwesenheit als Demütigung empfand, ließ er es nicht merken; vielleicht aber fühlte er ohnehin ganz anders. Er hatte seinen Bruder, seinen Rang, seine Abteilung verloren, das »Fräulein Schaf« aber war ihm geblieben, und fast sah es so aus, als hielte er sich an ihr fest.

Als er sich im Morgengrauen von ihr verabschiedete, glaubte Merle das Echo all ihrer beiläufigen Abschiede im Kastell zu hören: flüchtige Grüße in Hut und Mantel und die stete Gewissheit eines nächsten Tags. War das die Ewigkeit gewesen, an der sich Secundus aufgerichtet hatte? Eine 13. Stunde der Gewohn-heit?

Bald darauf war er verschwunden, um sich den Bart abzunehmen, und als er mit geröteten Wangen und faltigem Hals wiederaufgetaucht war, hatte ihm Merle allzu neugierige Blicke und jeden Kommentar erspart. Es würde nicht ganz leicht werden, eine Frau aus ihm zu machen, hatte sie gedacht, aber viel leichter, als es ihm sein Bedürfnis nach Gewissheiten zu glauben erlaubte. Wie oft hatte er sich schon verwandelt und es nicht wahrhaben wollen? Vor ein paar Stunden erst hatte er buchstäblich sein ganzes Leben hinter sich gelassen, und doch würde er auch jetzt noch behaupten, immer derselbe zu sein.

Als Leutnant Kammholz’ Kassiber eingetroffen war, trug Secundus Kleid, Kittel und Kopftuch aus Doktor Murkens Beständen und statt eines Säbels einen Besen. Oberst Jochum sei soeben abkommandiert worden, im Rat vorzusprechen, schrieb Kammholz; mitsamt seiner Entourage habe er das Kastell verlassen.

Das neue Dreizehneichen formierte sich. Womöglich war Julius seines Postens schon enthoben. Vielleicht kämpfte er auch noch. Merle stellte sich den tabakrauchgeschwängerten Ratssaal vor und einen Stellungskrieg am Tisch.

Kaum eine halbe Stunde später sperrte Lotte ihnen mit Feldwebel-Miene die Hintertür auf und führte sie durch die verwaisten, unbeleuchteten Gänge des Kastells. Merle, Mathilda und ein wie ein altes Mütterchen gebeugter Secundus schleppten Eimer, Feudel und Besen hinter ihr her: drei Frauen, die sich sichtlich unwohl fühlten im Reich der hohen Herren.

So öffnete sich ihnen am Ende des Wegs die gewaltige Halle, in der das Zwielicht wie Nebel stand: gegenüber das Bollwerk des Haupteingangs, rechts das mächtige Treppenhaus und zur Linken der schwach beleuchtete Empfang, an dem schon der Nachtdienst saß. Merle trug die Glock in der Kittelschürze.

Lotte stellte sie am Treppenaufgang wie ein paar Gerätschaften ab und ging festen Schritts zum Wachtmeister hinüber. Sie sprach zu leise, als dass Merle sie hätte verstehen können, aber sie kannte Lottes Text: Oberst Jochum habe die Reinemachfrauen bestellt, die Abteilung XIII gründlich zu säubern – droben im ersten Stock brächen jetzt andere Zeiten an. Wahrscheinlich trug Lotte das mit jenem ironischen Fatalismus vor, über den sich niedere Chargen gewöhnlich näherkamen; jedenfalls wurden sie nicht an ihrem Aufstieg gehindert und schleppten ihre Geräte gleich darauf bergauf. Secundus, erst gestern als Oberst entlassen, kam schon heute für den eigenen Kehraus zurück. Merle hätte gern seine Miene gedeutet, aber bestenfalls sah sie ihm die Anstrengung an, in seiner neuen Rolle nicht aufzufallen.

Hatte sie ihm zu viel zugetraut? Hatte sie Alternativen? Von Leutnant Kammholz wusste sie nur, was Lotte ihr berichtet hatte. Sie stellte ihn sich vor wie einen stabilen Moritz Bang. Immer brauchte es junge Männer, um die alten zu verraten.

Im zweiten Stock lotste Lotte sie über einen langen, von der Fensterseite aus mondbeschienenen Gang. Hier oben war Merle früher nie gewesen, und das Zentrum der Macht enttäuschte sie. Wo sie herkam, sahen die Behördenflure kaum anders aus, obwohl sie doch alle Autorität hatte fahren lassen.

Ihr Weg endete an einer geschlossenen Tür, durch deren Spalt ein schwaches Licht drang. Secundus trat vor, sah noch einmal in den Gang zurück und klopfte leise. Nach einer Weile näherten sich Schritte, die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet; im Schein einer Öllampe erschien Leutnant Kammholz’ langes Gesicht, und für einen Augenblick entgleisten ihm die Züge, mit seinem Kopftuch sah Secundus auch wirklich seltsam aus.

»Schnell, rein!« Kammholz hatte seine Fassung zurück. Er hielt die Tür auf. Sie schlüpften hinein; nur Mathilda blieb, wie verabredet, auf dem Gang, um Schmiere zu stehen. Merle fand sich in einer Art Kontor wieder, die Schreibtische standen stramm wie auf einem Exerzierplatz.

Kammholz starrte Merle wie ein Weltwunder an. Bestimmt verglich er sie gerade mit dem idiotischen Bild, das angeblich überall hing. »Sie sind …?« Er rettete den Blick zu Secundus hinüber. »Das ist …?«

Secundus wischte die unvollendete Frage weg. »Haben Sie den Schlüssel?«, zischte er und riss sich das Tuch vom Kopf.

Kammholz nickte, machte aber keine Anstalten, sie weiterzuführen. »Herr Oberst«, sagte er, sah aber eigentlich Merle an. »Ich möchte erst noch etwas besprechen.«

»Besprechen? Jetzt?« Secundus schüttelte ärgerlich den Kopf und drängte schon am Leutnant vorbei, aber der, einen ganzen Kopf größer, versperrte ihm den Weg.

»Herr Oberst …«, sagte er, aber zu Merle, »… ich riskiere hier Kopf und Kragen.«

Secundus’ Blick verfinsterte sich noch.

»Falls wir hier etwas finden …«

»Kammholz?«, sagte Secundus ungläubig.

»Jawohl, Herr Oberst!« Kammholz stand stramm, das Öllicht in beiden Händen akkurat vor der Brust. »So wir ein Lid finden, möchte ich bitte mit nach drüben. Das …«, sein ausgeprägter Adamsapfel wanderte einmal auf und ab, »… ist meine Bedin-gung.«

»Einverstanden.« Merle übernahm, bevor Secundus alles verderben konnte. »Willkommen bei den Schwestern, Leutnant Kammholz!«

Kammholz zwinkerte, nickte erkennbar irritiert und warf einen unsicheren Blick auf Secundus. Dann hatte er sich seinen Reim drauf gemacht, wer hier entschied. »Der Kartenraum ist dort drüben«, sagte er zu Merle und deutete ins Dunkel des Raums. »Gleich neben dem Bureau von Oberst Jochum.«

Merle studierte Secundus’ verdüsterte Miene. Ärgerte ihn, dass Kammholz einen Preis hatte? Suchte er selbst denn keinen Weg hier raus? War er auf dem Weg zu den Toten?

Der Kartenraum war ein geräumiges, rechteckiges Zimmer, in der Mitte nichts als ein großer, mit Filz bespannter Kartentisch, an der Wand ein mächtiger Rollladenschrank. Während die praktische Lotte die Lampen entzündete, nestelte Kammholz den offenbar entwendeten Schlüssel hervor, ließ das hölzerne Rollo hochschnappen und enthüllte eine Registratur. Von den herausziehbaren Laden baumelten Packpapierordner. Secundus und er griffen sie sich stapelweise und schichteten sie auf den Tisch. Sie arbeiteten wortlos und schnell, Lotte sortierte die Akten in vier Häuflein, dann nahm sie Merle zur Seite, schlug den ersten auf und zog die Lampe näher. Merle sah eine sorgfältig gezeichnete Karte, sie erkannte die Windungen der Spree.

»Du musst nur die erste und die letzte Seite prüfen«, erklärte Lotte. »Alles dazwischen spielt keine Rolle. Hier.« Sie zeigte auf die Karte. »Das war am Alten Markt.« Sie wendete das Blatt, noch ein Karte, darüber stand in Versalien NEUKÖLLN . Sie überflog den Eintrag darunter. »Das Lid ging auf irgendeine Pension …« Sie schlug drei, vier, fünf vergilbte, tintenbeschriebene Bögen um, bis sie die letzte Aktennotiz erreichte. »Sie haben es noch in derselben Woche zugemauert und dann …«, ihr Finger fuhr die Zeilen hinab, »neu gebaut natürlich, nichts für uns.« Sie klappte den Ordner zu und schob ihn über den Filz zur Seite. »Verstanden? Erste Seite: wo? Letzte: was gemacht? Sie haben selten etwas stehen gelassen, also mach dich auf Enttäuschungen gefasst.«

Gegenüber, auf der anderen Seite des Tischs, hatten Secundus und Kammholz die Arbeit schon aufgenommen. Konzentriert pflügten sie durch die Papiere.

Hatten sie überhaupt eine Chance? Merle hatte Lotte am Arm gefasst. Plötzlich kam ihr das alles aussichtslos vor. Wenn sie Glück hatten, fanden sie eine Mauer, die sich vielleicht aufstemmen ließe. Wenn sie denn irgendwo abseits lag …

Lotte ging an ihren Platz, Merle machte sich ans Werk. Jetzt raschelten sie hastig zu viert. Merles Blick huschte über die Seiten, die teils schon ausbleichenden Karten, die feinen Bleistiftnotizen und fetten Stempel und die seit langem ungewohnte, stets nach rechts kippende Kurrent mit ihren steifen Schleifen, tiefen Schäften und den Strichen über den zackigen n s und m s. Dreizehneichen war nicht zuletzt ein Gefängnis aus Papier, und diese Akten waren seine Wärter.

Sie musste schneller machen, sie ermahnte sich zur Konzentration, die hielt, bis sie auf ihr Zimmer im Viktoria stieß und der Versuchung nicht widerstehen konnte, auch das zweite Blatt zu prüfen. Was heute eine Insel am Gendarmenmarkt war, war mal ein Lid gewesen, das sich auf einen Kellerraum des Palais Markstein geöffnet hatte – bis der Keller kurzerhand zugeschüttet worden war. Ein Zimmer des Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses wiederum, von dem Merle nie zuvor gehört hatte, hatte einmal in die Küche eines Wohnhauses in der Kastellstraße geführt, was das Ende des Wohnhauses bedeutet hatte. Und wer wusste schon, was drüben aus dem Griesinger-Spital geworden war? Beide Ordner wanderten auf den Stapel, der zu gar nichts nutze war.

Den anderen erging es offenbar nicht besser. Kammholz stöhnte leise, Secundus stand der Schweiß auf der malträtierten Stirn. Lotte arbeitete ohne erkennbare Regung, bis sie plötzlich eine der Mappen in die Höhe reckte.

»Die ist leer«, sagte sie.

»Bitte?« Secundus ging zu ihr, um den Tisch herum. Lotte hatte den Ordner geöffnet, es lag nur ein winziger Zettel darin.

»Was ist das? Haben Sie sowas schon mal gesehen, Herr Oberst?« Sie hielt am Oberst fest. Dann reichte sie ihm das Zettelchen.

Secundus streckte es von sich, die typische Geste der Weitsichtigen. »Das ist Alfarts Sigel«, murmelte er.

»Was?« Kammholz hatte stur weitergemacht. Er schichtete seinen letzten Ordner um.

»Das Kürzel des Direktors«, sagte Secundus. »Er hat den Akt entfernt.« Erst jetzt sah er auf. Er suchte Lottes Blick.

»Sie haben keine Idee, welcher Fall es gewesen sein könnte?«, fragte Lotte zurück. »Etwas, dass vielleicht nur Sie …?«

Secundus schüttelte den Kopf. Er drehte die Mappe um; nichts fiel heraus.

»In seinem Bureau verwahrt er keine Unterlagen«, sagte Lotte. »Und gewiss nicht … sowas. Im Prinzip kann jeder da rein. Zumal er doch kaum hier ist.«

Secundus, immer noch ungläubig, fingerte jetzt in dem leeren Ordner herum. »Das hier ist Jochums Schrank. Jedes befugte Mitglied der Abteilung XII könnte auf diese Mappe stoßen. Genauso wie wir.«

» Falls sie die alten Unterlagen durchsehen«, sagte Lotte. »Und selbst wenn … Er ist der Direktor. Er ist allein dem geistigen Führer auskunftspflichtig. Er kann entfernen, was er will.«

»Er hat die Papiere mitgenommen?«, fragte Merle. Sie kam nicht so ohne weiteres mit.

»Er hat den Akt gewissermaßen als geheim eingestuft«, sagte Lotte. »Wenn nicht mal der Leiter der Abteilung XIII davon weiß, ist er mit großer Sicherheit gar nicht erst in Umlauf gekommen. Vielleicht, weil …«

»… das Lid noch offen ist?«, fragte Merle. War das möglich? Dass Julius, ausgerechnet Julius, ein Lid im Verborgenen offen hielt? Ohne dass irgendjemand davon wusste?

»Aber warum gibt es dann überhaupt einen Ordner?« Secundus wog die leere Mappe in der Hand.

»Alles andere wäre offener Verrat«, sagte Lotte. »Er sichert sich ab. Nehmen wir an, das Lid ist wirklich noch offen. Was, wenn Moritz Bang dort hindurchgestolpert wäre? Wenn jemand von hier aus darauf stieße?«

»Dann hätte er auf diese Mappe verweisen können«, murmelte Secundus. »Dann hätte er den zugehörigen Akt beigebracht, und alles hätte einigermaßen seine Ordnung gehabt. Vorausgesetzt, dass es sehr gute Gründe gab, das Lid zu verschweigen.«

»Aber welche Gründe könnten das sein?«, fragte Merle. Hatte Julius sein eigenes Tor in die Freiheit gehabt? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Dreizehneichen war sein Leben. Er hatte ihr Kind geopfert dafür. Viel wahrscheinlicher war, dass es die Mappe gab, weil das Gesetz es befahl. Und wenn er wirklich ein Lid geheim gehalten hatte, dann nur, weil es zu schließen aus irgendeinem Grund noch schlimmer gewesen wäre.

Am Kartentisch herrschte Schweigen. Schließlich wagte Kammholz einen Versuch. »Vielleicht führt es an einen strategisch wichtigen Ort? In der Zwölfwelt?« Er zuckte hilflos mit den Schultern, als niemand darauf einging. »Oder der geistige Führer hat es befohlen? Was, wenn er es befohlen hat?«

Päpstlicher als der Papst zu sein, dachte Merle, das würde Julius ähnlichsehen. Und die Existenz der leeren Mappe am allerbesten erklären.

»Spielt das für uns überhaupt eine Rolle?« Wie ein General stützte Lotte beide Arme auf den Kartentisch und spähte über den Rand ihrer kleinen Brille. »Ist es jetzt nicht viel wichtiger, wo er den Akt verwahrt?« Sie schaute Merle an. Musste sie Julius Alfart nicht am besten kennen? War sie nicht mal, wenn auch in einem anderen Leben, seine Frau gewesen?

»Früher hatte er einen Tresor.« Das schwere, schwarze Ding stand Merle auf einmal wieder vor Augen. Seit sich Lady Vintage ihren gekauft hatte, hatte sie nie mehr daran gedacht. »Er stand neben seinem Schreibtisch in der Bibliothek«, sagte sie.