3

Nur Säugetiere

Was waren die ersten Anzeichen Ihrer eigenen Sexualität?

Was mich betrifft, ist dieser Moment mit meiner Kindheit und dem Spiel Vater-Mutter-Kind verknüpft. Ein erster Hinweis auf meine Queerness war vielleicht nicht nur, dass ich häufig den Vater spielen wollte, sondern auch, dass mir die Vorstellung, ein gemeinsames Kind mit einem anderen Mädchen zu haben, überhaupt kein Problem bereitete.

Eine Erinnerung ist besonders deutlich. Ich bin mit einer meiner Freundinnen zusammen und ungefähr sieben Jahre alt. Wir liegen auf einer Matratze auf dem Dachboden, unter der niedrigen Dachschräge. Wir liegen »Löffelchen« und kuscheln uns eng aneinander. Alles ist völlig unschuldig, aber ich weiß noch genau, wie ihr Haar duftete und ich dachte, das ist schön, so ist es genau richtig. Natürlich ist mir klar, wie unzuverlässig unser Gedächtnis sein kann und dass sich im Rückblick vieles verzerrt, aber dennoch fühlt sich dieser Augenblick wie meine erste bisexuelle Erinnerung an. Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass ich eine Familie haben kann, die nicht unbedingt aus einem Jungen und einem Mädchen bestehen muss, und sich jeder sein eigenes Haus bauen kann.

Diese Erinnerung wirft eine Reihe von Fragen auf. Hatte ich die Veranlagung schon, bevor ich zu spielen begann, oder haben positive frühe Kindheitserfahrungen dazu geführt, dass ich bisexuell wurde? Anders ausgedrückt: Wurde ich bisexuell geboren, oder hat mein Umfeld mich dazu gemacht? Oder vielleicht ein bisschen von beidem?

In akademischer Hinsicht greift diese Frage eine seit Langem geführte Debatte zwischen Essenzialist*innen und sozialen Konstruktivist*innen auf. Nach Überzeugung der Essenzialist*innen ist die Sexualität jedes Menschen von Anfang an in ihm verortet und nichts, was im Laufe seines Lebens entsteht. Mit Essenzialismus verbindet sich häufig die Vorstellung, dass Menschen bereits queer zur Welt kommen, ihre Sexualität ein für alle Mal feststeht und es so etwas wie ein wahres authentisches sexuelles Selbst gibt. Soziale Konstruktivist*innen hingegen gehen davon aus, dass unsere Sexualität erst in der Interaktion mit der Welt um uns herum entsteht. Ihrer Ansicht nach wird die Art und Weise, in der wir die Welt wahrnehmen, empfinden und uns sexuell verhalten, in erster Linie durch unser soziales Umfeld beeinflusst. Die Sexualitätstheorien der sozialen Konstruktivist*innen weisen sexuellen Erfahrungen, sexuellen Identitätsbezeichnungen und der Erziehung eine besondere Bedeutung dabei zu, wie Menschen ihr sexuelles Leben gestalten und bezeichnen. Diese konträren Vorstellungen führen häufig zu Streit zwischen Biologie und Genetik (Essenzialismus) und Soziologie und Psychologie (sozialer Konstruktivismus). In diesem Kapitel geht es vor allem um den Essenzialismus. Und was könnte hier ein besserer Auftakt sein als die Frage, ob die Vorstellung, wir seien »so geboren«, überhaupt sinnvoll ist?

Dean Hamer kann auf eine eindrucksvolle Reihe von Errungenschaften verweisen. Er hat ein Medizinstudium in Harvard absolviert, ist ein berühmter Genetiker, und die New York Times hat Das Gottes-Gen zum Buch des Jahres gekürt. Damit nicht genug, hat er einen Emmy für den Dokumentarfilm Out in the Silence gewonnen. Der Film schildert Hamers Ehe mit einem Mann und die sich daraus ergebenden Kontroversen in der Kleinstadt, in der sie leben. In den frühen Neunzigerjahren untersuchte Hamer schwule Männer mit der sogenannten Stammbaum-Analyse.

Die Stammbaum-Analyse untersucht in der Regel die Mitglieder einer Familie, die ein bestimmtes genetisches Merkmal aufweisen, und deren Verwandtschaftsbeziehung. Daraus lässt sich wiederum ableiten, ob etwas wahrscheinlich vererbbar ist, und somit auch, ob es wahrscheinlich genetisch bedingt ist. Laut Analyse hatten schwule Männer in Forschungsstudien mehr schwule männliche Verwandte auf der mütterlichen als auf der väterlichen Seite ihrer Familie. Hamer zufolge »ist dies die erwartete Eigenschaft eines Merkmals, das von einem Gen auf dem X-Chromosom beeinflusst wird und das Männer nur von ihren Müttern erben«.1 Die Forscher*innen hielten also Ausschau nach einem genetischen Muster und untersuchten die DNA von 40 Familien, in denen es jeweils zwei schwule männliche Geschwister gab.

In ihrem Bericht über die Ergebnisse behaupteten Hamer und sein Team bei 64 Prozent der schwulen männlichen Geschwister eine Wechselwirkung zwischen Homosexualität und bestimmten genetischen Variationen des X-Chromosoms festgestellt zu haben. Stolz erhoben die Forscher*innen den Anspruch, sie hätten Beweise für ein »Schwulen-Gen« gefunden, und gaben diesem Gen einen Namen, der lediglich bei Science-Fiction-Fans und Genetikern Begeisterung auslöste: Xq28. Hamer erinnert sich noch an den Tag, als der Artikel im Jahr 1993 in der renommierten Zeitschrift Science veröffentlicht wurde.2 »Das Telefon klingelte ununterbrochen, ständig riefen Journalist*innen an. Vor dem Labor drängten sich Leute vom Fernsehen mit Kameras, und unsere Briefkästen und E-Mail-Accounts quollen über … Selten zuvor haben so viele Menschen so heftig auf so wenig reagiert.«3 Vielen Menschen, mich eingeschlossen, hat die Idee eines schwulen Gens den Weg geebnet, sich auf die Hinterbeine zu stellen, ’cause I was born this way, wie es in Lady Gagas Queer-Hymne heißt.

Zwei Jahre später, 1995, untersuchte Hamer mit einem neuen Team weibliche Genvarianten, ohne einen belastbaren Nachweis für ein entsprechendes »Lesben-Gen« zu finden.4 Vielleicht, argumentierte er, sei das Gen nur für Männer relevant. Doch als ein anderes Forscher*innenteam im Jahr 1999 Hamers Untersuchungsergebnisse nicht wiederholen konnte, geriet die Xq28-Hypothese zunehmend unter Beschuss. Hamer ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. In einem Aufsatz von 1999 suchte er die Erkenntnisse seiner Kolleg*innen zu widerlegen und stieg mit folgendem Satz ein: »Sexuelle Orientierung ist ein komplexes Merkmal und wird wahrscheinlich von verschiedenen Faktoren geprägt, darunter multiple Gene, biologische, umweltbedingte und soziokulturelle Einflüsse.« Welche Beziehung zwischen diesen Faktoren genau besteht und ob es überhaupt sinnvoll ist, nach einem einzigen »Schwulen-Gen« zu suchen, blieb also eine wichtige Frage.

Hamers Suche nach dem Schwulen-Gen ist nichts wesentlich anderes als das, was die Sexualitätsforschung schon hundert Jahre zuvor versucht hat. Wurden die Untersuchungen genutzt, um für die Rechte Schwuler und deren Entstigmatisierung zu kämpfen? Manchmal. Wer überzeugt war, dass unsere Sexualität biologisch verankert sei, argumentierte, dies könne zu Sympathie für und Entstigmatisierung von Homosexuellen führen, würde homosexuelle Handlungen entkriminalisieren und »Behandlungen« zur Heilung von homosexuellen Neigungen obsolet machen. Zugleich ließen sich aufgrund dieser Vorstellung auch Hass und Diskriminierung mit wissenschaftlichen Begriffen rechtfertigen, indem queere Menschen als biologisch minderwertig, als Rückschritt der menschlichen Evolution oder Opfer einer unerwünschten Mutation angesehen wurden. Bestimmte Gruppen machten sich diese Ideen zunutze, unter anderem auch die Nationalsozialisten, denen essenzialistische biologische Vorstellungen von Homosexualität einen Vorwand lieferten, schwule Männer zu inhaftieren und zu ermorden. Bis heute werden biologische Vorstellungen von Homosexualität sowohl zur Unterdrückung queerer Menschen als auch zum Kampf für ihren Schutz und ihre Rechte eingesetzt, wie wir in Kapitel 6 sehen werden.

Nachdem die Idee eines Schwulen-Gens bereits in der Vergangenheit zu Unmut geführt hatte, kehrte sich im August 2019 dasselbe wissenschaftliche Feld, das uns das »Schwulen-Gen« beschert hatte, wieder von ihm ab.5 Genau das gefällt mir so gut an der Wissenschaft: Sie korrigiert sich selbst. Hält eine Hypothese im Lauf der Zeit den Prüfungen nicht stand, wird sie in der Regel verworfen. Grund dafür können neue Technologien oder optimierte Forschungsmethoden sein, und das war teilweise auch hier der Fall. Zwischen 1995 und 2019 wurden in der Genetik mittels breit angelegter DNA-Forschungen enorme Fortschritte erzielt. In der Studie aus dem Jahr 2019 wurden Genome von Probanden aus den USA, dem Vereinigten Königreich und Schweden untersucht. Fast eine halbe Million Menschen erklärten sich zur Teilnahme bereit und übermittelten im Vorfeld ihre DNA an fünf genetische Datenbanken, darunter auch das bekannte verbraucherorientierte Genetik-Unternehmen 23andME.

Auf der Webseite, die sie selbst eingerichtet haben, um der breiten Öffentlichkeit ihren Ansatz darzulegen, schreiben die Forscher*innen:

»In dieser Studie untersuchen wir ›gleichgeschlechtliches Sexualverhalten‹, welches das Sexualverhalten von Menschen bezeichnet, die in ihrem Leben schon einmal Sex mit einer Person des gleichen Geschlechts gehabt haben. ›Gleichgeschlechtliches Sexualverhalten‹ steht in Verbindung mit sexueller Orientierung und Identität, ist jedoch nicht dasselbe. Teilnehmer*innen unserer Studie zeigten möglicherweise ›gleichgeschlechtliches Sexualverhalten‹ und hatten dafür wohl eine Reihe von Identitäten und persönlichen Gründen. Viele Teilnehmer*innen unserer Studie sind schwule oder lesbische Personen, aber möglicherweise auch Personen, die sich als bisexuell, pansexuell, heterosexuell oder eine von vielen anderen Identitäten identifizieren.«6

Die Forscher*innen baten die Probanden außerdem, den Anteil der gleichgeschlechtlichen Sexualpartner*innen im Verhältnis zum Anteil der sexuellen Partner*innen insgesamt festzuhalten. Anhand dieser Information fanden sie keinen Nachweis eines einzelnen Gens als Prädiktor einer bestimmten Sexualität.

In ihrer Studie ermittelten sie jedoch eine partielle Erklärung für 8 bis 25 Prozent des gleichgeschlechtlichen Verhaltens. Sie fanden fünf genetische, mit dem Sexualverhalten in Zusammenhang stehende Marker, die sogenannten SNPs (Single nucleotide polymorphisms). Dem Forscher*innenteam zufolge »steht einer der von uns identifizierten Marker mit der Glatzenbildung in Verbindung, was darauf hindeutet, dass die Regulierung der Sexualhormone an der Biologie des gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens beteiligt sein könnte. Ein anderer Marker hängt mit unserem Geruchssinn zusammen. Das ist interessant, denn obgleich wir wissen, dass Gerüche eine wichtige Rolle bei der sexuellen Anziehung spielen, verstehen wir noch nicht, inwiefern dies mit dem Sexualverhalten in Verbindung stehen könnte.« Die Studie zeigte auch, dass Gene, die mit dem gleichgeschlechtlichen Sexualverhalten zusammenhängen, sich zum Teil mit Genen für verschiedene andere Eigenschaften überschneiden, darunter etwa Offenheit für neue Erfahrungen und Risikobereitschaft. Obwohl diese Marker mit Queerness korrelieren können, ist es nicht möglich, jemanden allein durch den Blick auf sein genetisches Profil als queer zu identifizieren. Wahrscheinlich machen die Autor*innen auch aus diesem Grund deutlich, dass sie zwar die Genetik untersucht haben, zugleich aber auch nicht-genetische Faktoren wie Kultur, Gesellschaft, Familie und individuelle Erfahrung eine wichtige Rolle spielen.

Gerade die Komplexität dieser genetischen Untersuchungsergebnisse veranlasste die Forscher*innen dazu, die Gültigkeit einzelner Kontinuums-Messungen anzuzweifeln, wie sie etwa in der Kinsey-Skala angewendet werden. »Die Befunde legen nahe, dass wir zu stark vereinfachen, wenn wir annehmen, dass jemand, je mehr er sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlt, sich desto weniger vom anderen Geschlecht angezogen fühlt.« Mit anderen Worten: Wenn sich eine Person sehr von Männern angezogen fühlt, schließt das nicht aus, dass sie sich ebenso sehr zu Frauen hingezogen fühlt. Und das bedeutet letztlich auch, dass es für viele wenig Sinn ergibt, ihre sexuellen Wünsche prozentual aufzuteilen, etwa zu sagen, sie würden sich, wenn sie bisher 3 männliche und 7 weibliche Partner*innen hatten, zu 30 Prozent von Männern und zu 70 Prozent von Frauen angezogen fühlen. Diese Zahlen beruhen ja nur darauf, wen sie bisher getroffen haben, oder auf anderen Faktoren. In Wirklichkeit könnten sie sich gleichermaßen zu multiplen Genderidentitäten hingezogen fühlen.

Erinnern Sie sich noch an meine Bemerkung, mir gefiele an der Wissenschaft am besten deren Fähigkeit zur Selbstkorrektur? In diesem Sinne ist es auch für alle Menschen — einschließlich Wissenschaftler*innen — wichtig, unsere Meinung zu ändern, wenn wir neue faktenbezogene Erkenntnisse gewinnen oder unsere Expertise zunimmt. Ein Abschnitt meines Buches Böse. Die Psychologie unserer Abgründe beschäftigt sich mit LGBT+-Rechten, und ich habe mich bei der Gelegenheit als bi geoutet. Ich schrieb auch: »Homosexualität ist genetisch angelegt … Menschen werden schwul oder lesbisch geboren.« Aufgrund der neuen Studie aus dem Jahr 2019 lässt sich diese Behauptung nicht länger aufrechterhalten, und ich nehme sie zurück. Wenn ich wieder einmal Lady Gagas Born this way höre, schmettere ich wahrscheinlich immer noch lautstark mit, allerdings dann leicht abgewandelt: »I’m on the right track, baby, I was 8 to 25% born this waaay.«

Offenkundig liefert die Genetik keine grundsätzlichen Erklärungen für unsere gleichgeschlechtlichen Neigungen, aber vielleicht sind noch andere evolutionäre Kräfte im Spiel. Finden sich im Verhalten von Tieren möglicherweise Hinweise darauf, warum Bisexualität existiert?

Diskussionen darüber, ob queere Sexualitäten womöglich erblich sind, haben recht bizarre Wendungen genommen, und grundlegende evolutionäre Argumente beziehen sich häufig auf Tiere. Ende 2019 hielt die britische Parlamentsabgeordnete Dawn Butler eine Rede bei einer LGBT+-Preisverleihung. Ziemlich unbeschwert erklärte Butler, dass Menschen zwar der Meinung seien, man könne Kindern »beibringen, homosexuell zu sein«, dies jedoch zugleich bei Tieren für ausgeschlossen hielten. Wörtlich sagte sie:

»Sie sprechen davon, man könne Menschen oder Kindern beibringen, homosexuell zu sein. Sie wollen nicht, dass man Menschen beibringt, homosexuell zu sein. Mich würde dabei eines interessieren: Wenn sich ›Homosexuell-sein‹ — ich weiß nicht mal, ob das überhaupt als Wort existiert — tatsächlich beibringen ließe, wer spricht dann Giraffe? Denn 90 Prozent der Giraffen sind homosexuell. … Falls man es also tatsächlich lehren kann, wer zum Teufel spricht dann die Giraffensprache? … Akzeptieren wir Menschen doch einfach so, wie sie sind, seien wir unser eigenes, authentisches Selbst. Es ist keine Krankheit, zu sein, wer man ist.«7

Butlers Rede löste den sogenannten »großen schwulen Giraffen-Streit«8 aus, wie er später bezeichnet wurde, eine bizarre Reihe von Kommentaren, die Politiker*innen und andere in Bezug auf homosexuelles Verhalten abgaben. Dass 90 Prozent der Giraffen homosexuell sein sollen, beruht wahrscheinlich auf einer Behauptung des kanadischen Biologen Bruce Bagemihl und stammt aus seinem 1999 veröffentlichten Buch Biological Exuberance: Animal Homosexuality and Natural Diversity.9 Das Buch lieferte Beweise, dass »polysexuelles« Verhalten bei Tieren die Regel ist, und behauptete, es lasse sich bei mehr als 450 Arten von Säugetieren, Vögeln, Reptilien, Insekten und anderen Tieren nachweisen. Für Menschen bedeutet der Begriff polysexuell, sich zu mehr als einem Gender hingezogen zu fühlen, und wird unter dem Oberbegriff bisexuell verortet. Bei Tieren bezieht er sich auf sexuelles Verhalten gegenüber mehr als einem Geschlecht.

In Bezug auf Giraffen in Tansania erklärt Bagemihl in seinem Buch, dass »94 Prozent ihrer Paarungsaktivitäten gleichgeschlechtlich waren«. Die Zahl wurde aus den Ergebnissen einer Studie ermittelt, die »17 homosexuelle Paarungen und 1 heterosexuelle Paarung« in einem Jahr beobachtet hatte. Auf Grundlage dieser Ergebnisse den Schluss zu ziehen, 94 Prozent aller Giraffen seien homosexuell, ist nicht korrekt. Im Buch lässt Bagemihl die Frage offen — »Spiegelt dies den tatsächlichen Anteil homosexueller Aktivitäten bei Giraffen wider?« — und hebelt seine eigene These aus, indem er schreibt, dass innerhalb dieser Zeit 20 Kälber geboren wurden, was eindeutig dafürspricht, dass eine ganze Menge Paarungen stattgefunden haben müssen, die den Wissenschaftler*innen entgangen sind. Aber dann haben sie wahrscheinlich auch viele homosexuelle Paarungen nicht bemerkt. Statt zu behaupten, dass »90 Prozent der Giraffen homosexuell sind«, wäre es zutreffender, sich an Bagemihls Formulierung zu halten, die da lautet: »Polysexuelles Verhalten bei Giraffen wurde wiederholt beobachtet.«

Ein anderer Kritiker dieser 90-Prozent-Statistik im großen Giraffen-Streit ist der britische Politikberater Lachlan Stuart. Er twitterte, Giraffen seien »seine Lieblingstiere«, und erklärte, worauf sich Butler beziehe, sei kein »homosexuelles Verhalten«, denn es gebe »keine Romantik. Kein Umwerben. Keine Zuneigung. Keine Paarbindung.«10 Er behauptete, Butlers Behauptung sei homophob, denn das Verhalten der Giraffen sei schlicht Dominanzgebaren und habe nichts mit homosexuellem menschlichen Verhalten zu tun.

Die Vorstellung, gleichgeschlechtliches Verhalten bei Tieren und besonders bei Männchen sei lediglich als Zeichen von Dominanz zu verstehen, ist weit verbreitet. Wenn ich mit dem flauschigen Sheltie-Rüden meiner Mutter unterwegs bin und ein anderer Rüde ihn im Park besteigt, behaupten die Leute ohne zu zögern, dass der andere Hund ihn zu dominieren versuche. Ich räume ein, dass viele Tiere, Menschen eingeschlossen, Sex und sexuelles Verhalten durchaus instrumentalisieren, beispielsweise als Mittel, um etwas vom anderen zu bekommen, oder zur Einschüchterung. Davon auszugehen, dies sei immer der Fall, halte ich jedoch für vermessen.

Untersuchen wir diese Idee einmal anhand unserer Giraffen: Ist homosexuelles Besteigen zwischen Giraffenmännchen ausschließlich ein Akt der Dominanz? Der Leiter des Giraffenreservats Giraffe Conservation Foundation, einer namibischen Stiftung, hat sich ebenfalls zum Giraffen-Streit im Vereinigten Königreich geäußert und meinte, Giraffen seien weder homosexuell noch polysexuell, sondern: »tun manchmal nur so, als würden sie sich besteigen, was ebenfalls ein Dominanzverhalten ist«.11 In wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Thema findet sich jedoch kein Nachweis für diese Behauptung. So stellt eine Studie über in Gefangenschaft lebende Giraffenmännchen etwa fest: »Jede Giraffe unternahm mindestens einen Paarungsversuch … ein statistischer Zusammenhang zwischen Besteigung und Dominanz ließ sich nicht feststellen.«12 Bei dieser Untersuchung — drei Giraffen wurden über 62 Tage beobachtet — handelte es sich mehr um eine Fallstudie. Eine viel breiter angelegte Untersuchung über das Sozialverhalten von Giraffen in Nord-Tansania beobachtete die Tiere über einen Zeitraum von 3264 Stunden.13 Woher wussten die Forscher*innen eigentlich, dass sie nicht ständig dieselben Tiere beobachteten? Um das zu verhindern, wurde die Fellzeichnung der Giraffen am Hals festgehalten, als die Tiere zum ersten Mal zu sehen waren. Die Fellmusterung ist mit dem menschlichen Fingerabdruck zu vergleichen und jeweils einzigartig. Die Wissenschaftler*innen in diesem Projekt berichteten ebenfalls von homosexuellem Verhalten, jedoch ausschließlich im spielerischen Kontext. Sie schreiben ausdrücklich: »Keine der Verhaltensweisen ließ Rückschlüsse auf Dominanz oder Unterwerfung zu.«

Nicht nur Bagemihl, der Autor von Biological Exuberance, argumentiert, wir müssten die Vorstellung aufgeben, dass homosexuelles Verhalten anderen Tieren stets aufgenötigt werde. Ebenso wenig, wie heterosexuelles Verhalten unter Tieren immer ein Zwangsakt ist, es sei denn, man betrachtet Sexualität bei Tieren als eine finstere Angelegenheit und setzt jede Paarung mit Vergewaltigung gleich. Es gilt für alle Tiere, dass wir niemals mit Sicherheit wissen können, warum sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten, aber es scheint zumindest ratsam, sich dabei auf Beweise zu stützen und nicht auf Annahmen oder gesellschaftliche Tabus.

Warum ziehen Expert*innen so unterschiedliche Schlüsse über dasselbe Verhalten bei Tieren? Einigen Biolog*innen zufolge werden unser Verständnis und unsere Interpretation des Tierverhaltens von unserer heterosexuellen Voreingenommenheit beeinflusst. Für Forscher*innen ist es schwierig, gesellschaftliche Normen und Erwartungen über Bord zu werfen, wenn sie das Verhalten von Tieren beobachten. Viele Menschen, einschließlich der Wissenschaftler*innen, legen das Verhalten zwischen Männchen und Weibchen als sexuell und normal aus. Was nicht in dieses Schema passt, wird als unnatürlich, abweichend, inhärent falsch oder zwanghaft betrachtet oder gar nicht erst wahrgenommen. Wir schreiben es als nicht-sexuelles Verhalten ab, obwohl alle Zeichen dagegensprechen.

Wie lautet nun die Erklärung für gleichgeschlechtliches Verhalten bei Tieren? Laut Bagemihl liegt es am »biologischen Überschwang«, einem Übermaß an sexueller Energie, von dem sie sich auf kreative Weise zu befreien suchen. Das wäre zumindest eine mögliche Erklärung, erinnert mich jedoch an eine immer wieder von homokritischen Biolog*innen aufgestellte Behauptung, dass Tiere nur dann gleichgeschlechtliches Verhalten zeigen, wenn es an geeigneten Partner*innen mangelt. Damit einher geht die Vorstellung, dass gleichgeschlechtliche Partner*innen sozusagen eine Notlösung darstellen, wenn die erste Wahl gerade nicht verfügbar ist.

Die Grundannahme, vertreten von evolutionären Biologen, besteht darin, dass Tiere immer nach heterosexuellem Sex streben, um sich fortzupflanzen. Folge dem biologischen Imperativ der Fortpflanzung und sichere das Überleben deiner Gene. Aber trifft diese Annahme wirklich zu?

Im Jahr 1953 schrieb der damals schon berühmte Alfred Kinsey: »Sexuelle Kontakte zwischen Individuen des gleichen Geschlechts sind bei nahezu allen ausgiebig untersuchten Säugetierarten bekannt.« Seit der Veröffentlichung von Biological Exuberance hat sich die Liste der Arten mit nachweislich homosexuellem Verhalten erweitert, und dazu gehören auch so unterschiedliche Tiere wie der bunte Seeigel, Flughunde, Tintenfische, Strumpfbandnattern, Schneegänse, Jungfernfliegen, Laysanalbatrosse, Feldgrillen und Hausrinder.

Für Evolutionsbiolog*innen ist das ein Dilemma und wird als darwinsches Paradoxon bezeichnet. Wie die Forst- und Umweltwissenschaftlerin an der Yale University Julia Monk und Kolleg*innen zusammenfassen: »Wie kann sich gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten entwickeln und weiterbestehen, wenn es doch nicht zur Fortpflanzung führt und somit die Anpassung des Einzelnen gefährdet beziehungsweise die Auslöschung der Art, falls sich deren Einzelvertreter ausschließlich auf gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten beschränken?«14 Mit anderen Worten: Sind nicht-reproduktive homosexuelle Aktivitäten nicht als Zeit- und Energieverschwendung zu sehen? Und warum sind homosexuelle Neigungen dann nicht längst verschwunden?

Als Studentin fand ich es manchmal richtig krass, welche Verbindungen Evolutionspsycholog*innen zwischen Menschen und anderen Tieren herstellten und wie sie zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, als unsere Vorfahren noch in Höhlen lebten, hin- und hersprangen. In diesen Kursen wurde mir erklärt, dass in den Clans der Frühzeit wohl eine Minderheit mit gleichgeschlechtlichen Neigungen existierte und sich an die Erfordernisse der Gemeinschaft angepasst hatte, weil sie keine Energie für die eigenen Kinder aufwenden musste. Das Argument lautete sozusagen, sie seien nicht-reproduktive helfende Einzelpersonen gewesen. Im gleichen Kurs diskutierten wir auch über den potenziellen Nutzen anderer nicht-reproduktiver Mitglieder einer Gruppe wie etwa Frauen in der Menopause oder Menschen, die keine Kinder bekommen können. Solche Vorteile werden als indirekte Überlebensvorteile bezeichnet — sie tragen zum Überleben der genetischen Verwandten und damit auch zum Bestand der eigenen Familien-Gene bei. Inzwischen halte ich diese Vorstellungen für äußerst problematisch und mindestens teilweise unzutreffend. Ich kritisiere daran vor allem, dass diese evolutionären Argumente um Heterosexualität kreisen.

Julia Monk und ihre Kolleg*innen haben die Grundannahme des darwinschen Paradoxons kritisiert. Ihnen zufolge »setzt es implizit ›heterosexuelles‹ oder ausschließlich andersgeschlechtliches Sexualverhalten bei Tieren voraus, aus dem sich dann gleichgeschlechtliches Sexualverhalten entwickelt habe«. Ihre Forschung beschäftigt sich auch mit ungeprüften Annahmen über Nachteile, Nutzen und Ursprünge des homosexuellen Verhaltens. Sie argumentierten insbesondere, die Annahme, heterosexuelles Verhalten als den ursprünglichen, natürlichen Zustand bei Tieren vorauszusetzen, sei nicht nach strengen Kriterien untersucht worden. Diese Annahme macht es in der Tat nötig, komplizierte Erklärungen und genetische Mechanismen heranzuziehen, um die hohe Prävalenz des homosexuellen Verhaltens bei allen Arten zu begründen.

Die Idee ist nicht ganz neu. Bereits 1953 schrieb Alfred Kinsey über die säugetierähnliche Natur des Menschen und deren Auswirkungen auf unsere Sexualität. Er kritisierte dabei gerade diejenigen, die »angenommen haben, dass die heterosexuellen Reaktionen ein Teil der dem Tier angeborenen ›instinktiven‹ Fähigkeiten sind und alle anderen Formen sexueller Betätigung ›Perversionen‹ der ›normalen Instinkte‹ darstellen«.15 Er schrieb außerdem: »Biologen und Psychologen, die die Doktrin akzeptieren, wonach die einzige natürliche Funktion von Sexualität in der Fortpflanzung besteht, nehmen die Existenz nicht-reproduktiver sexueller Aktivität einfach nicht zur Kenntnis.« Demnach realisierten einige Wissenschaftler*innen bereits in den Fünfzigerjahren, dass durchaus nicht alle sexuellen Kontakte bei Tieren auf Fortpflanzung zurückzuführen sind und dass dieser verengte Blickwinkel — so Kinsey — »eine Verzerrung der Fakten darstellte, die offenbar auf eine vom Menschen geschaffene Philosophie zurückgeht«.

Jahrzehnte später nimmt Julia Monk den Staffelstab wieder auf und kämpft leidenschaftlich gegen Vorurteile in der wissenschaftlichen Forschung. Ihre Arbeit über Homosexualität bei Tieren ist dafür ein herausragendes Beispiel. Monk und ihre Kolleg*innen schlagen vor, die Frage »Warum sollte man sich homosexuell verhalten?« durch die Frage »Warum nicht?« zu ersetzen. Ihrer Ansicht nach besteht die wahrscheinlichste sexuelle Veranlagung tierischer Vorfahren in »einem Sexualverhalten, das alle Geschlechter miteinbezieht«. Dieser Annahme zufolge wäre bisexuelles Verhalten ursprünglich der Normalzustand bei Tieren, und umweltbedingte oder evolutionäre Faktoren hätten zu einer Verminderung dieser Veranlagung geführt. Bevor ich auf die Forschungsergebnisse stieß, habe ich mich immer für einen Sonderfall gehalten, wahrscheinlich eine genetische oder evolutionäre Anomalie. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Unterstützt wird dieser Ansatz durch die Forschung an Lebewesen, die laut Monk und Kollegen »Merkmale aufweisen, die wahrscheinlich denen jener Organismen ähneln, in denen sich das Sexualverhalten herausbildete«.16 Diese Lebewesen sind Stachelhäuter (Echinodermata), eine Familie von Meerestieren, zu der auch Seesterne gehören. Seesterne sind verhaltensmäßig bisexuell. (Nebenbei bemerkt finde ich, Seesterne sollten zum Maskottchen für Queerness werden. Sie verhalten sich homo- und heterosexuell, können sich asexuell fortpflanzen, und während der Großteil der Seesterne entweder männlich oder weiblich ist, können einige Arten auch das Geschlecht wechseln.)

Verhaltensmäßig bisexuell zu sein ist also vielleicht nicht nur ein Zufall, sondern vielmehr die Grundvoraussetzung, der Normalzustand. Statt nach dem evolutionären Nutzen des homosexuellen Verhaltens zu suchen, sollten wir vielmehr danach fragen, wodurch eigentlich ausschließlich heterosexuelles Verhalten gerechtfertigt ist.

Bisexualität erhöht die Wahrscheinlichkeit von sexuellen Paarungen, einschließlich der Paarungen mit Fortpflanzungsmöglichkeiten. Und im Hinblick auf die ursprüngliche Annahme der Evolutionsbiolog*innen, homosexuelles Verhalten habe seinen Preis, insbesondere wenn die Individuen noch Nachkommen produzierten oder ihren genetischen Verwandten im Kampf ums Dasein beistehen, ist der Preis ja nicht besonders hoch, wenn man sich auch homosexuell verhält. Wie die Autor*innen schreiben: »Mehr Sex zu haben muss die Leistungsfähigkeit keineswegs deutlich verringern.« Gerade Arten, bei denen sich die Geschlechter kaum voneinander unterscheiden, könnten bei ausschließlicher Heterosexualität Gefahr laufen, Paarungsgelegenheiten zu verpassen.

Natürlich denken Tiere nicht über ihre Fortpflanzungserfolge nach. Die meisten Tiere verstehen wahrscheinlich ohnehin nicht, dass Sex zu Nachkommen führt. Der Trieb beruht auf einem Instinkt oder ganz einfach der Suche nach Vergnügen. Manchmal wollen wir uns eben nicht fortpflanzen, sondern nur Spaß haben.

Es gibt jedoch ein Tier, das Evolutionsbiolog*innen vor besondere Rätsel stellt — das Schaf.

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Schafsbock auf der Suche nach Liebe, sind aber leider in einem Pferch eingesperrt. Was machen Sie jetzt? Kein Grund zur Verzweiflung, mittlerweile steht eine ganze Reihe von Dating-Apps zu Verfügung und unterstützt Sie bei der Partnersuche. In Australien heißt die App Ram-Select, in Island Ram Registry, und im Vereinigten Königreich verlieh man einer speziell für Rinder entwickelten App den schönen, leicht satirischen Namen Tudder (eine Anspielung auf Tinder und udder, Euter). Ich wäre nicht überrascht, wenn bereits überall auf der Welt technikaffine Landwirt*innen ähnliche Apps entwickelt haben, die bei der Reproduktion helfen. Dank dieser Apps können Bäuer*innen Widder und Mutterschafe einfacher zusammenbringen und widerstandsfähige, profitable Viehbestände züchten. Kommen Sie einfach mit dem passenden Schafsbock vorbei, und schon klingelt die Kasse.

Im Unterschied zu menschlichen Dating-App-Nutzer*innen können Schafe natürlich nicht selbst entscheiden, wer ihre sexy Dating-Partner*innen sein werden. Für Widder, die in der Züchter*innen-Szene als äußerst schüchtern bekannt sind, ist das möglicherweise ein Zusatzhindernis.17 Wenn sich der Widder mit dem Mutterschaf im Pferch befindet, zeigt er häufig keinerlei Interesse an ihm, was zu einem reproduktiven Problem führt. Einigen Schafszüchter*innen zufolge besteht das Problem im Kern darin, dass viele Schafsböcke deshalb kein gesteigertes Interesse an Mutterschafen zeigen, weil sie eigentlich nur für andere Schafsböcke Augen haben.

Der Neurowissenschaftler Simon LeVay stellt fest, dass »Homosexualität im Sinne einer dauerhaften Präferenz für gleichgeschlechtliche Partner bei nicht-menschlichen Tieren höchst selten vorkommt. Tatsächlich gibt es nur eine Art, das Hausschaf, bei dem eine derartige Präferenz regelmäßig beobachtet wird. Rund acht Prozent der Widder entscheiden sich, vor die Wahl zwischen männlichem und weiblichem Schaf gestellt, vorzugsweise für den Schafsbock.«18 Warum schreibt ein Neurowissenschaftler über Hausschafe? Weil die Gehirne der Tiere seziert und untersucht wurden, um die Ursache dieses Verhaltens zu entschlüsseln.

Homosexuelle Schafe kosten Landwirt*innen eine Menge Geld, und entsprechend groß ist der Anreiz, die Tiere zu ent-homosexualisieren. Deswegen gibt es Studien zuhauf über dieses Thema. Soweit ich das sehe, lässt sich die Neigung nicht wegzüchten, schon gar nicht, da die Schafsböcke sich nicht reproduzieren und das Phänomen nur spontan auftritt. Deswegen wurden Neurowissenschaftler*innen auf den Plan gerufen. Sie stellten fest, dass eine Hirnregion namens oSDN (ovine sexually dimorphic nucleus) beim Sexualverhalten des männlichen Schafes eine Rolle spielen könnte.19 Diese Region gilt daher, wie es in einem Artikel über homosexuelle männliche Schafe heißt, als besonders aussichtsreich, um das Verhalten der Böcke zu beeinflussen; bisher zeichnen sich allerdings noch keine Erfolge ab. Darüber hinaus »wurden mehrere Hypothesen vorgestellt, um die gleichgeschlechtliche Orientierung beim männlichen Schaf zu erklären. Dazu gehören Effekte, die der gleichgeschlechtlichen Aufzucht zugeschrieben werden, genetische Ursachen, olfaktorische Komponenten (Geruchsempfindlichkeit) und Unterschiede im Aufbau des Hirns, die durch Sexualhormone im Fötus programmiert werden.«20 Bisher haben wir also nur ein paar Korrelationen, aber noch keine eindeutigen Kausalfaktoren.

Obwohl die Lösung des Problems sehr lukrativ wäre und bereits hoher Forschungsaufwand betrieben wurde, ist es bis jetzt nicht gelungen, die Sexualität der Widder zu verändern. Möglicherweise ist Homosexualität mit etwas verbunden, das wir bereits vor vielen Tausend Jahren in die Schafe hineingezüchtet haben und das inzwischen so tief in sie eingebettet ist, dass wir es nicht mehr loswerden. Aber vielleicht forschen wir auch an der falschen Stelle, und die Homosexualität der Schafsböcke ist nicht biologisch bedingt, sondern hat mit etwas anderem zu tun — einem Geruch, den wir nicht wahrnehmen, oder psychologischer Intimität, die wir nicht bemerken, oder womöglich auch den Auswirkungen der unfreien Umgebung, wenn wir Schafsvermittler spielen.

Schafe sind jedoch die Ausnahme und nicht die Regel. Und im Gegensatz zu Widdern, die ihr Sexualverhalten nicht an die Anzahl der zur Verfügung stehenden gleich- oder andersgeschlechtlichen Sexualpartner anpassen, tut dies der Großteil der anderen Tiere sehr wohl. Wie die Forschung gezeigt hat, bewirkt das Geschlechterverhältnis innerhalb einer Population, dass gleichgeschlechtliche Tiere als Paare zusammenleben. Das betrifft auch normalerweise heterosexuelle, monogame Arten. Die nicht-reproduktive Paarbildung bei Tieren ist durchaus nützlich, denn Nestbau, Nahrungssuche und das Abwehren von Raubtieren sind gemeinsam einfacher zu bewerkstelligen.

Bei der Untersuchung von verwilderten Tauben hat sich beispielsweise gezeigt, dass die Weibchen, wenn die Männchen aus der Gruppe entfernt wurden, sich dauerhaft als Paare zusammentaten.21 Eine derartige Paarbildung wurde auch bei Männchen festgestellt, war allerdings weniger kooperativ. In einer weiteren Studie über einen in Gefangenschaft lebenden, ausschließlich männlichen Finkenschwarm wurde festgestellt, dass sechs von zehn Finken unter diesen Bedingungen homosexuellen Sex hatten, offenbar weit mehr als sonst für die Art üblich.22 Und in einer Schildkrötenpopulation mit extrem ungleichem Geschlechterverhältnis — 50 Weibchen, aber mehr als 1000 Männchen — umwarben und bestiegen die Männchen andere Männchen deutlich häufiger als Weibchen.23

Die Autor*innen aller drei Untersuchungen verwenden den Begriff prison effect, um ihre Ergebnisse bei einem stark zugunsten der Männchen verschobenen Geschlechterverhältnis zu beschreiben. Das steht im Zusammenhang mit einer weiter gefassten populären These namens heterosexuelle Deprivation. Diese erklärt gleichgeschlechtliches Sexualverhalten als eine Folge der Nichtverfügbarkeit andersgeschlechtlicher Partner*innen. Wie der Name zeigt, setzt auch diese Hypothese fälschlicherweise voraus, dass heterosexuelles Sexualverhalten die natürliche Präferenz von Tieren darstelle und gleichgeschlechtliches Verhalten lediglich eine Anpassungsstrategie sei. Die Hypothese der heterosexuellen Deprivation ähnelt der Aussage, dass auch ein ausgehungerter Vegetarier wahrscheinlich ein Steak essen würde, wenn er keine andere Wahl hätte.

Ich bin immer davon ausgegangen, dass Menschen, die sich als heterosexuell identifizieren, sich, sollten sie einmal im Gefängnis landen, aller Wahrscheinlichkeit nach homosexuell verhalten würden. Ich hatte von homosexuellen Paaren im Gefängnis gehört, bei denen ein Partner als die »Gefängnisfrau« bezeichnet wird, und natürlich gibt es die geschmacklosen und entmenschlichenden »Lass die Seife nicht fallen«-Witze über Vergewaltigungen im Gefängnis.

Gelegentlich wird dem Thema auch im Fernsehen Aufmerksamkeit gewidmet, unter anderem in der beliebten TV-Serie Orange is the New Black, die in einem Frauengefängnis in den Vereinigten Staaten spielt. Wir sehen darin eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie Frauen Sex haben und emotionale Beziehungen zu anderen Frauen eingehen. Einige der Frauen sind zwar lesbisch, aber viele von ihnen nur »gay for the stay«.24 Einvernehmlicher Sex im Gefängnis wird hier differenziert dargestellt, aber wie so oft macht auch diese Serie einen großen Bogen um den Begriff Bisexualität. Die Hauptfigur Piper verwendet beispielsweise den Satz: »Ich stehe auf heiße Mädchen. Und auf heiße Jungs. Ich stehe einfach auf heiße Menschen.« Und eine Frau namens Soso sagt ebenfalls: »Ich mag Menschen, keine Gender.« Ihre Partnerin stimmt ihr zu und erklärt, die Bezeichnung für ihre Sexualität sollte einfach »glücklich« sein.25 Der Begriff bisexuell taucht zum ersten Mal in der 89. Folge26 auf, obwohl viele der Figuren eindeutig bisexuell sind. Bisexuell ist schließlich kein anrüchiges Wort, und ich wünschte, die Medienschaffenden würden allmählich aufhören, es so zu behandeln. Aber ich schweife ab.

Die Frage ist: Verändern Menschen ihr Sexualverhalten in Gefangenschaft, und wenn ja, warum? Studien zeigen, dass Männer, die gleichgeschlechtlichen Sex im Gefängnis haben, als homosexuell bezeichnet werden. Dennoch identifizieren sich viele von ihnen nicht als schwul; ihr homosexuelles Verhalten ist in der Regel auf die Zeit in der Haft begrenzt, und die meisten haben außerhalb des Gefängnisses überwiegend oder ausschließlich heterosexuelle Beziehungen. Über das Thema der Bisexualität im Gefängnis habe ich mit Elizabeth Deehan gesprochen. Sie arbeitet als Offending Behaviour Programme Facilitator in einem Gefängnis der Kategorie B für männliche Strafgefangene im Vereinigten Königreich. In dieser Kategorie sind Langzeit- und Hochsicherheitsgefangene mit hohem Sicherheitsrisiko untergebracht, darunter auch Männer, die eine schwere, mit Gewalt, Drogen, Sexualdelikten oder Schusswaffengebrauch verbundene Straftat begangen haben. Elizabeth Deehan ist in einem Gefängnis mit 800 Insassen tätig, unter den Inhaftierten sind auch eine Reihe von Bandenmitgliedern. Viele der Gefangenen verbüßen eine Haftstrafe von zehn Jahren oder mehr. Deehan leitet die GBT+-Gruppe, die zu der Zeit, als wir das Gespräch führten, zwei Mitglieder hatte. »Der Dritte wurde letzte Woche entlassen«, erklärte sie mir. Natürlich sitzen weitaus mehr queere Menschen dort in Haft, wie sie aus Einzelgesprächen mit den Insassen und den Fragen weiß, die sie mitunter in Bezug auf deren Sexualität stellt.

»Bei Fragen ist die Formulierung entscheidend«, sagte sie mir. »Wenn beispielsweise ein großer kräftiger Mann einen Insassen zu seiner Sexualität befragt, reagiert der wahrscheinlich ziemlich abwehrend … so ungefähr willst du mir damit irgendwas sagen?« Sind die Gesprächspartner*innen jedoch Frauen und werden eher verhaltens- als identitätsbezogene Fragen gestellt, kann es für den Insassen leichter sein, sich zu öffnen. Allerdings trifft auch Deehan auf Abwehrreaktionen. Einiges davon lässt sich auf Macho-Gehabe und verinnerlichte Homophobie zurückführen; mir gegenüber betont Deehan jedoch ausdrücklich, dass diese Abwehrhaltung gegenüber queeren Identitäten und Verhaltensweisen vor allem an der Sorge um die eigene Sicherheit liege. Alle Gefangenen haben Angst vor der realen und ständigen Bedrohung durch Übergriffe sexueller und anderer Art. Hat ein Insasse erst einmal einen gewissen Ruf, gibt es für ihn keine Fluchtmöglichkeit; eine Verlegung in den Hochsicherheitstrakt ist meist unerwünscht und die Verlegung in eine andere Haftanstalt kein Garant für Sicherheit. »Es ist schon erstaunlich, in welchem Maß ihnen die Probleme selbst nach einer Verlegung folgen«, stellt Deehan fest.

Ich vertrete entschieden die Meinung, dass eine Haftstrafe nicht gleichbedeutend mit Entmenschlichung sein sollte. Sexualität ist ein Teil unserer Menschlichkeit. Dennoch konstatiert eine Organisation namens Bent Bars: »Trotz der vielen LGBTQ-Gruppen in Großbritannien adressieren die wenigsten von ihnen die Probleme von LGBTQ-Häftlingen. Ebenso wenig thematisieren Unterstützungsgruppen in Gefängnissen die spezifischen Schwierigkeiten von LGBTQ-Personen hinter Gittern.«27 Bent Bars stellt Verbindungen zwischen Menschen innerhalb und außerhalb des Gefängnisses durch Brieffreundschaften her. Das ist wichtig. Es kann riskant für queere Menschen sein, in Bezug auf ihre spezifischen Probleme nach Hilfe zu suchen. Nehmen sie jedoch keine Hilfe in Anspruch, führt dies möglicherweise zur Isolation und in der Folge zur Gefährdung der mentalen Gesundheit. Beide Optionen sind daher ungeeignet. Insofern ist es auch nicht überraschend, dass Deehans Gruppe sich auf zwei Personen beschränkt. Schon allein die Teilnahme ist ein heikles Unterfangen. Die Notwendigkeit von diskreteren Unterstützungsmaßnahmen wie Brieffreundschaften liegt somit auf der Hand.

Diese Probleme beschränken sich natürlich nicht nur auf das Vereinigte Königreich, in vielen anderen Ländern sieht es sogar noch schlimmer aus. Die Angst davor, im Gefängnis als queer zu gelten, lässt sich am Fall eines estnischen Bürgers im Vereinigten Königreich veranschaulichen, der wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Brandstiftung an Estland ausgeliefert werden sollte.28 Als der Mann im Jahr 2009 dagegen Einspruch erhob, erklärte er:

»Ich habe Angst, nach Estland zurückzukehren, weil ich bisexuell bin und in einem estnischen Gefängnis verprügelt oder erstochen werde. In Estland sind sechs bis acht Personen in einer Zelle untergebracht, und es wäre unmöglich, meine Sexualität zu verbergen. Wenn meine Mitinhaftierten herausfinden, dass ich bisexuell bin, werden sie mich angreifen. Das Gefängnis oder der Staat werden nichts unternehmen, um mich zu schützen, denn bisexuelle Mitbürger werden von der Bevölkerung und dem estnischen Staat diskriminiert. Ich würde genauso behandelt werden wie ein Pädophiler oder Vergewaltiger, d.h., ich würde zusammengeschlagen und erstochen werden.«

Ob das nun tatsächlich ein zutreffendes Bild der heutigen Lage in estnischen Gefängnissen liefert oder nicht, sei dahingestellt, fraglos ist jedoch, dass Häftlinge, die als queer bekannt sind, in vielen Ländern solche Erfahrungen machen würden. Gegen den Mann verwendet wurde unter anderem die Tatsache, dass er wegen seiner Selbstmordgedanken und Depression von einem Psychiater untersucht wurde, diesem gegenüber aber seine Bisexualität verschwieg. In der Berufung heißt es, der Este habe sich gegen diese Behauptung gewehrt: »Er hat mich gefragt, ob ich homosexuell sei, und als ich verneinte, ging er, bevor ich ihm erklären konnte, dass ich bisexuell war, schon zum nächsten Punkt über.«

Womit wir wieder bei meiner Ausgangsfrage angelangt wären: Ändern Menschen in der Haft ihr Sexualverhalten, und wenn ja, warum? Ein Häftling im Vereinigten Königreich, der im Rahmen einer von der Howard League in Auftrag gegebenen Untersuchung über Sex im Gefängnis befragte wurde, gab an: »Natürlich haben Menschen im Gefängnis Sex, warum sollten sie auch nicht? Wir sind immer noch menschliche Wesen. Gefühle verschwinden ja nicht, nur weil man im Knast sitzt.«29 Ein anderer Teilnehmer der Studie, der sich als heterosexuell bezeichnete, gab an, er habe »aus reiner Not« einvernehmlichen Sex mit schwulen oder bisexuellen Häftlingen gehabt. Nach eigenen Angaben hatte er nach dem Gefängnisaufenthalt ausschließlich heterosexuelle Beziehungen und ergänzte: »Ich bin absolut hetero. Was damals passiert ist, hat nur damit zu tun, dass ich meine sexuellen Bedürfnisse befriedigen musste, und zwar zu einem Zeitpunkt und an einem Ort, wo [heterosexueller] Sex ausgeschlossen war.« Beide Aussagen sprechen für die Vorstellung, dass a.) männliche Gefangene ihr Sexualverhalten ändern und b.) sie es nur tun, weil keine geeigneten andersgeschlechtlichen Partner zur Verfügung stehen.

Übereinstimmend damit haben die beiden Strafvollzugsforscher Christopher Hensley und Richard Tewksbury in einer Studie über die neunzigjährige Geschichte der empirischen Forschung zur Sexualität bei Strafgefangenen festgestellt, dass homosexuelle Aktivitäten unter inhaftierten Männern und Frauen nichts Ungewöhnliches sind. Sex im Gefängnis, so die beiden Wissenschaftler, könne, wie Sex in anderen Einrichtungen, entweder als Quelle des Vergnügens dienen, mit Dominanz verbunden sein, erzwungen werden oder andere soziale Funktionen haben. Sie stellten außerdem fest, dass viele, die während der Haft ihr Sexualverhalten änderten, ihre sexuelle Identität nicht neu definierten.

Das spiegelt die Gedanken vieler Menschen über gleichgeschlechtliche Begegnungen wider, insbesondere während eines zeitlich begrenzten Aufenthaltes in einem homosozialen Umfeld. Als homosoziales Umfeld bezeichnet man Orte, an denen sich ausschließlich Menschen desselben Geschlechts aufhalten; dabei kann es sich um Saunas, bestimmte Arbeitsplätze, Internate, militärische Einrichtungen oder eben Gefängnisse handeln. Diese Orte und auch die Erfahrungen, die man an ihnen machen kann, betrachten viele Menschen als vom normalen Leben getrennte Räume; sie unterscheiden sich gewissermaßen nur graduell von einem Ort der Illusionen wie Las Vegas, und hier wie dort gilt der (abgewandelte) Leitsatz: Was im homosozialen Umfeld passiert, bleibt im homosozialen Umfeld, oder What happens in Vegas, stays in Vegas.

Ich finde es faszinierend, wie Menschen diese Erfahrungen in Schubladen stecken, statt sie zum Überdenken oder womöglich gar Infragestellen ihre Selbstidentifikation als Heterosexuelle zu nutzen. So wie der oben zitierte Häftling sich als »absolut hetero« bezeichnete. Er hätte ebenso gut überlegen können, hey, Moment mal, vielleicht bin ich ja bisexuell, aber stattdessen führt er als Argument an, für ihn sei homosexueller Sex eben notwendig gewesen. Natürlich haben die meisten Menschen sexuelle Bedürfnisse, insoweit stimme ich zu, aber Sex ist niemals eine Notwendigkeit. Menschen sind in der Lage, auf Sex zu verzichten, und tun dies auch oder nehmen die Angelegenheit selbst in die Hand … sozusagen.

Ich halte es für wahrscheinlich, dass hier andere, mit gesellschaftlichen Strukturen oder Identitäten in Verbindung stehende Ursachen greifen und die Diskrepanz zwischen den gewählten Sexualpartnern und den sexuellen Identifikationen eines Menschen erklären. Vielleicht hat Elizabeth Deehan einen entscheidenden Hinweis geliefert, als sie mir, in Bezug auf die Häftlinge in ihrem Gefängnis, sagte: »Sie bringen ihre Überzeugungen mit herein.« Menschen formen ihre Vorstellungen von gesellschaftlich akzeptablem Sexualverhalten und Identitäten, ihre Vorstellungen von Männlichkeit, bevor sie ins Gefängnis kommen, und es ist schwer, sich von solchen Vorstellungen zu befreien. Gerade die Homophobie ist eng mit Banden-Kultur und Macho-Überzeugungen verbunden und daher für Häftlinge, die in solchen Gemeinschaften verwurzelt sind — und auch in der Regel wieder in sie zurückkehren —, nur schwer zu überwinden.

Hypermaskuline Ideale sind häufig so eng mit Homophobie verknüpft, dass sie noch das vorsichtigste Ausprobieren von nicht-heterosexuellen Identitäten nahezu verunmöglichen. Ich nehme hier insbesondere Maskulinität in den Blick, denn obgleich auch Hyperfeminität mit Homophobie in Verbindung steht, zeigt sich das nur selten so offen und gewaltsam wie Maskulinität. Wenn der bloße Gedanke, man könne queer sein, schon als gefährlich gilt, ist diese Einstellung nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für Menschen, die ihnen nahestehen, toxisch.

Und das gilt nicht nur für Häftlinge. Als ich in den Neunzigerjahren aufwuchs, haben Jungs alles, was irgendwie weiblich wirkte oder ihnen nicht gefiel, mit »Wie schwul ist das denn« bezeichnet. In den Nullerjahren fügten Rap- und Hip-Hop-Musiker ein no homo an vermeintlich zufälligen Stellen ihrer Tracks ein. Und trotz der LGBT+-Kampagnen im Sport wie etwa die Stonewall Rainbow Lace Campaign (eine Aktion, bei der seit 2013 im englischen Fußball-Profisport durch das Tragen regenbogenfarbener Schnürsenkel gegen die Diskriminierung von LGBT+-Gemeinschaften im Sport aufmerksam gemacht und protestiert wird) hat sich in den Zehnerjahren kein einziger Profifußballer geoutet. Das blieb nicht unbemerkt. 2020 bekannte ein britischer Fußballer anonym in einem öffentlichen Schreiben »Ich bin schwul« und erklärte: »Der Fußball ist noch nicht so weit, dass ein Spieler sich outen kann.«30

Dennoch lassen sich nicht alle von den hypermaskulinen Normen im Sport einschüchtern. Ich denke da etwa an Jahmal Howlett-Mundle, früher Spieler beim Edinburgher Club Hearts of Midlothian und inzwischen zum Sheppey FC gewechselt. Er outete sich 2021 im Team und sagte: »Ich wollte ich selbst sein und über meine Ängste in Bezug auf die Stigmatisierung der Sexualität im Fußball sprechen, hatte aber ständig das Gefühl, ich sollte besser den Mund halten.«31 Die überwältigend positiven Reaktionen auf sein Coming-out stimmen mich etwas optimistischer für die Zukunft — es gab spontanen Beifall, als er seinen Teamkollegen die Mitteilung machte. Howlett-Mundle drückt es so aus: »Endlich fühle ich mich sicher und habe meinen inneren Frieden gefunden und bin … so glücklich wie noch nie.« Auch männliche Athleten in anderen Sportarten haben sich inzwischen als schwul oder bisexuell geoutet, und aus meiner Sicht ist das ein schönes Zeichen dafür, dass sich allmählich einiges ändert.

Trauen Sie sich, über Ihre sexuelle Identität nachzudenken, statt einfach Heterosexualität als die Norm hinzunehmen. Lassen Sie zu, dass eine sexuelle Erfahrung Sie und Ihre Selbstwahrnehmung ins Wanken bringt. Und falls es angemessen und sicher ist, seien Sie mutig genug, sich selbst als homosexuell, bi oder queer zu bezeichnen.

Die Geschichte der Sexualität in Gefängnissen und anderen homosozialen Umfeldern zeigt uns, wie flexibel das Sexualverhalten selbst in einem extrem heteronormativen Umfeld sein kann. Aus den Untersuchungen geht hervor, dass, ähnlich den Tauben, Finken oder Schildkröten, die Geschlechterverhältnisse der menschlichen Bevölkerung zu verändertem Sexualverhalten führen. Besonders bemerkenswert daran ist, dass es trotz der hohen sozialen Schranken geschieht, die Menschen, im Unterschied zu Tauben, Finken und Schildkröten, überwinden müssen, bevor sie sich auf bisexuelles Verhalten einlassen.

Gibt es noch andere Faktoren, die mit der Ausprägung von bisexuellem Verhalten im Tierreich zusammenhängen? Bevor ich dieses Kapitel abschließe, möchte ich unbedingt noch auf einen unserer nächsten genetischen Verwandten eingehen, der zufälligerweise auch ein recht merkwürdiges Sexualverhalten an den Tag legt: der Bonobo.

Bonobos gehören zur Familie der Menschenaffen und haben besonders lange Arme, rosafarbene Lippen und dünnes, etwas schütteres schwarzes Fell. Bei einem Zoobesuch habe ich einmal zehn Minuten lang ein Bonobo-Weibchen betrachtet, weil es so menschlich wirkte. Das Unheimlichste dabei war, dass sie uns die ganze Zeit über ebenso neugierig beäugte, gerade so, als seien wir Zoobesucher und nicht sie selbst die Attraktion. Vermutlich hat es mit dieser Erfahrung zu tun, dass mir die genetische Verbindung zwischen Bonobos und Menschen sofort einleuchtet. Einen entscheidenden Unterschied gibt es allerdings: Bonobos haben ein vollkommen anderes Sexualverhalten.

Oberflächlich betrachtet sind Bonobos verhaltensmäßig nahezu ausnahmslos bisexuell, haben jede Menge Sex, und zwar mit so gut wie jedem anderen Gruppenmitglied. Mit Hierarchie hat es offenkundig nichts zu tun: Bonobo-Weibchen bieten nicht nur den höher in der Rangordnung stehenden Männchen sexuelle Kontakte an, ebenso wenig wie sich männliche Bonobos niedriger in der Rangordnung stehenden anderen Männchen aufdrängen. Das Verhalten der Bonobos ist nicht von Fortpflanzungszielen gesteuert, denn die Mehrzahl der Sexualkontakte führt nicht zu kleinen Baby-Bonobos; es findet keine Penetration statt, oder es sind homosexuelle Sexualkontakte, oder der Altersunterschied zwischen den Sexualpartnern ist zu groß. Die Frage lautet also: Warum geschieht es?

Die Primatolog*innen Zanna Clay und Frans de Waal beschäftigen sich seit Langem mit dem Sexualverhalten der Bonobos und argumentieren, es spiele eine wichtige Rolle bei der Reduktion von Spannungen innerhalb der Gruppe. De Waal zufolge ergeben sich daraus sehr positive Wirkungen. Bonobos setzen Sex als Form der Konfliktlösung ein — und das funktioniert unglaublich gut.32 Wie de Waal schreibt: »Unter in Freiheit lebenden Bonobos kommt es nie zu tödlich verlaufenden Auseinandersetzungen, es herrscht keine männliche Dominanz, und es gibt ein gewaltiges Ausmaß an sexueller Tätigkeit. Bonobos machen Liebe, keinen Krieg.«33 De Waal führt aus, dies sei ein echtes Dilemma für Evolutionsbiolog*innen und deren These, dass alle Schimpansen von Natur aus zu Gewalt neigten und Sex ausschließlich zur Fortpflanzung einsetzten. Das davon völlig abweichende Verhalten der Bonobos — inzwischen wurde die Bezeichnung soziosexuelles Verhalten dafür geprägt — stellte diese These infrage.

Soziosexuelles Verhalten schließt sexuelle Tätigkeiten ein, die nicht unmittelbar der Fortpflanzung dienen.34 Bei nicht-menschlichen Primaten gehören dazu die Fellpflege, das Spielen, Besteigen, Beschnüffeln der Genitalien, Berühren und Reiben. Bonobos haben bis zu 30 Mal am Tag sexuelle Kontakte. Soziosexualität festigt Beziehungen, hilft bei der Aufrechterhaltung hierarchischer Ordnungen, führt nach Auseinandersetzungen zur Versöhnung und reduziert insgesamt Spannungen. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, aber für mich klingt das nach absolut erstrebenswerten Zielen. Ich hatte niemals absichtsvoll reproduktiven Sex, wollte aber sehr wohl dadurch Spannungen abbauen oder die Beziehung stärken. Und wenn ich einmal in Stimmung bin, habe ich sowieso nur soziosexuelle Interaktionen oder will ganz einfach Spaß haben.

Der Evolutionsbiologe Professor Robin Dunbar erläutert, dass dieses Verhalten auch homosexuelles Verhalten bei Tieren und Menschen begünstige und fördere. »Für homosexuelles Verhalten spricht insbesondere, dass es den Zusammenhalt innerhalb männlicher Gruppen stärkt, gerade wenn die Gruppe aufeinander angewiesen ist, beispielsweise während der Jagd oder in Kriegszeiten.«35 Das lässt sich auch in anderen Kontexten erkennen. Laut Dunbar förderten die Spartaner im antiken Griechenland homosexuelle Kontakte innerhalb ihrer Elitetruppen. »Sie waren, nicht zu Unrecht, davon überzeugt, dass der Einzelne, sobald er eine Liebesbeziehung hatte, keine Anstrengungen scheuen und versuchen würde, den anderen zu retten.«

Ein Artikel aus dem Jahr 2020 spinnt diesen Gedanken weiter.36 Der Biologe Andrew Barron und der Evolutionsanthropologe Brian Hare schreiben: »Unser Argument lautet, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Anziehung sich bei starkem Selektionsdruck als eines der Merkmale entwickelt hat, das — als Gegenpol — soziale Integration erleichtert und soziales Verhalten fördert.« Barron und Hare sehen keinen Unterschied in der Erklärung des gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens und nicht-reproduktivem Sex. »Wir argumentieren, dass beim Menschen die sozialen Funktionen und der Nutzen von Sexualität auf gleichgeschlechtliches Sexualverhalten ebenso zutreffen wie auf heterosexuelles Sexualverhalten.« Im Grunde genommen lautet die entscheidende Frage: Warum haben wir überhaupt Sex, oder besteht ein Sexualverhalten fort, das nicht auf Reproduktion abzielt? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand. Weil Sexualverhalten eine sehr angenehme Weise ist, miteinander in Verbindung zu treten, und weil es Spaß macht. Und zudem — auch das ist keine Überraschung — kann Sexualverhalten unabhängig von der jeweiligen Genderidentität zwischen allen Menschen sozial sein und Spaß machen. Das ist ja nun wirklich nicht schwer zu verstehen.

Die in diesem Kapitel dargestellte Forschung hat mich davon überzeugt, dass man mir fälschlicherweise unterjubeln wollte, heterosexueller Sex sei normal und besonders adaptiv. Stattdessen wird immer deutlicher, dass gerade ausschließlich monosexuelles Verhalten nach einer Erklärung verlangt.

Meine Mutter sagte mir einmal, ihrer Meinung nach sei Bisexualität die nächste Stufe in der Entwicklung der menschlichen Sexualität. Sich in eine Person, nicht aber in ein Gender zu verlieben, halte sie für ein Zeichen von Fortschritt und Intelligenz. Wie wir in diesem Kapitel erfahren haben, handelt es sich dabei allem Anschein nach weniger um die nächste Stufe als vielmehr um die ursprüngliche Ausgangssituation in der Entwicklung der Sexualität. Verhaltensmäßige Bisexualität im Tierreich ist nicht unnatürlich, sondern schlicht der Normalfall, sogar in weitaus weniger komplexen Wesen, als wir selbst es sind. Erst wir Menschen haben nicht-heterosexuelles Verhalten als widernatürliches Verbrechen bezeichnet. Im Gegensatz zu Sexualforschern wie Freud halte ich Bisexualität, nur weil sie der Ausgangszustand ist, keineswegs für etwas Unerwünschtes.

Meiner Überzeugung nach spricht die weite Verbreitung der Bisexualität vielmehr dafür, dass sie in evolutionärer und sozialer Hinsicht besonders sinnvoll ist.