Wenn Sie jemals auf einem Pride waren, sind Ihre Erinnerungen daran bestimmt so farbenfroh und multisensorisch, dass Sie dieses Ereignis kaum je vergessen werden.
Als Teenager nahm ich in den späten Neunzigerjahren — damals lebte ich noch in Deutschland — zum ersten Mal an einem Pride in Köln teil. Die Stadt ist vor allem berühmt für ihren gotischen Dom — der höchste der Welt —, der die lange und enge Beziehung zum Katholizismus spiegelt. Daneben findet hier jedoch auch einmal im Jahr ein sündiger, eine Woche lang dauernder Karneval statt, und die gesamte Stadt verwandelt sich in eine einzige Riesenparty, an deren Ende das Bildnis des »Narren« verbrannt wird, was die Reinigung von den Freveln des Karnevals versinnbildlicht. Obwohl der eigentliche Karneval nur eine Woche lang dauert, ist die gesamte Karnevalszeit vier Monate lang. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich keine echte Überraschung, dass der Sündenpfuhl Köln seit Langem ein queeres Zentrum ist.
Wegen des queer-positiven Rufs der Stadt und weil sie für ihre gigantischen Straßenfeste bekannt ist, reisten Besucher aus ganz Europa nach Köln und feierten den Christopher Street Day. Fester Bestandteil des Programms war auch eine riesige Parade quer durch die Stadt. Alle möglichen genderuntypischen Kostüme waren zu sehen, Männer und Frauen als Dragqueens und -kings, unterwegs mit vielen anderen, deren Genderidentität entweder nicht-binär oder wunderbar undurchsichtig war. Ich erinnere mich besonders an die überdrehte Stimmung, eine bombastische Riesenparty mit Glitzer und strahlenden Farben und Leuten, die sich küssten und umarmten, als sei dies der letzte — oder erste — Tag ihres Lebens.
Damals ahnte ich noch nicht, dass dieses Ereignis nicht nur eine Party, sondern auch eine Protestveranstaltung war. Ich wusste nicht einmal, dass sich der Name der Parade auf ein Ereignis bezog, das sich im Juni 1969 im Stonewall Inn in der Christopher Street 53 in New York abgespielt hatte. Nachdem es regelmäßig zu Polizeirazzien und Misshandlungen im Stonewall Inn gekommen war, löste das schließlich in der queeren Community die Stonewall-Aufstände aus.
Über die Geschichte der LGBT+-Bewegung wusste ich ebenfalls nichts, denn niemand hatte mir je davon erzählt, und ich war auch nicht auf den Gedanken gekommen nachzufragen. Warum eigentlich nicht? Ein Grund mag gewesen sein, dass ich, als Bisexuelle, immer das Gefühl hatte, Pride, Identitätsfahnen und tolle queere Communitys wären nichts für mich. Ich sah mich als eine Verbündete, fühlte mich aber nicht zugehörig. Hätte ich damals mehr über die Geschichte der Bisexualität gewusst, wäre meine Einstellung bestimmt eine andere gewesen. Dann wäre mir klar gewesen, dass es in der Gemeinschaft einen Platz für mich gab und Bisexuelle an dieser Party nicht nur teilnehmen durften, sondern vielmehr der eigentliche Schlüssel zu ihrer Existenz waren. Bisexuelle wie etwa Brenda Howard.
Falls Sie noch nichts von Brenda Howard gehört haben, ist es jetzt höchste Zeit, das zu ändern. Sie wird häufig als Mutter des Pride bezeichnet. Mit ihren langen schwarzen Haaren, der Brille und den unglaublich tollen T-Shirts — häufig mit rosafarbenem Button und der Aufschrift »Bi, poly, switch — ich weiß, was ich will« (Bi, poly, switch — I know what I want) — engagierte sich Brenda Howard in den Siebzigerjahren in den Straßen aktiv für LGBT+-Rechte. Sie organisierte zu Ehren der Stonewall-Aufstände Märsche in New York. Wie in Deutschland auch hießen diese zunächst »Christopher Street Liberation Day March«, inzwischen laufen sie aber unter dem etwas breiter gefassten Namen Pride. Es ist hauptsächlich Brenda Howard zu verdanken, dass in vielen Ländern heute im Juni eine Woche oder sogar einen Monat lang der Pride gefeiert wird.
Im Jahr 2005 starb sie mit nur 58 Jahren an Darmkrebs. An ihrem Todestag, dem 28. Juni, werden auch die Stonewall-Aufstände gefeiert. Im Netz ist die Gedenkseite ihres langjährigen Partners Lawrence zu finden, noch weitgehend im Originalzustand. Aus Sicht der historischen Forschung handelt es sich hier um eine Primärquelle, denn sie bietet uns ein ungefiltertes Bild der damaligen Zeit. Die letzte Änderung auf der Seite erfolgte 2005. Wir haben Einblick in den engen Freundeskreis von Howard, gleichsam als würden wir eine Reise in die Vergangenheit antreten, mit ihren Freund*innen zusammensitzen und über sie reden.
Die Gedenkseite mutet wunderbar retro und persönlich an — lavendelfarbener Hintergrund, stark verpixelte, wehende Bi-Fahnen und ein Porträt von Howard und ihrem Partner Nelson vor einem Bild der Erde und des Mondes aus der Weltraumperspektive. Howards Spitzname war Earthgirl, deshalb fällt der Blick des Besuchers zuerst auf die Bildunterschrift »SpaceAlien loves EarthGirl«.1 Nelson schreibt in seiner Trauerrede: »Wenn ihr etwas schwerfiel, sagte sie immer, sie sei nur ein kleines Earthgirl … das einen großen Außerirdischen braucht, der ihr hilft.«2 Dass auch eine Trauerrede eine so positive Einstellung zu Sex widerspiegeln kann — er beschreibt eine Reihe ihrer intimen Rollenspiele —, war mir neu.
Auf der Seite sind auch etliche andere, nicht ganz so gewagte Trauerreden zu lesen. Sie zeichnen ein vollständigeres Bild von Howard. So ist die Rede von ihrer »schlauen, komischen, übersprudelnden Präsenz«, ihrem »zutiefst jüdischen Leben« und dass sie auf »Leder« stand, da sie Teil der Kink-Community war. Sie verdiente Geld mit »Telefonsex« und erzählte Freund*innen gern die Geschichten, die sie dabei zu hören bekam. Neben sehr persönlichen Erinnerungen stammt ein Beitrag von zwei bisexuellen Aktivistinnen und Schriftstellerinnen, Lani Ka’ahumanu und Loraine Hutchins, die im Namen des Bi-Community-Netzwerks BiNet USA über Howard schreiben.3 Im Folgenden ein kleiner Auszug aus ihrer Rede:
»Brenda Howard gehörte definitiv zum bisexuellen Urgestein unserer Generation, eine jener erstaunlich hartnäckigen/unnachgiebigen Freiheitskämpferinnen, die Revolutionen und sozialen Wandel auslösen. Sie konnte einfach nicht anders. Sie kämpfte, organisierte und klärte auf, weil sie den Schmerz und den Frevel des Schweigens oder des Zum-Schweigen-gebracht-Werdens nicht ertragen konnte. Aber sie kämpfte auch für uns, weil sie eine VISION hatte, denn sie wollte einfach NICHT zulassen, dass Menschen sie nicht zur Kenntnis nahmen oder dagegen Widerstand leisteten … Das war zu einer Zeit, als die Biphobie innerhalb der Bewegung unglaublich stark und kaum zu überwinden war.«
Von welchem Widerstand ist hier die Rede? Neben der sogenannten doppelten Diskriminierung durch heterosexuelle und homosexuelle Gruppen hatte Brenda Howard damals auch mit juristischem Widerstand zu kämpfen. Sie wurde mindestens drei Mal verhaftet, während sie sich im LGBT+-Aktivismus engagierte, für die Rechte von HIV-Erkrankten kämpfte oder gegen Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung protestierte.
Brenda Howard ist gewissermaßen die Personifizierung des bisexuellen Aktivismus und dessen Geschichte; sie lässt sich einer Reihe von Schlüsselmomenten zuordnen, die vielen vertraut sein dürften: Stonewall, die AIDS-Krise oder der Kampf um LGBT+-Rechte. Diese Auseinandersetzungen sind wichtige Meilensteine, aber dieses Kapitel wird Ihnen darüber hinaus eine umfassendere Perspektive eröffnen, ein ganz neues Verständnis der Geschichte der Bisexualität. Es enthält das, was ich als Grundlagenwissen für jeden, der sich für die Geschichte der Sexualität interessiert, bezeichnen möchte.
Früher habe ich Geschichte gehasst und als eines der ersten Fächer in der Schule abgewählt. Listen von Daten, Namen und Konflikten sind mir immer noch zuwider, die langweiligen Porträts alter, weißer Männer, die möglichst wichtig aussehen wollen, und Zeichnungen, auf denen dargestellt wird, wie Städte früher unserer Ansicht nach ausgesehen haben könnten. Aber die Queer-Geschichte ist eine andere Sache. Schon allein der Name klingt richtig sexy — Queer-Geschichte.
In der Vergangenheit wurde queer häufig als abfälliger Ausdruck für LGBT+-Menschen benutzt. Spätestens seit den Neunzigerjahren haben jedoch viele Menschen dafür gearbeitet, den Begriff zurückzuerobern, ihn aus dem Exil des Profanen zu befreien. Der Slogan der Queer Nation, eine 1990 von LGBT+-Aktivisten gegründete Organisation, bringt es auf den Punkt: »Wir sind hier, wir sind queer, gewöhnt euch dran!« (We’re here, we’re queer, get used to it).
Queer-Theorie ist ein akademischer Begriff und zielt darauf ab, wie die Queer-Theoretikerin Annamaria Jagose erklärt, »die Unmöglichkeit einer naturgegebenen Sexualität nachzuweisen«. Anders ausgedrückt wird hier die Vorstellung infrage gestellt, Sexualität, und zwar insbesondere Heterosexualität, sei irgendwie besser oder natürlicher als andere Sexualitäten. Abgesehen davon besteht der einzige Konsens in Bezug auf eine Definition der Queer-Theorie darin, dass sie sich nicht definieren lässt. Jagose schreibt: »Ein Teil der politischen Wirksamkeit hängt gerade vom Widerstand der Queer-Theorie gegen eine Definition ab.«4 Queer-Theorie trägt in erster Linie dazu bei, Dinge zu queeren, sie zu verfremden und Fragen nach Macht und gesellschaftlichen Dynamiken, die unseren Annahmen über die Welt zugrunde liegen, auf diese Art neu in den Blick zu nehmen.
Geschichte ist ein eher aktiver als passiver Prozess und gleicht insofern unserem Gedächtnis. Wir interpretieren, rekonstruieren und verzerren die Vergangenheit. Das gilt besonders für die queere Geschichte. In Archiven ist so gut wie nichts über queere Personen zu finden, und die einzigen Quellen sind mitunter juristische Dokumente über Strafprozesse. Sich auf diese Unterlagen zu verlassen ist allerdings ziemlich riskant, und zwar nicht nur, weil darin ausnahmslos Menschen repräsentiert sind, die eine zur damaligen Zeit unerwünschte Tat begingen; diese Akten liefern daneben auch eine verzerrte Sicht und Schwarzmalerei der Konsequenzen queerer Wünsche und Verhaltensweisen. Wenn wir uns also, anders ausgedrückt, auf diese juristischen Unterlagen verlassen, nehmen wir ausschließlich die schlimme, straffällige Seite des Queer-Seins wahr — Haftstrafen, sozialer Ausschluss, Hinrichtungen. Aber wenngleich dies keineswegs ein Bild der queeren Gemeinschaft zeigt, das sie verdient, ist es immerhin ein Ausgangspunkt, um nach queeren Menschen in der Vergangenheit Ausschau zu halten.
Die entsprechenden Gerichtsakten beziehen sich in der Regel auf kriminalisiertes homosexuelles Verhalten von Männern, eingeschlossen Straftaten wie Perversion, womit vorwiegend Analsex, Sodomie oder zuweilen jegliche Art von nicht reproduktivem Sex gemeint ist — und grobe Unanständigkeit, worunter viele anderen Verhaltensweisen fallen (abgesehen von Perversion). Bekanntlich wurde der Informatiker und geniale Mathematiker Alan Turing wegen letzterem Verbrechen 1952 verurteilt.
Daneben finden sich, allerdings seltener, auch Fälle in den Gerichtsarchiven, die gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Frauen betreffen.5 Beispielsweise Gerichtsakten zu Fällen von Heiratsschwindel: Frauen werden beschuldigt, sie hätten sich als Mann ausgegeben und andere Frauen durch »Täuschung« zur Heirat bewegt. Manchmal betreffen diese Fälle eines weiblichen Ehemanns auch Personen, die sich heute als Trans-Männer bezeichnen würden, und manchmal beziehen sie sich auf Fälle, die heute eine lesbische Partnerschaft wären: Eine der beiden gibt sich als Mann aus, um arbeiten zu können und sich im öffentlichen Raum frei zu bewegen, Eigentum zu erwerben oder einfach unbehelligt mit ihrer Partnerin zu leben, aber nicht, weil sie sich als Mann fühlt. Wahrscheinlich kamen einige (vielleicht sogar die meisten) dieser Fälle vor Gericht, weil ein neugieriger Nachbar sie anzeigte, und nicht, weil eine der Partnerinnen sich betrogen fühlte. Heute wissen wir meist einfach nicht, wie es den Beteiligten ging und wie sie sich womöglich identifizierten.
Wir können die Vergangenheit nie wirklich kennen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Beweise zu sichten, aus denen wir uns dann eine möglichst plausible Geschichte abzuleiten versuchen und diese auf unsere Gegenwart beziehen, um ihr einen Sinn zu verleihen. Historiker*innen zitieren gern eine Zeile aus Leslie Pole Hartleys Roman The Go-Between: »Die Vergangenheit ist ein fernes Land, dort gelten andere Regeln.«6 Ungeachtet dieser Schwierigkeiten ist es natürlich immer lohnend, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen. Das gilt gerade für queere Geschichte, die uns hilft, queere Identitäten und Leben zu normalisieren. Geschichte gibt uns das Gefühl, dass wir immer schon da gewesen sind oder zumindest Vorläufer hatten, die uns auf bedeutsame Weise ähnelten. Das ist auf persönlicher Ebene eine Bestätigung und hilft im Kampf gegen Diskriminierung.
Aber kann es überhaupt eine Geschichte der Sexualität geben? Der Historiker David Halperin hat sich 1989 mit dieser Frage beschäftigt.7 Sein viel zitierter Artikel enthält ein Mantra der queeren Geschichte: »Sex hat keine Geschichte … Sexualität im Gegensatz dazu sehr wohl.« Seiner Ansicht nach ist Geschlechtsverkehr eine biologische Tatsache, und die Menschheit tut es seit jeher auf alle nur denkbaren Weisen. Sexualität hingegen ist eine Identität und ein kulturelles Konstrukt, und die Bedeutung unserer sexuellen Vorlieben erschöpft sich nicht darin, dass wir sie praktizieren, sondern sie bilden vielmehr einen Teil unserer Identität ab. Aus diesem Grund behaupten Halperin, der Philosoph Michel Foucault,8 dessen Arbeiten ebenfalls Sexualität thematisieren, und der Historiker und Soziologe Jeffery Weeks9 einhellig, die Geschichte der Sexualität sei etwas einzigartig Modernes. Das ließe sich auch als eine vereinfachende Auffassung der Geschichte des Sex lesen, da einige Historiker*innen sicherlich das Argument anführen würden, dass spezifische Sexualakte sehr wohl ihre eigene Geschichte besitzen. Aber darum geht es hier nicht.
Die Normativität der Heterosexualität über weite Strecken unserer Geschichte hatte zur Folge, dass die meisten Menschen mit homosexuellen Neigungen aufgrund ihrer historischen Lebenswelten gezwungen waren, ein heterosexuelles Leben zu führen und heterosexuelle Beziehungen einzugehen. Das erschwert die Suche nach queeren Biografien der Vergangenheit. Akademiker*innen, die auf diesem Feld forschen, gehen daher meist von der Annahme aus, dass Personen, die ansatzweise gleichgeschlechtliche Neigungen oder Sex hatten, schwul oder lesbisch gewesen sein müssen, selbst wenn sie gleichzeitig in heterosexuellen Beziehungen lebten. Diese Annahmen sind ein Grund dafür, warum der Begriff bisexuell in den Arbeiten von Historiker*innen so gut wie nicht vorkommt. Das ist ein großes Problem, denn durch diese Annahme bezeichnen wir systematisch Menschen falsch, die sich zu multiplen Genderidentitäten hingezogen fühlten.
Diese Betrachtungsweise ist keineswegs Historiker*innen vorbehalten. Vor Kurzem drehte sich das Gespräch während eines Abendessens um eine frisch geschiedene Freundin der Familie. Sie ist jetzt mit einer Frau zusammen. Der unhinterfragte und allgemeine Konsens bei Tisch war, na ja, offensichtlich ist sie lesbisch und kann endlich so leben, wie sie will. Mein Beitrag zur Diskussion bestand — wenig überraschend — in dem Einwand, sie sei vielleicht bisexuell und habe sich einfach zuerst in ihren Ehemann und später in eine Frau verliebt. Da die Betreffende nicht mit uns am Tisch saß, konnten wir die Frage nicht klären. Ich will damit lediglich zeigen, wie schnell in solchen Situationen Bisexualität als Möglichkeit ausgeschlossen oder gar nicht erst in Betracht gezogen wird.
Arbeiten von Historiker*innen über die Geschichte der Bisexualität sind rar gesät, bis auf einige gute Berichte von Sexolog*innen, Sozialwissenschaftler*innen, Mediziner*innen und Politikwissenschaftler*innen. Obwohl der direkte Austausch zwischen diesen Disziplinen meist fehlt, lässt sich ein kreativer direkter oder indirekter Einfluss durch Ideen wahrnehmen. Aber es zeigen sich auch die Unterschiede zwischen den Feldern. Ein besonders augenfälliger besteht in der Antwort auf die Frage, wann, nach der jeweiligen Meinung der Forschenden, die Geschichte der Bisexualität begann.
So argumentiert die italienische Historikerin Eva Cantarella, Bisexualität lasse sich bis in die Antike zurückverfolgen, und neben den bekannten bisexuellen Verhaltensweisen im antiken Griechenland und Rom »betrachtete auch die heidnische Welt sexuelle Beziehungen zwischen Männern als integralen Bestandteil einer Sexualität, die Beziehungen mit Frauen nicht nur nicht ausschloss, sondern sie vielmehr als notwendig und nützlich (und auch wünschenswert) ansah«.10 Der Kulturwissenschaftler Lachlan MacDowall wiederum ist der Ansicht, dass die Geschichte der Bisexualität mit der Prägung des Begriffs einsetzte: »Zeitgenössische Bisexualität hat eine entschieden moderne Geschichte und beginnt in der Mitte des 19. Jahrhunderts.«11 Oder Steven Angelides, der, je nachdem, wie man seine Arbeit liest, sich der Ansicht MacDowalls anschließt — Bisexualität wurde neben Sexualität als Konzept im 19. Jahrhundert erfunden — und zugleich auch behauptet, dass sie »zumindest bis in die Sechzigerjahre hinein weder eine Handlung noch eine greifbare Identität war«.12 In einigen Texten verortet er Bisexualität sogar in den Siebzigerjahren. Ich lese aus diesen Unterschieden heraus, dass Historiker*innen wie Cantarella insbesondere an bisexuellen Handlungen interessiert sind, während für andere wie MacDowall und Angelides eher die bisexuelle Identität eine Rolle spielt. Diese Debatte über Handlung und Identität wird in der queeren Geschichte schon seit Langem geführt.
Nachdem Sie mit etwas Grundlagenwissen über die Probleme ausgestattet sind, denen wir beim Studium der queeren Geschichte begegnen, möchte ich Ihnen gern die Person vorstellen, die viele als Pionier unter den Verfassern medizinischer Fachbücher über Homosexualität und Bisexualität betrachten. Sein Buch Sexuelle Inversion erschien als Einzelband in einer Reihe mit dem Gesamttitel Sexual-psychologische Studien. In seinem Werk lassen sich die Probleme nachvollziehen, die schriftliche Auslassungen zum Thema Sexualität damals nach sich zogen, und es untergräbt darüber hinaus die im ersten Kapitel vorgestellte Idee, Bisexualität sei irgendwie neu oder gerade besonders angesagt.
Havelock Ellis ist der wichtigste Sexualitätsforscher, von dem Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben. Selbst wenn Ihnen sein Name etwas sagt, bin ich mir sicher, dass Sie nicht seine ganze Geschichte kennen. Und das ist wirklich schade, sie ist unglaublich. Ehrlich. Total abgefahren.
Am besten fangen wir mit seiner Geburt 1859 in Croydon, England, an. »Ich wurde aus Wasser und Wind geboren, den Elementen, die in der Nacht, als ich zur Welt kam, wüteten«, schreibt Havelock Ellis in seiner Autobiografie, die 1939, seinem Todesjahr, erschien.13 Mit diesem Satz spielt er auf seine Vorfahren an, die wie sein Vater zur See fuhren. Mit sieben Jahren begleitete Ellis seinen Vater, einen Kapitän, auf einer Weltreise. Als Erwachsener arbeitete er einige Jahre lang als Lehrer in Sydney, kehrte dann nach England zurück und studierte in London Medizin. Hier begann er seine Forschung über Sexualität.
In seiner Autobiografie schreibt Ellis, dass er sich für homosexuelles Verhalten zu interessieren begann, weil einige seiner Freunde schwul und seine eigene Frau, Edith Lees, queer war. Letztere war eine Frauenrechtsaktivistin, und er bezeichnet sie als »größtenteils homosexuell«, weil sie während ihres Lebens mehrere romantische und sexuelle Beziehungen mit Frauen einging. Angeblich hatten Ellis und seine Frau eine sexuelle Beziehung, lebten aber meist in einer offenen Ehe. Jawohl, eine offene Ehe, im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Das wissen wir so genau, weil sie sich gegenseitig Briefe über ihr Liebesleben schrieben und einige davon in seiner Autobiografie abgedruckt wurden. Aus ihnen geht klar hervor, dass Edith einen Großteil ihrer Zeit mit einer gewissen Clair verbrachte, und Ellis meist asexuell lebte, von gelegentlichen Beziehungen zu anderen Frauen abgesehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie in einer Scheinehe lebten. Ellis beschreibt ausführlich, wie sehr sie einander bis zum Tod von Edith liebten und ihre Beziehung den »Triumph der tiefen leidenschaftlichen Liebe über die körperliche Leidenschaft« versinnbildlichte. Aus den Briefen spricht eine Liebe, Aufrichtigkeit und Verbundenheit, von der viele Paare nur träumen können.
Was bewog Ellis dazu, das Buch Sexuelle Inversion zu schreiben? War es eine plötzliche Eingebung? Ellis zufolge handelte es sich wohl eher um einen Zufall. Er gesteht:
»Homosexualität war ein Aspekt der Sexualität, der mich bis vor einigen Jahren überhaupt nicht interessiert hatte. Ich wusste auch so gut wie nichts darüber. Aber in diesen wenigen Jahren beschäftigte ich mich plötzlich sehr viel mit dem Thema. Das lag zum Teil daran, dass einige meiner Freunde, die ich besonders schätzte, mehr oder weniger homosexuell waren (wie Edward Carpenter und natürlich Edith), und zum Teil daran, dass ich durch Briefe in Kontakt mit John Addington Symonds gekommen war.«
Symonds hatte nie einen Hehl aus seiner Homosexualität gemacht und mit Ellis Kontakt aufgenommen, um gemeinsam mit ihm ein Buch zu schreiben; er starb jedoch an der Grippe, ohne dass er und Ellis Fortschritte in der Sache erzielt oder sich überhaupt getroffen hatten. Symonds hatte Ellis bereits die Entwürfe für seinen Teil des Buches geschickt, die allerdings ungeordnet und unklar waren. Ellis setzte die Arbeit an dem Buch jedoch fort und führte den verstorbenen Symonds als Mit-Autor auf der Titelseite an. Das sollte sich später als folgenreicher Fehler erweisen.
Als Havelock Ellis die Szene der Sexualwissenschaften betrat, hatten sich Forscher in Frankreich, Italien und Deutschland bereits seit einigen Jahrzehnten ernsthaft mit dem Feld beschäftigt. Ellis’ Interesse galt insbesondere den genetischen Grundlagen der »sexuellen Inversion« — eine seit 1850 übliche und auf französische Wissenschaftler zurückgehende Bezeichnung. Der Begriff Inversion kam auf, weil man Homosexualität seinerzeit als eine Umkehrung der Geschlechterrollen betrachtete, beispielsweise Männer, die Frauenkleider trugen, sich wie Frauen verhielten oder sich sexuell von Männern angezogen fühlten. Ellis beschritt jedoch einen anderen Weg als seine Kollegen.
Er nahm queere Menschen vor allem in psychologischer und gesellschaftlicher Hinsicht in den Blick. In seinen Büchern strafte er sie nicht ab, sondern war vielmehr bemüht, sexuelle Inversion als eine seltsame und nicht unbedingt bedrohliche Spielart der menschlichen Sexualität darzustellen. Ellis’ Buch galt aus diesem Grund damals als Skandal. Sexuelle Inversion entstand nach einer mindestens vierjährigen Forschungszeit und enthielt unter anderem 33 Fallstudien queerer Männer und Frauen. In den späteren Ausgaben sind die von Ellis vorgestellten Gespräche und Studien noch umfangreicher, doch wie Ivan Crozier anlässlich einer kritischen Neuausgabe des Buches schrieb, ist eines von Beginn an unverkennbar: »Mit dem Argument, dass Homosexualität als natürliches Phänomen und nicht als Sünde oder Krankheit betrachtet werden sollte, zielten die Fallstudien in Sexuelle Inversion, die einen wesentlichen Teil des Werkes ausmachen, darauf ab, sexuell Invertierte als normale Individuen und nicht als Degenerierte darzustellen.«14
Obwohl das Buch erfolgreich in deutscher Übersetzung erschien und Symonds als Mit-Autor genannt wurde, erklärte Ellis: »Auf Englisch wurde es nicht veröffentlicht, denn im letzten Moment, als das Buch schon gebunden war und der Erscheinungstermin unmittelbar bevorstand, schlug die Familie Symonds Alarm.« Es gelang den Symonds, alle Exemplare der Ausgabe aufzukaufen. Vermutlich befürchteten sie, der Familienname könne durch die Verbindung mit einem so skandalösen Werk in Verruf geraten.
Damit war nach Ansicht von Ellis sein erster Versuch, das Buch zu publizieren, gescheitert. Er bot es einem neuen Verleger an, der das Manuskript zur Begutachtung weiterleitete. Obgleich der Gutachter ein Freund von Ellis war, wurde die Veröffentlichung dennoch mit der Begründung abgelehnt, es könne »einen demoralisierenden Einfluss« auf die Gesellschaft ausüben. In vielen Ländern werden heute noch Bücher, die ein positiveres Bild von Homosexualität zeichnen, als Bedrohung wahrgenommen.
An wen sollte sich Ellis nach diesem Misserfolg jetzt wenden? Er erfuhr von einem »Mann mit gewissen finanziellen Mitteln«, der gerade im Begriff war, einen Verlag zu gründen, und traf sich in London mit dem vermeintlichen Agenten des Mannes namens Roland de Villiers. Ellis beschreibt ihn als »großen, freundlichen, beleibten Mann, dessen verstohlener Gang und Wesen etwas Katzenhaftes hatte«. Der Verleger war Ellis zwar nicht geheuer, doch er zahlte den Vorschuss, und diesmal sorgte Ellis dafür, dass die Veröffentlichung »in aller Stille« vonstattenging, und informierte vorab nur Ärzte und einige medizinische und wissenschaftliche Fachzeitschriften. Genau an diesem Punkt »setzte eine Entwicklung ein, wie ich sie mir keineswegs vorgestellt oder gewünscht hatte«. Eine Darstellung, die man nur als klassische, typisch englische Untertreibung bezeichnen kann.
Das Buch wurde mit der Legitimation League (einer 1890 gegründeten Vereinigung) in Verbindung gebracht. Diese Vereinigung engagierte sich für Beziehungen, die in der damaligen Zeit aus dem Rahmen fielen, beispielsweise eine Partnerschaft ohne Heirat, und plädierte außerdem für die bessere Behandlung unehelicher Kinder. Die Organisation geriet ins Visier der Polizei, da sich Anarchisten, die seinerzeit als brandgefährlich galten, unter den Mitgliedern befanden. Ellis’ Buch wurde in einem Büro des Vereins verkauft und kam dadurch in Verruf. Der Geschäftsführer der Legitimation League, George Bedborough, wurde wegen der Publikation und Verbreitung obszönen Materials verurteilt — vor Gericht wurde das Buch als »unzüchtig, gefährlich, unflätig, skandalös und obszön« bezeichnet. Zum Leidwesen von Ellis zeigte sich niemand aus wissenschaftlichen medizinischen Kreisen bereit, vor Gericht für sein Werk einzutreten, und die Presse zerriss es als »schmutzig« und unwissenschaftlich. Laut der Tageszeitung Observer handelte es sich um »einen wertlosen wissenschaftlichen Beitrag, selbst wenn jenes Feld, für das Interesse bekundet wird, das Studium wert wäre«. Im Nachhinein eine seltsame Behauptung, wenn man bedenkt, welche nachhaltige Wirkung das Buch später ausüben sollte.
Erinnern Sie sich noch an den merkwürdig anmutenden Verleger? Ellis bezeichnete de Villiers als »eine äußerst mysteriöse Figur« und schöpfte allmählich den Verdacht, dass dieser ihn gleich in mehrfacher Hinsicht hinters Licht geführt hatte. Damit sollte er nur allzu richtigliegen. De Villiers hieß in Wirklichkeit Georg Ferdinand Springmühl von Weissenfeld, war ein notorischer Betrüger und hatte, gemeinsam mit seiner Ehefrau, schon unter diversen Namen und als Inhaber vieler verschiedener Bankkonten sein Unwesen getrieben. Offenbar spannte er gelegentlich auch seine Bediensteten ein, die sich »außerordentlich gut gekleidet als Gattinnen und Töchter von Politikern, Botschaftern und anderen Berühmtheiten ausgaben«. Die Polizei fahndete nach de Villiers, der Ellis’ Buch herausgegeben hatte, und machte ihn schließlich in einem Anwesen in Cambridge dingfest, wo er in einem der vielen Geheimverstecke und mit einer Pistole in der Hand ausgeharrt hatte. Nach der Festnahme »bat de Villiers einen Bediensteten, ihm ein Glas Wasser zu bringen. Die Polizei geht davon aus, dass er Gift, welches er in seinem Siegelring versteckt hatte, in das Wasser gab.« Er starb noch am gleichen Tag. Ellis schreibt dazu: »Das war das tragische Ende des ersten Verlegers meiner Studien und damit auch der ersten Ausgabe.«
Wie gesagt, die Geschichte ist echt abgefahren.
Trotz dieser Ereignisse und nachteiligen Auswirkungen, die sie damals auf Ellis’ Gesundheit hatten, startete er einen weiteren Versuch, das Buch zu veröffentlichen. Dieses Mal erregte der Band internationales Aufsehen und wurde zu einem Meilenstein seiner Karriere.
Meiner Ansicht nach ist die Veröffentlichungsgeschichte der Sexuellen Inversion ein Paradebeispiel der queeren Geschichte. Sie zeigt uns, dass eine Person mit weniger Entschlossenheit und Mut vielleicht nie über queere Menschen geforscht oder nach dem ersten und zweiten Misserfolg der Veröffentlichung aufgegeben hätte. Wissenschaftler*innen, die sich unvoreingenommen mit sexuellen Außenseitern befassten und über das Thema schrieben, mussten damit rechnen, kriminalisiert, von Kollegen diszipliniert und von der Presse verleumdet zu werden. Es ist auch unverkennbar, welche Bedeutung der Kontakt mit offen queeren Freunden, Familienmitgliedern und Kollegen und deren Unterstützung auf die Bereitschaft einer Person haben, sich für sie einzusetzen und gegen ihre gesellschaftliche Ächtung zu kämpfen. Der wohl wichtigste Punkt ist jedoch, dass dieser Kampf erfolgreich sein kann, ein Buch die Zeit überdauert und auch ein Jahrhundert später Menschen beeinflusst.
Na ja, und ich persönlich mag Havelock Ellis natürlich, weil er sich ausdrücklich zu Bisexualität geäußert hat, und zwar zu einer Zeit, als sie in den meisten Diskursen über Sexualität überhaupt nicht vorkam. Ellis sollte noch viele Ausgaben der Sexuellen Inversion herausgeben. Gerade die späteren Versionen waren weit verbreitet und finden sich noch heute in antiquarischen Buchhandlungen. Eine dritte Ausgabe erschien 1927.
Bereits in der Einführung zur Ausgabe Sexuelle Inversion aus dem Jahr 1927 erwähnt Ellis den Begriff Bisexualität und erklärt: »Menschen, die sich zu beiden Geschlechtern hingezogen fühlen, werden mittlerweile als ›bisexuell‹ bezeichnet, ein eingängigerer Begriff als das vorher übliche ›psychosexuell hermaphroditisch‹.«15 Dass letztere Bezeichnung ein echter Zungenbrecher ist und sich daher nicht durchsetzen konnte, leuchtet sofort ein. Interessanterweise ist bei Ellis auch von »beiden Geschlechtern« die Rede; damit hebt er sich deutlich von der damals in der europäischen und amerikanischen Forschung gängigen Ansicht ab, wonach Forscher und Mediziner Sex und Sexualität als ein Zusammenspiel männlicher und weiblicher Eigenschaften betrachteten, die, wie man damals annahm, bis zu einem gewissen Grad in jedem von uns vorhanden waren. Begriffe wie gender-queer oder nicht-binär sind erst seit Kurzem Bestandteil der wissenschaftlichen Diskussion.
Ellis fährt fort: »Sexuell funktionierende Personen lassen sich in drei weit gefasste, einfache Gruppen einteilen: Heterosexuelle, Bisexuelle und Homosexuelle.« Er räumt ein, diese Klassifizierung sei womöglich etwas primitiv und unwissenschaftlich, vor allem, weil »die Gruppe der Bisexuellen hier Zweifel und Unschärfe« einbringe. Das, so Ellis weiter, liege daran,
»dass zum einen ein großer Teil von Individuen, die man als normal heterosexuell betrachten kann, in bestimmten Phasen ihres Lebens Gefühle der Zuneigung für Personen des gleichen Geschlechts empfunden haben, aber auch, dass eine große Anzahl von Personen, die eindeutig und ausgeprägt homosexuell sind, sich von Personen des anderen Geschlechts sexuell angezogen fühlten und Beziehungen mit ihnen eingegangen sind«.
Mich beeindruckt, dass Ellis dies bereits Jahrzehnte vor Alfred Kinsey festgestellt hat.
Welches Bild hatte Ellis von bisexuellen Menschen? Zunächst einmal hielt er sie für Sonderfälle. Seiner Ansicht nach »handelt es sich bei Bisexualität um eine Eigenschaft, die sich bei vielen Kriminellen findet«. Diese Einschätzung teilt er mit seinem Zeitgenossen Krafft-Ebing. Andererseits schreibt er den Erfolg von großen Persönlichkeiten und Künstlern deren Bisexualität zu. In Sexuelle Inversion untersucht er eine Reihe berühmter Künstler*innen und Forscher*innen der Vergangenheit, äußert er sich ausführlich zu vielen historischen Figuren und deren Sexualität und zitiert Edward Carpenter mit der Feststellung, dass einige »bisexuell veranlagt waren und ihnen gerade diese Tatsache weitreichende Kräfte verlieh und sie zu großen Persönlichkeiten machte«. Das schreibt er der »inhärent demokratischen Haltung« zu, die bisexuelle Menschen seiner Meinung nach besitzen und die es ihnen erlaubt, Kastendenken und soziale Stellung zu überwinden und neue Blickwinkel einzunehmen. Insbesondere bisexuelle Frauen, argumentiert er, seien »große religiöse und moralische Leitfiguren« und einige von ihnen hochintelligent und abenteuerlustig. Ich frage mich, ob er auch ohne den Einfluss seiner Frau, die er sehr bewunderte, zu diesem Schluss gekommen wäre. Jedenfalls geht aus seinen Ausführungen hervor, wie vielschichtig und teilweise sogar ausgesprochen positiv die Einstellungen zu Bisexualität Anfang des 20. Jahrhunderts bereits sind.
Ellis, so viel ist ebenfalls deutlich, war außerdem der Meinung, dass Bisexualität, ebenso wie Homosexualität, angeboren oder biologisch bedingt sei. Mit anderen Worten: Menschen kamen nach seinem Verständnis bisexuell zur Welt. Das ist keine Überraschung, denn Ellis war auch Eugeniker und zeitweise sogar Vizepräsident der Eugenics Society (Gesellschaft für Eugenik). Das Wort Eugenik erwähnt er in Sexuelle Inversion nur einmal im Zusammenhang mit einem anderen Sexualwissenschaftler, Magnus Hirschfeld. Es entmutigte mich etwas, als ich erfuhr, dass Ellis Eugeniker war. Eugenik ist eine pseudowissenschaftliche Doktrin und stützt sich auf eine falsche Interpretation der Vererbungsgesetze, der wiederum die Annahme zugrunde liegt, wir könnten und sollten kontrollieren, wer sich fortpflanzt, um genetisch überlegene Menschen hervorzubringen. Im 20. Jahrhundert setzten sich Befürworter der Eugenik erfolgreich für die Zwangssterilisierung von Menschen ein, die in einigen Ländern, darunter die Vereinigten Staaten, Japan, Kanada, Mexiko und Nazi-Deutschland, als unerwünscht galten.16 Ellis sprach sich eindeutig gegen Zwangssterilisation aus, vertrat jedoch die Ansicht, dass Arme, psychisch oder physisch Kranke oder gefährdete Menschen sich nicht fortpflanzen sollten. Sein eigenes Leben spiegelt diese Überzeugung wider. Er schreibt in seiner Autobiografie, dass seine Ehe wegen der psychischen Instabilität seiner Ehefrau auf ärztliches Anraten kinderlos blieb.
Apropos historische Persönlichkeiten mit problematischen Ansichten: Ellis’ Arbeit wurde auch von dem Psychoanalytiker Sigmund Freud beeinflusst. Ellis bezeichnete Freud als Genie, übte allerdings Kritik an »dogmatischen Psychoanalytikern«, die Freud folgten, und deren »starren Konzepten« von Psychologie und Sexualität. Auch heute noch lassen sich dogmatische Tendenzen in der Psychoanalyse beobachten, und Freuds Ansichten in Bezug auf Sexualität waren ausgesprochen fragwürdig. Beispielsweise höre ich nicht selten die Behauptung, Freud war der Meinung, jeder Mensch sei bisexuell. Das stimmt zwar schon irgendwie, ist aber längst nicht so erfreulich, wie oft suggeriert wird.
Freud schrieb über Bisexualität, sein Verständnis des Begriffes weicht allerdings von unserer heutigen Definition ab. Laut der Klinischen Psychologin und Psychoanalytikern Esther Rapoport »vermengte er biologisches Geschlecht, sexuelle Orientierung und Genderidentität«.17 Mit anderen Worten war er der Ansicht, wir alle seien mit männlichen und weiblichen Körpern und Gehirnen zur Welt gekommen, was er, etwas verschwommen, als Bisexualität bezeichnet. Der Widerstreit dieser männlichen und weiblichen Komponenten in jedem von uns, schlussfolgerte Freud, sei ein Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Psychologie. In Verbindung mit dieser Vorstellung hielt Freud Bisexualität für ein frühes Entwicklungsstadium, das durch die Auflösung der weiblichen und männlichen Gegensätze der eigenen Person überwunden werden solle. Seiner Ansicht nach ist jeder von uns in der Kindheit bisexuell und Bisexualität als eine unreife und kindliche Form der Sexualität zu sehen. Freud hielt bisexuelle Neigungen beim Erwachsenen für unangemessen und unmöglich und brachte Bisexualität mit Hysterie in Verbindung.
Kehren wir zu Havelock Ellis zurück. Als einer der ersten medizinischen Wissenschaftler versuchte er systematisch zu verstehen, wie Bisexuelle denken und wie sie sind. Seine Überlegungen mündeten jedoch in Stereotypen, und nicht alle davon waren so positiv wie die Vorstellung, Bisexuelle seien »große Persönlichkeiten«. Beispielsweise hielt er bisexuelle Menschen für hypersexuell, behauptete, sie empfänden mehr Befriedigung bei homosexuellem als bei heterosexuellem Sex und litten unter einem Minderwertigkeitskomplex, der ihr künstlerisches Schaffen begünstige. Gerade diese Aussage empfinde ich als eigenartig, und darin zeigt sich der Einfluss Freuds; er stellte ebenfalls jede sexuelle Inversion, eingeschlossen Bisexualität, »normalen« heterosexuellen Neigungen gegenüber.
Trotz dieser Stereotype sind Ellis’ Arbeiten und sein Engagement für Bisexualität für die damalige Zeit, oder genauer gesagt für jede Zeit, beachtlich. Er zeigt uns, dass viele unserer heutigen Ideen über Bisexualität keineswegs neu sind, sondern bereits zu Beginn der wissenschaftlichen Diskussionen über die Sexualität eine Rolle spielten und besprochen wurden. Statt sich an das vereinfachende Gegensatzpaar homosexuell/heterosexuell zu klammern, wusste Ellis, dass die Diskussion über die menschliche Sexualität unvollständig bleiben muss, wenn die Bisexualität außen vor bleibt.
Diese grundlegende Erkenntnis ist uns leider irgendwo unterwegs abhandengekommen.
Ich habe den Verdacht, dass dieses Irgendwo ein Irgendwann war. Zwei Monate nach Ellis’ Tod brach der Zweite Weltkrieg aus.
In Frankfurt steht ein gotischer Engel mit großen Flügeln und einem Schriftband in den Händen. Grüne Oxidationsspuren deuten auf die metallische Beschaffenheit der dunkelgrauen Skulptur hin. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine klassische religiöse Figur, aber das ist ein Irrtum.
Ein zweiter, genauerer Blick zeigt, warum. Etwas an diesem Engel ist sehr ungewöhnlich. Diese auf zurückhaltende Weise schockierende Figur ist eine Arbeit von Rosemarie Trockel. Sie wurde 1994 aufgestellt und erinnert an die Ermordung und Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus. Vorbild des Engels ist eine der Statuen, die ursprünglich den Kölner Dom schmückten. Die Künstlerin hat jedoch leichte Veränderungen vorgenommen: Trockel trennte den Kopf des Engels ab und setzte ihn leicht verschoben wieder auf. Die Bruchstelle ist sichtbar. Diese Modifikation soll an das physische und psychische Leid verfolgter Homosexueller während des Nationalsozialismus und die entsetzliche Behandlung queerer Überlebender in der Nachkriegszeit erinnern, als homosexuelle Handlungen nach wie vor kriminalisiert wurden. Der Engel überbringt uns auf der dazugehörenden Inschriftentafel die Botschaft, dass »Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, immer wieder verfolgt werden können«.18
Die Nationalsozialisten nahmen insbesondere Menschen ins Visier, die homosexuell aktiv waren, und diese unscharfe Kategorie schloss schwule und bisexuelle Männer und Transgender-Frauen ein. Einige wurden in Konzentrationslagern interniert, und ein auf die Kleidung genähter rosa Winkel wies sie als Homosexuelle aus. Viele der Männer überlebten den Lageraufenthalt nicht. Schätzungen zufolge wurden rund 10.000 Männer dort interniert.19 Die Überlebenden wurden nach Kriegsende häufig in andere Gefängnisse verlegt, denn in Deutschland blieb Homosexualität aufgrund des Paragrafen 175 bis 1969 strafbar. Endgültig abgeschafft wurde der Paragraf erst 1994. Queere Frauen und nicht-binäre Menschen wurden im Nationalsozialismus ebenfalls verfolgt, im Vergleich mit den Männern ist ihre Anzahl jedoch relativ gering. Statt des rosa Winkels wurden sie oft gezwungen, einen schwarzen Winkel zu tragen, der sie als sogenannte Asoziale — zu denen auch Bettler*innen, Alkoholiker*innen, Sexarbeiter*innen und Pazifist*innen gehörten — auswies.20
Bekanntlich hat die queere Community sich den rosa Winkel seit Langem als Symbol des Widerstands angeeignet, vor allem außerhalb Deutschlands. Er findet sich im Logo berühmter queerer Buchhandlungen — Gay’s The Word in London, Category Is Books in Glasgow und Glad Day in Toronto, um nur einige von ihnen zu nennen. Ein bisexuelles Zeichen, das sogenannte Biangles, bezieht sich ebenfalls auf den rosa Winkel; es besteht aus zwei umgekehrten rosafarbenen und blauen Dreiecken, die sich an der Schnittstelle dunkelrot färben. Diese Symbole werden auf der ganzen Welt sehr unterschiedlich wahrgenommen. Manche halten sie für revolutionär, andere bringen sie vor allem mit Unterdrückung und Leid in Verbindung.
Obwohl Homosexualität in vielen Ländern auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine strafbare Handlung blieb, begünstigte die Zeit von 1946 bis 1972 insgesamt das Entstehen bisexueller Identitäten. Einige queere Historiker*innen betrachten den Zweiten Weltkrieg insofern als entscheidenden Zeitraum, als queere Menschen sich der Überwachung durch Familie und Gemeinschaft entzogen und ihre Sexualität erforschten. Auch den zunehmenden Aktivismus der Nachkriegszeit schreiben sie teilweise den während des Krieges geknüpften Beziehungen zu.
Wie sich bisexuelle Identität definierte und ob sie gesellschaftlich akzeptiert wurde, sollte sich jedoch im Lauf der Zeit wandeln. Richten wir beispielsweise den Blick auf die Niederlande, ein Land, das heute oft als leuchtendes Vorbild der LGBT+-Befreiung gilt. Bereits 1811 wurde Homosexualität nicht mehr strafrechtlich verfolgt, und die Niederlande legalisierten als weltweit erste Nation die gleichgeschlechtliche Heirat.
Auch beim Thema Bisexualität waren die Niederlande den anderen voraus. Die niederländische Wissenschaftlerin des Netherlands Transgender Networks, Elisa van Alphen, untersuchte das Aufkommen von Bisexualität und stellte fest, dass Bisexualität bereits in der Nachkriegszeit zu den Kernthemen der holländischen Homosexuellen-Bewegung gehörte. Van Alphen interessierte sich vor allem dafür, wie die niederländische Organisation COC, 1946 gegründet und die älteste existierende LGBT+-Organisation überhaupt, mit dem Thema Bisexualität umging.21
Ursprünglich stand COC für Cultuur en Ontspanningscentrum, übersetzt ungefähr Kultur- und Freizeitzentrum; unter diesem Namen konnte sich die Organisation diskret für die Rechte von Menschen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen einsetzen. Es ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie queere Organisationen und Netzwerke seit Langem im Verborgenen operierten. Auch heute noch kämpft das COC für die Rechte queerer Menschen weltweit.
In der Anfangszeit konzentrierte sich die Organisation darauf, Homosexualität als etwas Normales und Natürliches darzustellen, und Bisexualität war in diesem Rahmen eine weitere normale Variante. Bisexualität wurde dadurch sichtbarer, löste jedoch auch Kontroversen aus. Van Alphen zufolge beschuldigten queere Aktivisten Bisexuelle, sie »wollten beides haben, den Rahm und die Butter — mit anderen Worten tagsüber heterosexuell und am Abend homosexuell sein«.22 Bisexuelle Menschen wurden der sexuellen Camouflage (ein Begriff des Bisexualitätsforschers Samuel Lawton) beschuldigt und mussten sich vorwerfen lassen, sowohl homosexuelle als auch heterosexuelle Räume für sich zu vereinnahmen. In den ausgehenden Sechzigerjahren wurde der Begriff Camouflage abermals umgedeutet; wer in vermeintlich heterosexuellen Beziehungen, insbesondere Ehen, lebte, dessen Lebensform wurde nicht mehr als bisexuelle Camouflage wahrgenommen, sondern als bemitleidenswerte Gefangenschaft in der Ehe. Diese gewandelte Sicht wird als eine Form des strategischen Essenzialismus bezeichnet. Sie beruht auf der Annahme, Bisexuelle seien in Wahrheit homosexuell, was sich als nützliche politische Strategie erwies.
Mit politischer Strategie allein lässt sich der auffällige Schwund an Bisexuellen (Bi-Löschung oder bi-erasure) innerhalb mancher LGBT+-Organisationen zu dieser Zeit allerdings nicht ausreichend erklären. So entstanden beispielsweise nach den Stonewall-Aufständen 1969 in New York verschiedene Gay Liberation Front-Organisationen, die im historischen Kontext als explizit inklusiv beschrieben werden. Das stimmt auch mit der Selbstdarstellung dieser Organisationen überein, die sich ihrer Regenbogen-Philosophie rühmten. Die britische Historikerin Martha Robinson Rhodes hat über die Rolle der Bisexualität innerhalb der Homosexuellen-Befreiungsbewegung im Vereinigten Königreich während der Siebzigerjahre berichtet und kritisiert Historiker*innen, die der lauten, aufregenden Gay Liberation Front insbesondere im Vergleich zu Bisexuellen zu viel Aufmerksamkeit widmen.23 Gerade hinsichtlich Bisexueller werde die Gay Liberation Front ihrem Regenbogen-Image nicht gerecht. Robinson Rhodes argumentiert, dass die Politik der Gay Liberation Front »auf der binären Unterscheidung zwischen ›homosexuell‹ und ›hetero‹ beruhte und die Anziehung zu andersgeschlechtlichen automatisch mit reaktionärer Politik gleichsetzte«. Bisexualität wurde daher »oft mit Heterosexualität und entsprechenden ›hetero Einstellungen‹ in einen Topf geworfen und abgelehnt«. In der Folge drängte man Bisexuelle aus diesen Organisationen, denn sie galten als diejenigen, die mit dem Erzfeind ins Bett gingen.
Wie entstand die Vorstellung, dass Bisexuelle zum Teil heterosexuell sind? Zwei Jahrzehnte zuvor hatte Kinsey seine berühmte Skala veröffentlicht und damit zu dieser Vorstellung beigetragen. Dass die Testteilnehmer*innen aufgefordert wurden, eine Zahl zwischen »0 = ausschließlich heterosexuell« und »6 = ausschließlich homosexuell« zu wählen, beeinflusste die Art, wie Forscher*innen und auch queere Menschen selbst über Sexualität sprachen.24 Vermutlich hatte Kinsey nicht bedacht, dass seine Skala als politisches Instrument gegen Menschen eingesetzt werden könnte, die sich in der Mitte der Skala bewegten. Genau das geschah jedoch. Laut Robinson Rhodes führte gerade die Kinsey-Skala dazu, dass bisexuelle Menschen ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten: »Da Bisexualität nun als ›teilweise heterosexuell‹ betrachtet wurde, ließ sie sich auch mit den Problemen in Verbindung bringen, die von der Homosexuellen-Befreiungsbewegung mit Heterosexualität verknüpft wurden.«25 Konzepte von Sexualität existieren nie im luftleeren Raum, und Forscher*innen können nicht wissen, wie ihre Ideen eines Tages ausgelegt werden.
Auch wenn Bisexuelle in queeren Räumen nicht immer wohlgelitten waren, haben zentraleuropäische Länder, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten zwischen den Vierziger- und den frühen Achtzigerjahren dennoch große Fortschritte in der Frage der Rechte von Homosexuellen erzielt. Mitte der Achtzigerjahre traf die queere Community jedoch ein unvorhergesehener, heftiger und verheerender Schlag: AIDS.
Ich wurde 1987 geboren, und obwohl ich mich dunkel erinnere, welche Panik AIDS damals auslöste, war die Erkrankung kein Todesurteil mehr, als ich ins Teenageralter kam. Bis vor Kurzem wusste ich nicht einmal, wie radikal das Virus queere Communitys dezimierte und welche tiefen emotionalen Narben es hinterließ. Ein Freund, ein Schwarzer schwuler Mann um die sechzig, sagte kürzlich zu mir, als wir über sein Leben während der AIDS-Krise sprachen: »Ich habe ganze Adressbücher voll mit Namen von Freunden, die damals gestorben sind.« Er sagte das ganz sachlich. Ich werde jedes Mal traurig, wenn ich an dieses Gespräch denke, wie ungerecht und tragisch es war.
Wenn ich heute homosexuelle Menschen treffe, insbesondere Männer, die in den Achtzigerjahren Teenager oder Erwachsene waren, empfinde ich Respekt. Wahrscheinlich haben andere ein ähnliches Gefühl, wenn sie mit Kriegsveteranen zusammenkommen. Viele unserer queeren Älteren haben um ihr Leben gekämpft und für unsere Rechte. Und nur ein paar von ihnen haben überlebt und können davon berichten.
Weil mir das Ausmaß der AIDS-Epidemie erst seit Kurzem bewusst ist, habe ich vorher auch nie über die Beziehung zwischen AIDS und Bisexualität nachgedacht. Was ich inzwischen erfahren habe, lässt vieles in einem neuen Licht erscheinen — unter anderem auch, wie das Virus die Mitglieder der Bi-Community spaltete, insbesondere entlang der Geschlechtergrenzen.
Mit dem Ausbruch der AIDS-Epidemie wurden (und werden) bisexuelle Männer als AIDS-Treiber und Überträger stigmatisiert.26 Die Angst ging um, dass bisexuelle Männer sich in der hemmungslosen homosexuellen Welt anstecken und das Virus in die anständige heterosexuelle Welt einschleppen könnten. Bi-Männer galten plötzlich als bedrohliches Brückenglied zwischen dem Schmutzigen und dem Sauberen, dem Bösen und dem Guten, den Schwulen und den Heteros. Bi-Männer wurden überall als Bedrohung für Heterosexuelle wahrgenommen.
Für viele Männer, und insbesondere für Schwarze bisexuelle Männer, verstärkte AIDS die ohnehin bestehende Diskriminierung und das Stigma. Es führte dazu, dass diese Gruppen sowohl von heterosexuellen als auch von homosexuellen Gemeinschaften ausgeschlossen wurden.27 Die moralische Panik, die AIDS auslöste, und der fortbestehende Kampf um gleiche Rechte bewirkte bei vielen — oder machte es besser gesagt notwendig —, dass sie sich noch enger an die queere Gemeinschaft angeschlossen haben.
Bisexuelle Frauen machten dagegen völlig andere Erfahrungen. Die Sterblichkeitsrate unter Frauen war deutlich geringer, und während die Communitys bisexuellen Männern Trost während der gemeinsam durchlebten Tragödie boten, war das in weiblichen queeren Räumen nicht der Fall. Stattdessen vollzog sich in dieser Zeit eine ausschließlich Frauen betreffende Veränderung: Eine neue Variante des Feminismus kam auf und hatte zur Folge, dass bisexuelle Frauen in den Achtzigerjahren als Bedrohung der feministischen Sache wahrgenommen und in vielen lesbischen Umfeldern ausgegrenzt wurden.28 Die Soziologieprofessorin Sharon Stone argumentiert, dass dieses Denken auf dem Vorurteil fußte, bisexuelle Frauen seien »unentschlossen und aufgrund ihrer Verbindung zu Männern nicht vertrauenswürdig«.29 Auch hier wieder dasselbe Muster: Bisexuelle gehen mit dem Erzfeind ins Bett. In diesem Fall war der Erzfeind nicht heterosexuell, sondern ein Mann.
Erneut waren Bisexuelle die gesellschaftlichen Verlierer*innen, diesmal allerdings nicht im Kampf um die Rechte der Homosexuellen, sondern im Kampf um die Frauenrechte. Dieser Wandel hin zu einer stärker ausgrenzenden Politik fiel mit der erhöhten Sichtbarkeit bisexueller Frauen zusammen. Während mehr und mehr Menschen (auch Frauen, die sich vorher als ausschließlich lesbisch identifiziert hatten) sich nun als Bisexuelle bezeichneten, schlossen die lesbischen Communitys ihre Reihen.30 Bisexuelle wurden zunehmend stigmatisiert und mussten sich den Vorwurf anhören, sie seien nur auf der Suche nach sexuellen Experimenten. Bisexuelle Frauen wurden bestenfalls als gescheiterte Lesben und schlimmstenfalls als Sexmonster gesehen.
Keine Angst, niemand will hier im Selbstmitleid schwelgen. Bisexuelle waren zwar in Bezug auf wichtige Fragen und wichtige Organisationen von Diskriminierung und Exklusion betroffen, doch das bedeutet nicht, dass es für Bisexuelle keinen Platz in queeren Gemeinschaften gegeben hätte. Bisexuelle wie Brenda Howard haben sich immer als Teil der queeren Organisationen gesehen und wurden auch als solche gewürdigt. Nichtsdestotrotz landen Bisexuelle häufig am Spielfeldrand. Für viele war das eine schlimme Erfahrung und hat zu ihrem Eindruck geführt — meiner Ansicht nach bis heute —, dass sowohl das queere Umfeld als auch queere Events nicht ausdrücklich für Bisexuelle bestimmt sind.
Diese Botschaft haben Bisexuelle in den Achtzigern offenbar ebenfalls vernommen, und sie hat dazu geführt, dass Bisexuelle und ganz besonders Frauen sich ihre eigenen Räume schufen. Deshalb entstanden in diesem Zeitraum die ersten Bi-Organisationen und Konferenzen, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Vor Beginn der AIDS-Krise hatte es als einzigen bi-spezifischen Raum nur das San Francisco Bisexual Centre gegeben, das 1976 eröffnet wurde und bereits 1984 wieder schließen musste, weil viele der freiwilligen Helfer an den Folgen von AIDS verstarben und die Geldmittel ausblieben.31
Als man feststellte, dass bisexuelle Menschen starben und im Kampf gegen die »Schwulenkrankheit« AIDS übersehen und stigmatisiert wurden, formierte sich 1983 BIPOL, die erste amerikanische bisexuelle Aktionsgruppe, die sich für Bisexuelle einsetzte. Kurz darauf entstanden weitere Organisationen, die unermüdlich daran arbeiteten, Bi-Menschen über AIDS aufzuklären und sichere Räume für Bisexuelle zu schaffen. Eine davon war das Bay Area Bisexual Network (heute Bay Area Bi+ und Pan Network), das seit den Achtzigerjahren und bis heute einen bedeutenden Beitrag zur Unterstützung und Aufklärung über bisexuelle Themen geleistet hat. Die Organisation gibt ein Magazin für die Bi-Community mit dem ironischen Namen Anything that moves heraus, und in der 1991 erschienenen Erstausgabe schrieb die damalige Gründerin und Chefredakteurin Karla Rossi in ihrem Leitartikel:
»Hört auf, uns für die Ausbreitung von AIDS verantwortlich zu machen, wenn ihr euch zugleich weigert, auf unsere Bitten zu hören, dass Bisexuelle unbedingt bei der Finanzierung von AIDS-Programmen, Aufklärungs- und Präventionsmaßnahmen mit berücksichtigt werden müssen. [...] Tausende von Bisexuellen sind an AIDS gestorben und noch viele weitere Tausende daran erkrankt. Bisexuelle Männer gelten als Hochrisikogruppe … und bisexuelle Frauen werden vollständig ignoriert.«32
Die Enttäuschung und Wut sind deutlich spürbar. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits fruchtlose Jahre des Kampfes vergangen, des vergeblichen Versuchs, sich Gehör zu verschaffen und Leben zu retten. HIV/AIDS sollte noch ein weiteres Jahrzehnt lang ein wichtiges Thema in der Bi-Community bleiben, und Nachrufe auf Aktivisten und Mitglieder der Community bildeten einen ebenso tragischen wie regelmäßigen Bestandteil des Magazins Anything that moves.
So bildeten sich in den Vereinigten Staaten bereits in den Siebzigerjahren in New York, Chicago und San Francisco Gruppen, die auch für Bi-Rechte eintraten, vor allem jedoch für die sexuelle Befreiung kämpften. Gruppen, die sich in den Achtzigerjahren formierten, setzten sich hauptsächlich für die Ermächtigung von Frauen ein. Dazu gehörten etwa die 1982 gegründete BiVocals women’s support Group in den Vereinigten Staaten,33 The Boston Bisexual Women’s Network, 1983 entstanden, The Boston Bisexual Men’s Network und das East Coast Bisexual Men’s Network in Boston, beide 1985 gegründet.34 In Europa entstand 1992 BiNe; die Organisation entwickelte sich aus einer Reihe bisexueller Unterstützungsgruppen und Bi-Meetings, die ab 1988 in Deutschland stattfanden.35 Zu den ältesten bisexuellen Organisationen im Vereinigten Königreich gehört das 1984 entstandene London Bisexual Network, bis zum heutigen Tag Gastgeber einer der beständigsten bisexuellen Veranstaltungen, dem BiCon.36 Für Neuzugänge in der bisexuellen Gemeinschaft ist es vielleicht eine echte Überraschung, dass solche Organisationen bereits seit Jahrzehnten existieren.
Die Gründung dieser Organisationen schuf gute Voraussetzungen dafür, dass in den Achtziger- und Neunzigerjahren viele bisexuelle Communitys entstanden, aber sie wuchsen nur langsam, und viele davon, die ehrenamtlich geleitet wurden, lösten sich bald wieder auf. Dennoch bietet das 21. Jahrhundert Grund genug zu feiern in puncto bisexuellen Aktivismus und Sichtbarkeit: mehr bisexuelle Räume, mehr wissenschaftliche Publikationen zum Thema Bisexualität und größere Bi-Sichtbarkeit unter Akademiker*innen und Prominenten. In den vergangenen Jahren hat die bisexuelle Politik eindeutig von der Debatte über transsexuelle und nicht-binäre Personen profitiert, die dazu beigetragen hat, den Begriff Gender auf eine der Bisexualität entsprechende Art und Weise zu destabilisieren. Letztlich unterläuft Bisexualität ja auch das Gendern der sexuellen Wahl. Die Schattenexistenz der Bisexualität ist jedoch noch nicht beendet, und wir sollten das historische Muster nicht vergessen, charakterisiert durch ein »Auf und Ab der Bisexualität als Fokus des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interesses«.37
Bisexuelle Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen sind keine Bedrohung für die queere Geschichte oder Politik, sondern gehören dazu. Historiker*innen sollten bisexuelle Biografien identifizieren oder zumindest offen für diese Möglichkeit sein, statt homosexuelle Neigungen in der Geschichte sofort als eindeutig schwul oder lesbisch zu interpretieren. In historischen Texten vor der Bezeichnung bisexuell zurückzuscheuen ist ein inhärent biphobisches Vorgehen, das bisexuelle Menschen ihrer eigenen Geschichte entfremdet.
Erst wenn wir die Rolle der Bisexualität identifizieren, verstehen und sie anerkennen, können wir die wunderbare Vielfalt der menschlichen Sexualität im Lauf der Jahrhunderte wirklich begreifen.