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Heimlich Bisexuell

Nur die wenigsten Bisexuellen outen sich.

Aufgrund der hohen Dunkelziffer bin ich meist nicht sonderlich überrascht, wenn Menschen sich auf ungewöhnliche Weise outen.

Die Geschichte ihres eigenen legendären Coming-outs erzählte mir eine junge Frau Ende 20. Vor einigen Jahren wollte sie ihren Eltern endlich reinen Wein einschenken, befürchtete aber, sie würde im entscheidenden Moment kein Wort herausbringen. Daher buk sie einen Kuchen und dekorierte ihn mit der Aufschrift: »Ich bin bi«. Warum ausgerechnet einen Kuchen? Sie hat es mir damals nicht erklärt, falls jedoch irgendeine Symbolik im Spiel gewesen sein sollte, kann ich mir nur vorstellen, dass sie den Vorwurf im Sinn hatte, den Bisexuellen häufig hören: having their cake and eating it too. Ich weiß nicht, wie der Kuchen aussah, stelle ihn mir aber als goldbraun und ansonsten eher schlicht vor — ein essbares Tablet, dessen wesentliche Funktion in der Überbringung der Nachricht bestand. Vielleicht hat sie aber auch alle Backregister gezogen und ein The Great British Bake off-würdiges Kunstwerk präsentiert: Ein komplexer, extravaganter Kuchenguss in den Bi-Pride-Farben Pink-Lila-Blau und darauf in lässiger Schreibschrift »Ich bin bi«. So oder so, sie hatte den Kuchen jedenfalls — zugedeckt — in der Küche stehen lassen. Doch als sie versuchte, sich ein Herz zu fassen und ihn ihren Eltern zu präsentieren, fing sie an zu weinen.

»Ich stand da an der Küchentheke und schluchzte vor mich hin«, erzählte sie mir. »Sie kamen herein und fragten, ›was ist denn mit dir los‹, und ich sagte nur ›lest mal, was auf dem Kuchen steht‹.« Leicht verwirrt deckten die Eltern den Kuchen auf und sahen die Nachricht. An diesem Punkt seufzten sie hörbar auf und tauschten diesen für Eltern typischen Haben-wir-uns-doch-gedacht-Blick. Das erwähne ich nur, weil sie anschließend zu ihr gingen und ihr erklärten, sie würden sie immer lieben, ganz gleich, welche Sexualität sie habe. Dann folgte eine innige Umarmung, sie hörte auf zu schluchzen, ihre Angst ließ nach und verschwand. Von diesem Augenblick an war sie offen bisexuell.

Warum empfand sie überhaupt solche Angst? Und welche Auswirkungen hat es auf die mentale und sexuelle Gesundheit Bisexueller, sich als bisexuell zu outen oder es zu unterlassen? In diesem Kapitel werden wir uns ausführlich mit diesem Thema — heimlich bisexuell — beschäftigen.

Fangen wir mit einer Frage an: Wieso heißt es eigentlich »Coming out«? In seinem 1994 erschienen Buch Gay New York erklärt George Chauncey, dass sich »der Ausdruck ›coming out‹ ursprünglich auf die formelle Einführung einer Debütantin in gesellschaftlich gleichgestellte Kreise bezieht«.1 Er führt weiter aus, der Begriff habe zunächst auf die Frauenkultur der Oberschicht in den Dreißigerjahren angespielt, auf die Weiblichkeit und Kultiviertheit der Debütantinnen. Chauncey ist ein renommierter Professor für queere amerikanische Geschichte an der Columbia University in New York und hat als Sachverständiger an vielen entscheidenden, die Rechte Homosexueller betreffenden Fällen mitgearbeitet. Sein besonderes Markenzeichen ist der Spitzbart.2 Er legt in seinem Buch auch dar, dass in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg Schwule »unter ›coming out‹ etwas anderes verstanden als wir heute — das Heraustreten aus dem Verborgenen; sie bezeichneten damit vielmehr ihren Eintritt in einen Bereich, den sie als homosexuelle Gesellschaft oder schwule Welt bezeichneten, eine Welt, die keineswegs so klein oder isoliert und häufig auch nicht so verschwiegen war, wie der Begriff verborgen vielleicht nahelegt.«

Chauncey verweist hier auf eine Schlagzeile, die 1931 in der Zeitung Baltimore Afro-American »das Coming-out einiger neuer Debütanten in die homosexuelle Gesellschaft« verkündete; der entsprechende Ball firmierte unter »Frolic of the pansies«. Offenbar waren große Bälle für Schwule damals sehr beliebt und die klassische Plattform, auf der Männer ihr Coming-out hatten. Das spielte sich keineswegs im Verborgenen ab, sondern die Bälle zogen Tausende von Zuschauern an. 1931, so Chauncey, »ging dieser Aspekt der Schwulenkultur in den allgemeinen Sprachgebrauch ein«.

Heute bringen wir den Begriff des Coming-out dagegen mit dem Heraustreten aus dem Verborgenen in Verbindung (coming out of the closet). Dazu bemerkt Chauncey: »Die Ursprünge des Begriffs closet in der Schwulenszene sind unklar. Vielleicht hatte es zunächst damit zu tun, dass viele Männer, die sich nicht outeten, ihre Homosexualität als eine Art skeleton in the closet (Leiche im Keller) betrachteten.«3 Nach den Stonewall-Protesten wurde der Begriff closet zunehmend populär. Die sich daran anschließende veränderte Haltung und Diskussion über Sexualität zeigten deutlich, dass viele queere Menschen gezwungenermaßen ihre Sexualität wie ein schmutziges Geheimnis verbargen. Erst seit den Sechzigerjahren wird das Thema des Verbergens offen adressiert.

Mir ist darüber hinaus erst vor Kurzem klar geworden, auf welch heftige Ablehnung das Konzept des Coming-out und das Narrativ des Verbergens bei manchen Menschen stößt. Kritisiert wird daran vor allem, es verstärke heterosexistische Vorstellungen, denn die einzigen Menschen, die in dieser gesellschaftlich bedingten Verborgenheit leben und sich daher überhaupt outen müssten, seien queere Menschen. Warum ist das ein Problem? Auch dieser Ansatz geht davon aus, dass Heterosexualität natürlich und normal sei, während andere Sexualitäten als abweichend gelten und verborgen werden müssen. Vielleicht habe ich aus diesem Grund manchmal den Eindruck, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen einem Coming-out und der kirchlichen Beichte besteht: als würde man der Welt sein schmutziges kleines Geheimnis offenbaren. So gesehen kommt es beinahe einem moralischen oder persönlichen Scheitern gleich, sich nicht zu outen: Jemand belügt uns, indem er etwas über seine Sexualität verschweigt, oder weil er nicht stark genug ist, sich zu outen und stolz darauf zu sein.

Dabei kann es durchaus gute Gründe geben, die eigene Sexualität nicht preiszugeben. Die Vorstellung, queere Menschen müssten öffentlich ihre sexuelle Seele entblößen, um sich selbst treu zu bleiben, ist sehr problematisch. Dennoch hoffe ich, dass es in Zukunft für noch mehr Menschen, die zu einer sexuellen Minderheit gehören, möglich ist, sich für die Sichtbarkeit zu entscheiden, und dass sie es auch tun. Je mehr wir sind, desto besser, denn es stärkt unsere Sache und die Gemeinschaft. Beides lässt sich nur durch Sichtbarkeit erreichen.

In diesem Kapitel verwende ich den Begriff des Verborgenen (closet), weil er die gesellschaftliche Repression der Sexualität und die Einsamkeit, nicht zu einer queeren Community zu gehören, so gut veranschaulicht. Die ursprüngliche positive Bedeutung des Coming-out, also das Hineingehen in eine queere Welt, gefällt mir ebenfalls sehr gut, denn genau das kann das Annehmen der eigenen Queerness bewirken: das freudige Eintauchen in eine neue queere Welt.

Wie hoch die Anzahl derjenigen ist, die sich geoutet haben, darüber gibt eine Studie aus dem Jahr 2019 Aufschluss; diese wollte feststellen, wie groß das global closet ist, also die Anzahl der LGBT+, die ihre sexuelle Orientierung verbergen.4 Die Forscher John Panchankis und Richard Bränström haben dafür den größten bekannten Datensatz von Männern und Frauen sexueller Minderheiten genutzt, den European Union Lesbian Gay Bisexual and Transgender Survey. Er erfasst 85.000 Menschen, die sich als Teil einer sexuellen Minderheit identifizieren und in den 28 Mitgliedsstaaten der EU leben. Ausgehend von den Mustern dieser Daten entwickelten die beiden Wissenschaftler ein Modell, um das Verbergen sexueller Identität in anderen Ländern (auch außerhalb der EU) zu schätzen, und arbeiteten mit »einem objektiven Index der strukturellen Stigmatisierung auf Länderebene«. Diese Schätzung liefert natürlich nur annähernde Werte, aber es ist immerhin ein Anfang.

Demnach leben laut Pachankis und Bränström weltweit rund 83 Prozent der LGBT+-Menschen im Verborgenen. Ihr Modell stellte erhebliche Unterschiede zwischen geografischen Regionen fest. Um einige Beispiele zu nennen: Nach dieser Schätzung verbergen 94,8 Prozent der sexuellen Minderheiten im Nahen Osten und Nordafrika ihre Sexualität, 35,4 Prozent der Bevölkerung in Latein- und Mittelamerika und 36,5 Prozent in Nord- und Westeuropa. Leider liefern die Forscher keine gesonderten Aufschlüsse nach sexuellen Identitäten, man kann aber davon ausgehen, dass auch Bisexuelle von den gleichen Faktoren innerhalb eines Landes betroffen sind wie LGBT+-Menschen insgesamt.

Speziell zum Thema Bisexualität veröffentlichte die LGBT+-Wohltätigkeitsorganisation Stonewall 2020 den Bi Report und stellte darin die Untersuchungsergebnisse aus Tausenden von Datensätzen von im Vereinigten Königreich lebenden bisexuellen Menschen vor. Demnach hatten sich 80 Prozent der Bisexuellen nicht innerhalb ihrer Familie geoutet, und 64 Prozent hielten ihre Bisexualität vor Freunden geheim. Die Wahrscheinlichkeit, dass Bi-Menschen sich outen, war daher nur halb so hoch wie bei den in der Studie befragten Schwulen und Lesben. 2019 stellte eine Studie des Pew Research Centre vergleichbare Ergebnisse für die Vereinigten Staaten vor: 74 Prozent aller Bisexuellen innerhalb der Stichprobe verbargen ihre sexuellen Neigungen vor so gut wie allen wichtigen Menschen in ihrem Leben. Demgegenüber war das nur bei 29 Prozent der Lesben und 23 Prozent der Schwulen der Fall.5 Bereits 2013 hatte das Pew Research Centre große Unterschiede zwischen Männern und Frauen festgestellt. Ein Drittel aller bisexuellen Frauen, aber nur zwölf Prozent der männlichen Bisexuellen hatte den wichtigsten Menschen in ihrem Leben von ihrer Bisexualität erzählt.6

Leider überrascht mich das nicht im Geringsten. Das liegt an Menschen wie dem anonymen Dad. Im Sommer 2021 wurde ein Beitrag der neuen Kolumne Eltern bekennen in der britischen Tageszeitung The Telegraph besonders häufig im Netz geteilt.7 Möglicherweise handelte es sich um einen Hasskommentar, der darauf abzielte, dass viele Menschen ihn teilten, weil er sie wütend machte. Die Kernaussage war jedoch deprimierend vertraut, und viele bisexuelle Menschen reagierten online darauf, indem sie sich Geschichten über ihre biphobischen Eltern erzählten. Der anonyme Verfasser beginnt mit dem folgenden Absatz:

»Ich kann mich nicht mehr mit meiner ›woken‹ achtzehnjährigen Tochter unterhalten, ohne wütend zu werden. ›Ich mag Mädchen und Jungen‹, verkündete sie kürzlich, und das meinte sie in einem romantischen Sinne. Ich stöhnte innerlich auf. Jetzt geht das schon wieder los, dachte ich.«

Der anonyme Dad bekennt anschließend, er glaube nicht, dass seine Tochter bi sei, denn »als junges Mädchen hat sie schließlich die Wände ihres Zimmers mit Postern von Robert Pattinson gepflastert«. Außerdem habe sie bereits einen Freund gehabt. Der Gedanke, dass Poster, die ich in meinem Kinderzimmer aufgehängt hatte, der Lackmustest für meine spätere sexuelle Orientierung sein könnten, ist mir ehrlich gesagt noch nie gekommen. Aber der anonyme Dad hatte sich offensichtlich alles aufgeschrieben.

Auf seine scharfsinnige Schlussfolgerung über die tiefere Bedeutung der Poster lässt er einen lauwarmen Versuch folgen, nicht als homophob zu erscheinen, und schreibt: »Meine Kinder dürfen alles sein, was sie wollen.« So ähnlich, wie Leute sagen: »Das ist nicht persönlich gemeint, aber … «, und dann ein paar deftige Beleidigungen austeilen, schickt der anonyme Dad dieser Behauptung ebenfalls einen homophoben Satz hinterher. Den Klassiker.

Er schreibt nämlich: »Das Problem und der Grund meiner Verzweiflung« — das Coming-out seiner Tochter betrifft offensichtlich nur ihn, nicht sie — »besteht darin, dass sie nicht Mädchen und Jungen mag, sondern Jungen. Wenn sie nun behauptet, sich zu beiden Geschlechtern hingezogen zu fühlen, dann heult sie nur mit den woken Wölfen. Für die Sensibelchen der Generation Z ist das eben einfach hip.« Ich mag die häufig überbetonte Vorstellung, dass zwischen der jüngeren und älteren Generation ein ständiger Krieg tobt, eigentlich überhaupt nicht, aber wenn ich diesen Kommentar lese, denke ich unweigerlich: Okay, Boomer.

In dieser Aussage recken so viele hässliche Bi-Mythen die Köpfe — Bisexualität liegt im Trend, Bisexuelle machen sich selbst was vor, Mädchen, die bisher nur männliche Partner hatten, können schlechterdings nicht bisexuell sein —, und jeder davon trieft vor Überzeugung, dass Bisexuelle letztlich nur Aufmerksamkeit erregen wollen. Leider sind die Ansichten des anonymen Dads keine Ausnahme, und gerade sie halten viele davon ab, sich zu outen. Für viele kommen noch eine Menge anderer Probleme hinzu, besonders in religiösen oder konservativen Familien. Und es sind keineswegs nur anonyme Dads, die so denken und sich so äußern — oder in diesem Fall ihre Meinung schriftlich mitteilen.

Und es sind keineswegs nur Teenager, die Angst vor Familienmitgliedern wie dem anonymen Dad und den Auseinandersetzungen mit ihnen haben. Auch die Eltern wagen es manchmal selbst nicht, sich zu outen.

Nach allem, was wir über das Heimlich-bi-Sein wissen, kann man davon ausgehen, dass die meisten Eltern sich ihren Kindern gegenüber nicht outen.

Adam beispielsweise hat an einer amerikanischen Studie über Bi-Eltern teilgenommen, die von Jessamyn Bowling und Kolleg*innen 2017 durchgeführt und veröffentlicht wurde. Er erklärte den Forscher*innern: »Ich versuche, die richtigen Worte zu finden. Ehrlich, ich bin so unsicher … ich hoffe einfach, dass [meine Kinder] mich unterstützen und [meine Bisexualität] sie nicht abstößt.« Adams Befürchtungen passen zu dem, was wir häufig erleben, wenn Kinder — auch Erwachsene — einen übertriebenen Ekel bei der bloßen Erwähnung des Sexuallebens ihrer Eltern empfinden.

Eltern haben jedoch auch andere, eher rationale Ängste in Bezug auf ihr Coming-out. In einer 2021 an der University of California publizierten Studie des Soziologen Rowan Haus wurden Hunderte von Eltern befragt, ob sie die Absicht hätten, sich ihren Kindern gegenüber zu outen.8 Diejenigen, die das nicht vorhatten, erklärten, dies liege daran, dass sie ihre Sexualität als beschämend, privat oder verwirrend empfänden. Das überrascht nicht, denn auch andere Studien zeigen einen direkten Zusammenhang zwischen Bi-Eltern, die ihre sexuelle Orientierung verbergen, und der unmittelbaren Erfahrung von Biphobie.9 Aufgrund ihrer belastenden Erfahrungen mit Biphobie und allgemeinen kulturellen und familiären Tabus, sobald das Thema Sex und Sexualität aufkommt, verschweigen viele Bi-Eltern ihre Sexualität.

Adam ist nicht der einzige Bi-Dad, der Bedenken hat, sich vor seinen Kindern zu outen. Haus fand heraus, dass es innerhalb seiner Stichprobe markante geschlechtsspezifische Unterschiede gab. Bei bisexuellen Vätern lag die Wahrscheinlichkeit, dass sie niemals mit ihren Kindern über ihre sexuelle Orientierung sprechen würden, fünfmal höher als bei bisexuellen Müttern. Weitverbreitete Stereotype über bisexuelle Männer können es für Väter deutlich schwieriger machen, mit ihren Kindern zu sprechen. Bisexuelle Mütter haben jedoch ebenfalls mit Problemen und Vorurteilen zu kämpfen. Eine ganze Reihe von Studien über bisexuelle Mütter während und nach der Schwangerschaft unterstreicht die Bedeutung einer engen Verbindung zu LGBT+-Eltern-Communitys. Gerade der Rückhalt dieser Gruppen kann das Löschen (erasure) einer bisexuellen Orientierung in gemischtgeschlechtlichen Partnerschaften verhindern, von dem Mütter häufig berichten.10 Generell ist es jedoch mutmaßlich ein größeres Tabu, ein bisexueller Vater zu sein.

Adam berichtete Bowling und ihrem Team, er habe trotz seiner Ängste die Absicht, sich vor seinen Kindern zu outen, allerdings erst später, wenn sie 17 oder 18 Jahre alt wären. Im Moment halte er sie noch für zu jung. Ähnlich äußerten sich auch andere Bi-Eltern. Falls Sie Kinder haben sollten, möchte ich Sie an dieser Stelle davor warnen, allzu perfektionistisch zu sein und auf den idealen Zeitpunkt zu warten: Möglicherweise kommt er nie, und irgendwann haben Sie endgültig die Gelegenheit verpasst. Das kann sehr verstörend sein. Al berichtet:

»Ich habe [mich nicht vor meinen Kindern geoutet]. Ich stehe daher immer wieder vor dem Problem, was ich ihnen mitteile und was nicht. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der niemals über Sexualität gesprochen wurde, und habe früh gelernt, solche Diskussionen zu vermeiden. Ich weiß, dass es nicht richtig ist. Ich war auch nicht in der Lage, mit meinen Kindern über Sexualität zu reden, als sie größer wurden. Mit einem Mal ist das ein sehr beklemmendes Gefühl.«

Obwohl Haus in seiner Studie feststellte, dass einige Eltern sich niemals outen wollten, gaben 93 Prozent der Teilnehmer*innen an, sie hätten die Absicht, es ihren Kindern mitzuteilen. Viele Eltern betrachteten Bisexualität als Mittel, um über Diversität zu sprechen und ihren Kindern beizubringen, Verbündete oder Mitglieder der LGBT+-Community zu sein. Wie Joey schreibt: »Ich habe meinen Kindern vor allem deshalb [von meiner Bisexualität] erzählt, weil ich ihnen vermitteln wollte, dass ich multiple sexuelle Orientierungen begrüße.« Und Naomi erklärt. »Wir möchten, dass unsere Kinder ihre sexuelle Orientierung feiern und wertschätzen, egal, wie diese letztendlich sein wird. In diesem Punkt haben wir eine Vorbildfunktion.«

Andere wollten mit ihrem Coming-out gegen das Löschen von Bi-Identitäten kämpfen, und das sah je nach der geschlechtlichen Zusammensetzung der Beziehung unterschiedlich aus. Drew erklärt beispielsweise: »Es ist wichtig, dass Bisexuelle sichtbar bleiben. Als Bisexueller in einer heteronormativen Beziehung ist meine Identität unsichtbar.« Solange Drew nichts anderes sagt, gehen seine Kinder wahrscheinlich davon aus, dass er heterosexuell ist. Im Unterschied dazu hat Sidney — sie führt eine gleichgeschlechtliche Beziehung — das Problem, dass ihre Kinder sie für lesbisch halten. »Meine Kinder haben zwei Mütter. Das ist Tag für Tag ein Thema.«

Ehrlichkeit war der häufigste Grund, den Eltern für ihr Coming-out innerhalb der Familie angaben. Viele Bi-Eltern betrachteten ihre Sexualität als wichtigen Teil ihrer Identität. Sie zu verschweigen, empfanden sie daher als Täuschung. Wie Haus erläutert: »Die Wertschätzung von Ehrlichkeit wirkt sich bei bisexuellen Eltern anders aus als bei heterosexuellen oder homosexuellen Eltern. Während Ehrlichkeit generell als hoher moralischer Wert gilt, haben nur Bisexuelle damit zu kämpfen, dass ihr Leben in einer monogamen Beziehung als Verrat ausgelegt werden könnte, solange sie sich nicht offen zu ihrer bisexuellen Orientierung bekennen.«

Bisexuelle stehen immer wieder vor dem Dilemma, dass sie, wenn sie sich nicht outen, fälschlicherweise als heterosexuell oder homosexuell bezeichnet werden können. Welches Verhalten ist in diesem Fall angemessen? Ist es gleichbedeutend mit einer Lüge, diese Fehlannahme nicht sofort richtigzustellen? Und ist man, gegebenenfalls, dann zu einem Gespräch mit der betreffenden Person bereit? Das sind schwierige Fragen, wenn es darum geht, ob man sich als bisexuell outen sollte. Und ein Umfeld, in dem Gespräche über Sexualität mit einem Tabu belegt sind, verstärkt diese Schwierigkeiten.

Dazu gehört auch der Arbeitsplatz.

Kennen Sie jemanden, der sich am Arbeitsplatz als bisexuell geoutet hat? Sollten Sie diese Frage mit Nein beantwortet haben, sind Sie kein Einzelfall.

In einem Gewerkschaftsbericht aus dem Jahr 2019, der 1151 erwachsene LGBT+-Angestellte im Vereinigten Königreich befragte, die innerhalb der vergangenen fünf Jahre einer geregelten Tätigkeit nachgegangen waren, heißt es: »Besonders überraschend war der Befund, dass sich etwas mehr als 40 Prozent der bisexuellen Mitarbeiter*innen keinen ihrer Kolleg*innen gegenüber geoutet hatten.« Im Vergleich dazu verbargen nur etwas über zehn Prozent der Lesben und Homosexuellen ihre sexuelle Orientierung. Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2017 kam zu ähnlichen Ergebnissen: Die Hälfte der befragten Bisexuellen verschwieg ihre sexuelle Orientierung am Arbeitsplatz.11

Laut der ungarischen Soziologin Judit Takács behaupten Unternehmen, die sich als LGBT+-freundlich bezeichnen, häufig, eine spezifische Unternehmenspolitik in Bezug auf diese Gruppe sei bei ihnen nicht nötig, da keine LGBT+-Menschen zu ihrer Belegschaft gehörten. Dasselbe lässt sich auch von Organisationen sagen, die nach eigener Einschätzung auf bi-spezifische Angebote verzichten können, weil sie davon ausgehen, dass keine Bi-Menschen bei ihnen tätig sind. Das sei jedoch Unsinn, so Takács — zumal in großen Unternehmen: »Es gibt sie, aber sie wollen dir ihr wahres Gesicht nicht zeigen, weil du es nicht verdient hast.«12 Eine sehr gelungene Formulierung: Hier wird den Arbeitgeber*innen die Verantwortung dafür aufgebürdet, dass Mitarbeiter*innen ihre sexuelle Orientierung verbergen.

Ich halte weder die spontane Enthüllung eines Kollegen mir gegenüber noch eine eindeutige Situation für das wahrscheinlichste Szenario, um überhaupt zu erfahren, ob jemand bi ist. Meiner Meinung nach besteht es eher darin, dass ich meine eigene sexuelle Identität mitteile. Das führt zur gegenseitigen Offenlegung.

Am Arbeitsplatz sind sichere und verlässliche Interaktionen besonders wichtig — nur durch sie entsteht eine sogenannte Authentizität, wie der organisationspsychologische Begriff lautet. Authentizität klingt erst mal wie ein Ausdruck, über den man auf einem Festival wie dem Burning Man stundenlang nachdenken kann. In diesem Kontext ist damit lediglich gemeint, dass man keine wichtigen Facetten seiner eigenen Persönlichkeit vor anderen verbergen muss. Organisationen sprechen oft davon, dass man seine ganze Persönlichkeit bei der Arbeit einbringt, und gerade in diesem Sinne trägt Authentizität zu belastbaren Arbeitsbeziehungen bei und fördert das Vertrauen und die Sympathie unter Kollegen.

Aber sich zu outen bleibt ein Dilemma. Einerseits hat es psychologische Vorteile, die eigene Bisexualität nicht zu verbergen, andererseits birgt es auch — paradoxerweise — psychologisches Gefahrenpotenzial. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2017 mit dem smarten Titel »To ›B‹ or not to ›B‹« zeigte das ganz deutlich.13 Die Untersuchung wurde von den beiden Arbeits- und Wirtschaftsforscher*innen an der University of Memphis, David Arena und Kristen Jones, durchgeführt; sie stellten fest, dass innerhalb der amerikanischen Stichprobe 109 bisexuelle Teilnehmer*innen erheblich größere Bedenken äußerten, sich am Arbeitsplatz zu outen, als die ebenfalls befragten 95 homosexuellen Männer und 97 lesbischen Frauen. Laut Arena und Jones war das vor allem darauf zurückzuführen, dass die bisexuellen Teilnehmer*innen eine zweifache Diskriminierung durch homosexuelle und heterosexuelle Arbeitskolleg*innen befürchteten.

Das ist sicherlich interessant, aber insbesondere die zweite Studie dieses Forscher*innenteams erregte meine Aufmerksamkeit; daran nahmen 512 heterosexuelle Probanden mit einem durchschnittlichen Alter von 34 Jahren teil, hälftig Frauen und Männer. Die Teilnehmer*innen wurden aufgefordert, die Perspektive eines Mitgliedes der Berufungskommission einzunehmen, die eine*n neue*n Mitarbeiter*in einstellen soll. Anschließend mussten sie, in ihrer Rolle als Mitglied der Berufungskommission, Lebenslauf und Bewerbungsschreiben eines fiktiven Bewerbers beurteilen. Zu ihren Aufgaben gehörte es, das Bewerbungsschreiben zu lesen und Kandidat*innen aufgrund verschiedener Kriterien einzustufen: inwieweit sie beispielsweise die Informationen der Person in ihrem Anschreiben für angemessen hielten, ob sie sie als qualifiziert für die Aufgabe betrachteten, ob sie zur Organisation passte, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass sie die Person einstellten, und was sie als angemessenes Einstiegsgehalt betrachten würden.

Ohne Wissen der Teilnehmenden wollten die Forscher*innen herausfinden, ob es eine Rolle spielte, wenn ein*e fiktive*r Bewerber*in bisexuell war. Die Wissenschaftler*innen hatten allen Teilnehmenden denselben Lebenslauf und dasselbe Bewerbungsschreiben gegeben, bis auf eine winzige Modifikation — ein einziges Wort veränderte, ob der Bewerber homosexuell oder bisexuell war oder ob er seine sexuelle Orientierung nicht preisgab. Die Bewerbungsschreiben enthielten entweder den Satz: »Als Homosexueller musste ich gelegentlich Schwierigkeiten überwinden, um die Sympathie und den Respekt meiner Kolleg*innen zu gewinnen«, oder die ersten beiden Wörter waren ersetzt durch »Als Bisexueller« oder »Als willensstarker Mann«. Nur eine kleine Veränderung, die eigentlich keine Auswirkung darauf haben sollte, ob man jemanden als geeigneten Kandidaten für eine bestimmte Position einstuft, richtig?

Die Studie kam zu dem Schluss, dass »es zu einer Reihe negativer Konsequenzen führen kann, offen mit der eigenen Bisexualität umzugehen«. Bisexuelle Bewerber*innen erzielten aus unterschiedlichen Gründen ausnahmslos niedrigere Bewertungen als ihre Mitwerber*innen. Woran mag das liegen? Offen mit der eigenen Sexualität umzugehen wurde bei Bisexuellen als »unangemessener« eingeschätzt, als dies bei homosexuellen Bewerbern der Fall war: Das Schreiben des bisexuellen Bewerbers wurde als weniger angemessen beurteilt als dasjenige des homosexuellen Kandidaten. Grund dafür sind wahrscheinlich die verschiedenen Aspekte, die wir bereits besprochen haben, aber eben auch, dass Bisexualität meist als etwas Sexuelles und Persönliches und weniger als eine Identität gesehen wird. Wenn jemand in seinem Bewerbungsschreiben angibt, bisexuell zu sein, könnte das so aufgefasst werden, als würde derjenige auf Dreier stehen … und das hätte ja tatsächlich in einem Bewerbungsschreiben nichts zu suchen.

Bisexuelle Bewerber*innen wurden gewissermaßen für ihre sexuelle Orientierung abgestraft. Die als »unangemessen« beurteilten Hinweise auf ihre Bisexualität wirkten sich auf andere Aspekte in der Entscheidungsfindung aus. Unter anderem wurde ein deutlich niedrigeres Einstiegsgehalt geboten: Das in der Studie empfohlene Einstiegsgehalt für bisexuelle Bewerber*innen lag bei 30.126,99 USD, für homosexuelle Bewerber*innen betrug es 33.183,10 USD. Denjenigen, die keine Angaben über ihre Sexualität machten, schlug man ein Einstiegsgehalt von 35.555,19 USD vor. Mit anderen Worten: Ein Gehaltsnachteil von 15 Prozent für offen bisexuelle Bewerber*innen.

In einigen Ländern gilt es innerhalb eines bestimmten Kontextes als ungesetzlich, Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung zu diskriminieren, Bisexualität eingeschlossen. Zu diesen Ländern zählen unter anderem die EU-Mitgliedsstaaten, das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten und Kanada. Im Arbeitsumfeld beinhaltet das auch den Schutz davor, aufgrund der sexuellen Orientierung entlassen oder belästigt zu werden.

Als Ergebnis der umfassenden Richtlinien für Gleichbehandlung im Jahre 2000 wurde Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung in bestimmten Kontexten innerhalb der Europäischen Union verboten — ebenso wie Diskriminierung aus Gründen der Religion oder Weltanschauung, Behinderung und Alter (Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, ›race, und Geschlecht war bereits verboten). Das Vereinigte Königreich übernahm die Richtlinien 2003 durch die Employment Equality (Sexual Orientation) Regulations und vor Kurzem auch im Equality Act von 2010. Eine unmittelbar vor der Einführung dieser Richtlinien durchgeführte Umfrage ergab, dass 26 Prozent der Gewerkschaftsvertreter*innen mit Klagen über Belästigung und Diskriminierung konfrontiert waren.14

In den Vereinigten Staaten wurde eine vergleichbare Regelung erst vor erstaunlich kurzer Zeit eingeführt: Der Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund von sexueller Orientierung wurde erst 2020 vom Obersten Gerichtshof auf föderaler Ebene anerkannt, gewährt aber nur einen begrenzten, jeweils von Bundesstaat zu Bundesstaat unterschiedlichen Schutz. Das umfassendere Gesetz zur Nichtdiskriminierung am Arbeitsplatz muss erst noch verabschiedet werden, obwohl eine erste Version bereits 1974 eingeführt wurde. Es ist also gar nicht so lange her, dass Betroffene auf Grundlage des Titels VII des Bürgerrechtsgesetzes gegen Diskriminierung vorgehen mussten. Titel VII legt (unter anderem) fest, dass Mitarbeiter*innen nicht aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden dürfen. Letztlich führte diese Regelung zu einer, wie der Rechtswissenschaftler Thomas Lloyd an der Fordham University es formuliert, »gesetzlichen Absurdität« — denn wer sowohl Frauen als auch Männer belästige, komme ungeschoren davon.15

Lloyd zufolge kann »ein Mann, der eine Frau am Arbeitsplatz belästigt und somit sexuell diskriminiert, grundsätzlich behaupten, er belästige auch Männer und diskriminiere daher nicht aufgrund des Geschlechtes. Folglich treffen die Rechtsansprüche von Titel VII auf ihn nicht zu, und er kann weder von weiblichen noch männlichen Opfern belangt werden.« Moralisch ergibt das wenig Sinn, in rechtlicher Hinsicht sieht die Sache anders aus. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts setzt voraus, dass man Menschen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit unterschiedlich behandelt. Wer also nachweist, dass er Männer und Frauen gleich behandelt, diskriminiert demnach nicht. Praktisch bedeutet das, so Lloyd, dass jemand nicht belangt werden kann (für Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, nicht jedoch Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung) — zumindest nicht auf Grundlage des Arbeitsrechts —, wenn er den Schaden verdoppelt.

Das mag eine juristische Spitzfindigkeit sein, unstrittig ist jedoch die viel wichtigere Tatsache, dass Bisexuelle mit überproportional hoher Wahrscheinlichkeit am Arbeitsplatz belästigt werden — ein weiterer möglicher Nachteil eines Coming-out. Der britische Gewerkschaftsbericht aus dem Jahr 2019 zum Thema LGBT+-Belästigung am Arbeitsplatz stellte einen schockierend hohen Anteil von Belästigungen bei Bisexuellen fest. 30 Prozent der bisexuellen Menschen in ihrer Stichprobe berichteten von unerwünschten Berührungen, etwa am Rücken oder am Knie; 21 Prozent berichteten von sexuellen Übergriffen, beispielsweise unerwünschter Berührung der Brust, des Gesäßes oder der Genitalien oder dem Versuch, sie zu küssen; 11 Prozent berichteten von schwerwiegenden sexuellen Übergriffen oder Vergewaltigungen am Arbeitsplatz. Die Folgen für die Betroffenen und das Unternehmen waren weitreichend — neben den nachteiligen Auswirkungen auf den allgemeinen Gesundheitszustand der Betroffenen verließen 12,5 Prozent der Bisexuellen, die Opfer sexueller Belästigungen geworden waren, ihren Arbeitsplatz.

Das muss nicht sein.

Insbesondere Arbeitgeber*innen sollten sich für die Integration und den Schutz bisexueller Arbeitnehmer*innen einsetzen — tatkräftig und nicht nur mit Worten. Wer sich auf Lippenbekenntnisse beschränkt, betreibt einfach nur rainbow-washing (vermeintliche Unterstützung der LGBT+-Community aus rein geschäftsfördernden Gründen). Oder, um das berühmte Motto der Suffragetten-Bewegung zu zitieren: Taten statt Worte. Wir brauchen Verbündete außerhalb der Bisexuellen-Community, die für unsere Sache kämpfen, denn einen LGBT+-inklusiven Arbeitsplatz zu schaffen kann nicht nur ein unbezahlter Nebenjob für queere Menschen sein.

Ein wichtiger erster Schritt besteht in der Erkenntnis, dass bisexuelle Mitarbeiter*innen am Arbeitsplatz mit anderen Sorgen und Problemen konfrontiert sind als schwule und lesbische Kolleg*innen. In diesem Sinne schlagen Arena und Jones vor: »Um ein solches Umfeld zu fördern, ist zunächst einmal die Anerkennung von Bisexualität als eine eigenständige und konkrete Identität nötig.« Deswegen »sollten Organisationen darauf achten, eine inklusive und unterstützende Unternehmenskultur zu fördern, die Bisexualität ausdrücklich akzeptiert. Zielführend wäre hier beispielsweise die Sensibilisierung und Aufklärung über Probleme im Zusammenhang mit der Diskriminierung von Bisexualität in Diversitäts-Schulungen.« Diese Maßnahmen können darüber hinaus sexuelle Belästigung verhindern: Indem sie Bisexualität legitimieren, holen sie das Thema aus einem gefährlich sexualisierten Umfeld. Bisexualität darf außerdem nicht in der breiten Diskussion über LGBT+-Probleme untergehen. Bisexualität braucht ihre eigenen Räume.

Wie Ihr individueller Beitrag zur Erhöhung der Sicherheit am Arbeitsplatz jeweils aussehen könnte, hängt von Ihrer Position innerhalb der Organisation, Ihrer finanziellen Unabhängigkeit und anderen Umständen ab.

Ich selbst habe Glück, da ich über eine gewisse Verhandlungsmacht verfüge. Seit einiger Zeit mobilisiere ich diese Macht, um in Arbeitskontexten authentischer zu sein. Ich erwähne inzwischen gegenüber neuen Kolleg*innen oder bei Bewerbungsgesprächen, dass ich bisexuell bin. Ich komme nebenbei darauf zu sprechen und lasse es wie etwas ganz Normales ins Gespräch einfließen. Ich fühle mich dadurch in meiner Sexualität ermächtigt, empfinde sie nicht mehr als etwas Anstößiges, das ich verstecken muss. Und außerdem ist es eine Art Lackmustest: Reagiert mein Gegenüber bei einem Bewerbungsgespräch mit Unverständnis — oder Schlimmerem —, dann ist dies kein passendes Arbeitsumfeld für mich, und ich werde versuchen, diesen Jobs aus dem Weg zu gehen. Ich habe die Freiheit einer bisexuellen Authentizität am Arbeitsplatz schätzen gelernt und möchte sie nicht mehr missen.

Wenn Sie die Möglichkeit haben, am Arbeitsplatz offen bi zu sein, zögern Sie bitte nicht. Tun Sie es für alle, die es, aus welchen Gründen auch immer, bisher unterlassen haben, sich bei der Arbeit mit ihrem ganzen Selbst einzubringen. Tun Sie es für Ihre jüngeren Kolleg*innen und für alle weniger Privilegierten oder alle, die weniger Macht haben. Es bewirkt mehr, für Sie persönlich und für Ihre Kolleg*innen, als Sie vielleicht denken, und Sie leisten auf diese Weise einen Beitrag gegen die Diskriminierung Bisexueller am Arbeitsplatz.

Menschen verbergen ihre Bisexualität nicht nur zu Hause und am Arbeitsplatz. Stonewall schreibt: »Bisexuelle outen sich durchgängig in allen Lebensbereichen seltener, sei es zu Hause, während der Ausbildung, bei der Arbeit oder als Teil einer Glaubensgemeinschaft.«16 Das wirkt sich nicht nur innerhalb dieser Kontexte aus, sondern betrifft auch die mentale Gesundheit der Einzelnen. Die Forscher Pachankis und Bränström schreiben in ihrer Studie über verheimlichte sexuelle Orientierung (global closet study): »Das Verbergen der sexuellen Orientierung kann zu tiefgreifenden mentalen und physischen gesundheitlichen Störungen führen.«17 Angesichts der Tatsache, dass bisexuelle Menschen mit größerer Wahrscheinlichkeit im Verborgenen leben, kann man davon ausgehen, dass gerade sie unverhältnismäßig stark unter den psychischen und physischen Folgen leiden.

Heimlich bisexuell zu sein hat tiefgreifende Folgen. Das gilt insbesondere für diejenigen, die der Sexologe Fritz Klein mit dem Begriff »verwirrt« bezeichnet hätte. Gemeint sind damit alle bisexuellen Menschen, die gegen ihre sexuelle Orientierung ankämpfen. Dazu gehört auch das Problem, dass man sich outen möchte und nicht dazu in der Lage ist.

Eigenartigerweise wird in vielen Studien, die ich zum Thema psychische Gesundheit bisexueller Menschen gelesen habe, über den Mangel an Forschung in diesem Bereich geklagt; ich muss jedoch gestehen, dass ich eher die Qual der Wahl hatte. Den Versuch, ein psychologisches Profil bisexueller Menschen zu erstellen, halte ich allerdings nicht für sinnvoll. Das könnte zu einer irreführenden »Fremdbestimmung« führen. Stellen Sie sich mal vor, wie viele Menschen auf die Barrikaden gingen, wenn man ein heterosexuelles Persönlichkeitsprofil anlegen würde! Etwa so: Heterosexuelle sind durchschnittlich intelligent veranlagt, etwas ängstlich und leiden häufig unter wahnhaften … Total undenkbar. Und dasselbe gilt für bisexuelle Menschen. Psychologische Profile geben niemals die Vielfalt der Sexualitäten wieder.

Dennoch sollten wir uns damit befassen, warum in Untersuchungen immer wieder festgestellt wurde, dass sexuelle Minderheiten unverhältnismäßig häufig von psychischen Problemen betroffen sind. Am besten nähert man sich der Fragestellung mit einem Blick durch die Brille der Orthopsychiatrie, ein interdisziplinäres Feld, das sich mit den Schnittstellen von psychischer Gesundheit, sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten auseinandersetzt und schwerpunktmäßig auf die Prävention psychischer Störungen und die Wiederherstellung psychischer Gesundheit abzielt.18 Anstatt dem Einzelnen die volle Verantwortung für sein eigenes psychisches Wohlbefinden zuzuweisen, geht dieser Ansatz davon aus, dass die individuelle psychische Gesundheit vom jeweiligen sozialen Kontext abhängt.

2019 haben der Nachwuchswissenschaftler Chaïm La Roi und seine Kolleg*innen eine Studie über die Unterschiede von »Dimensionen der sexuellen Identität« zwischen bisexuellen und anderen sexuellen Minderheiten im American Journal of Orthopsychiatry19 veröffentlicht. Sie stellten fest, dass Forschungen, die sich mit der Gesundheit sexueller Minderheiten beschäftigten, typischerweise die Daten aller sexuellen Minderheiten gesammelt betrachteten und somit die spezifischen Risikofaktoren einer bestimmten Gruppe nicht berücksichtigten. Sieht man sich die Daten jedoch gesondert an, so La Roi und Kolleg*innen, »ergibt sich für bisexuelle Individuen ein vergleichsweise hohes Risiko psychischer Gesundheitsprobleme, wie Suizidalität, depressive Symptome und andere Stimmungs- und Angststörungen«. In Zusammenhang mit der höheren Anzahl von Angstzuständen und Depressionen ermittelte eine Studie im Jahr 2020 ein erhöhtes Risiko nicht-suizidaler Selbstverletzungen bei bisexuellen Menschen.20

Übereinstimmend mit vielen anderen Wissenschaftler*innen argumentieren auch La Roi und Kolleg*innen, dies habe »mit den Besonderheiten einer bisexuellen Identität zu tun«. Letztere führt er nahezu ausschließlich darauf zurück, wie bisexuelle Menschen behandelt werden, und nicht etwa auf bisexuellen Menschen inhärente Persönlichkeitsmerkmale. Die Forscher*innen heben vier Faktoren als wesentlich hervor.

Erstens erfahren bisexuelle Menschen eine doppelte Diskriminierung. Das besagt, dass sie nicht nur innerhalb der heterosexuellen, sondern auch innerhalb der queeren Community mit Biphobie konfrontiert sind. In einer Studie mit 745 bisexuell identifizierten Teilnehmenden, die Tangela Roberts und Kolleg*innen 2015 veröffentlichten, stellten die Wissenschaftler*innen fest, dass »bisexuelle Menschen Monosexismus, also die Bevorzugung der sexuellen Anziehung zu einem Geschlecht oder Gender, von heterosexuellen, schwulen und lesbischen Communitys erfahren«.21 Obwohl Biphobie häufiger in Interaktionen mit Heterosexuellen auftrat, war es nur geringfügig mehr als in den Kontakten mit schwulen oder lesbischen Menschen. Die spezifische Art der Biphobie, die Menschen erleben, lassen sich als »anti-bisexuelle Vorurteile« bezeichnen, darunter auch jenes, dass Bisexualität eine »Phase« sei und bisexuelle Menschen sich sexuell unverantwortlich verhielten.22

Zweitens besteht eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass Bisexuelle sich outen. Darüber haben wir bereits gesprochen. Forschungen haben ergeben, dass aufgrund von Faktoren, die mit der doppelten Diskriminierung zusammenhängen, Bisexuelle das Stigma einer Bi-Identität auf besondere komplexe Weise umgehen müssen, was wiederum zu der geringeren Wahrscheinlichkeit eines Coming-out im Vergleich zu anderen sexuellen Minderheiten führt. Das muss nicht zwingend bedeuten, dass sich bisexuelle Menschen als heterosexuell darstellen; mit einiger Wahrscheinlichkeit stellen sie sich in queeren Umfeldern jedoch als lesbisch oder schwul dar.23 Das sind keine guten Nachrichten: Forschungen belegen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Verbergen der sexuellen Identität und insgesamt niedrigerem Wohlbefinden und gesteigerten depressiven Symptomen.24 Die psychische Gesundheit bisexueller Menschen könnte daher sowohl in Bezug auf die doppelte Diskriminierung als auch auf das Dasein als Außenseiter verbessert werden, indem man insbesondere in Schulen und der Öffentlichkeit gezielt falsche Vorstellungen über Bisexualität anspricht.

Drittens sind bisexuelle Menschen im Vergleich zu anderen sexuellen Minderheiten isolierter. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie queere Communitys aufsuchen und sich ihnen zugehörig fühlen, ist geringer.25 Das ist insofern problematisch, als queere Communitys die Belastungen der Diskriminierung abfedern und generell mit der Gesundheit und Widerstandskraft sexueller Minderheiten in Zusammenhang stehen. Bisexuellen, denen der Zugang zu diesen Gruppen nicht gelingt, haben größere Probleme, die mit sexueller Orientierung verbundenen Stigmata zu verkraften. Da die Diskriminierung auch innerhalb der LGBT+-Gruppen vorkommen kann, können gerade bi-spezifische Gruppen und Räume für Bisexuelle wichtig sein. Bisexuelle Communitys im Netz bieten besonders leicht zugängliche und sichere Räume.26

Viertens haben Bisexuelle häufig mit verinnerlichter Biphobie zu kämpfen. Ihre Unsicherheit in Bezug auf die eigene sexuelle Identität ist häufig größer als die anderer sexueller Minderheiten, und sie nehmen ihr Bisexuell-Sein als nicht so wichtig wahr. Menschen mit verinnerlicherter Biphobie leiden häufig an psychischen Problemen. Erwartungsgemäß ist die psychische Gesundheit stärker in Mitleidenschaft gezogen, je ausgeprägter die verinnerlichte Biphobie ist. Die Ergebnisse einer großen, 2019 veröffentlichten australischen Studie haben diese Befunde bestätigt.27

Aus der Gesamtheit dieser Faktoren lässt sich ein größeres Risiko Bisexueller in Bezug auf ihre psychische Gesundheit ableiten. Wer ständig zu hören bekommt, ein Teil seines Selbst sei nicht real oder schändlich, wird sich schwer damit tun, das auf Dauer nicht an sich heranzulassen.

Wenn bisexuelle Menschen schließlich professionelle Hilfe suchen, sind die Ergebnisse ebenfalls beunruhigend. 2021 wurde die bisher größte Studie über bisexuelle Menschen mit 2651 bisexuell identifizierten australischen Teilnehmer*innen veröffentlicht. Die Studie untersuchte auch den Zugang zu und die Erfahrungen mit psychologischen Diensten. Die Studie stellt fest: »Trotz hoher Inanspruchnahme dieser Dienste bestehen dort immer noch Barrieren für bisexuelle Menschen.« Viele der Teilnehmenden fühlten sich nicht in der Lage oder nicht sicher genug, sich als bisexuell zu outen. Von denjenigen, die sich dort offen als bisexuell bezeichneten, machte die Hälfte gute Erfahrungen, während »49 Prozent der Befragten der Meinung waren, dass ihre professionellen Ansprechpartner entweder nur geringe oder überhaupt keine Kenntnisse über die Arbeit mit Bisexuellen besaßen«.28

Forschungen über Vorurteile gegenüber Bisexuellen haben außerdem ergeben, dass »zu bisexuellen und anderen nicht-monosexuellen individuellen Erfahrungen mit Diskriminierung noch andere diskriminierende Faktoren, basierend auf marginalisierten Facetten der Identität, einschließlich race/ethnischer Herkunft, Gender und sozioökonomischem Status, hinzukommen können«.29 Diese Intersektionalität kann zu einer vielschichtigen Stigmatisierung führen. Weil Bisexuelle als Grenzgänger gesehen oder, anders ausgedrückt, häufig als zwischen den heterosexuellen und homosexuellen Welten stehend verortet werden, ergeben sich einige interessante Überschneidungen mit Menschen, die sich — in anderen Kontexten — ebenfalls als zwischen den gesellschaftlichen Welten lebend empfinden.

Stigma und Vorurteil können sich auf vielerlei Arten überlagern. Als bisexuelle Frau erfahre ich eben nicht nur Sexismus und Biphobie, sondern daneben gibt es noch andere Faktoren, die sich nicht von eine bisexuelle Frau sein abspalten lassen. Wer sich viel Mühe gibt, dem gelingt eine Trennung dieser vielen Schnittstellen vielleicht, aber diejenigen, die ein Stückchen von mir bekommen, bekommen meist etwas aus beiden Schichten, wenn auch jedes Mal in unterschiedlichen Mengen. Um diese Vorstellung der Identitätsschichten zu erforschen, stelle ich Ihnen im Folgenden drei Schnappschüsse von intersektionalen, bisexuellen Lebensläufen vor.

Der erste bildet die Intersektionalität der Kategorien männlich, bisexuell und Person of Colour ab. Forscher*innen haben wiederholt festgestellt, dass Schwarze, Latino- und chinesische Männer, die sich bisexuell verhalten, nicht nur mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Bisexualität verschweigen, sondern sich auch höchst ungern als bisexuell outen. Untersuchungen auf queeren Dating-Apps und vergleichbaren Anwendungen im Netz haben gezeigt, dass Bi-People of Colour neben doppelter biphobischer Diskriminierung auch mit sexuellem Rassismus und sexueller Objektifizierung rechnen müssen.30 Da queere Männer aus solchen Umfeldern mit größerer Wahrscheinlichkeit weniger Zugang zu queeren Communitys haben und im Allgemeinen weniger gut über sexuelle Gesundheitsrisiken in Bezug auf queere Sexualitäten informiert sind, besteht für sie eine erhöhte Gefahr riskanter sexueller Begegnungen und der damit verbundenen sexuell übertragbaren Infektionen, etwa HIV.31

Obwohl es fraglos wichtig ist, intersektionale Zusammenhänge zu erkennen, sind Untersuchungen über die Erfahrungen von Bi-People of Colour dennoch häufig sehr limitiert. Bereits die Studie selbst ist stigmatisierend: So beschäftigt sich wahrscheinlich ein Großteil der Forschungsliteratur über Bi-People of Colour mit dem Risiko einer HIV-Übertragung zwischen Männern. Dabei werden jedoch nicht einmal die entsprechenden gesundheitlichen Auswirkungen bei verhaltensmäßig bisexuellen Männern untersucht, sondern ein unverhältnismäßig hoher Anteil der Studien beschäftigt sich mit den gesundheitlichen Folgen für die infizierten heterosexuellen Partnerinnen. Bi-Männer werden als Transmitter stigmatisiert, die HIV von homosexuellen Communitys in heterosexuelle hineintragen.

Wer sich in die entsprechende Literatur vertieft, kann kaum umhin, wütend zu werden. Lori Ross war ebenfalls alles andere als zufrieden mit dem Stand der Forschung über Bi-People of Colour.32 Sie forscht an der University of Toronto in Kanada und hat die mentale Gesundheit und den Bedarf an öffentlicher Unterstützung in marginalisierten Bevölkerungsgruppen intensiv untersucht. Wie einige andere Wissenschaftler*innen, die sich mit queeren Menschen beschäftigen, verwendet Ross, wenn sie sich über ihre Arbeit äußert, häufig das Akronym LGBTQ2S+. 2S steht hier für two-spirit (ungefähr: zwei Geister). Die indigene Wissenschaftlerin Margaret Robinson, die sich als two-spirit und bisexuell identifiziert, erläutert den Begriff folgendermaßen: »Two-Spirit ist eine Übersetzung des Begriffs niizh manidoowag der Ojibwa und als Identität 1990 aufgetaucht. Er beschreibt Menschen mit drittem und viertem Gender innerhalb einer indigenen Kultur (etwa die Ureinwohner Kanadas, die sogenannten First Nations, Métis, Inuit, amerikanische Ureinwohner*innen und Alaska-Natives) im heutigen Nordamerika.«33 Dies schließt, nach meinem Verständnis, auch Menschen mit männlichem und weiblichem Geist ein und verweist, wenn auch in etwas abgewandelter Form, auf die Idee des nicht-binären Menschen.

Lori Ross untersuchte insbesondere, ob und wie Bi-People of Colour innerhalb der Forschung zur psychischen Gesundheit repräsentiert sind. In Untersuchungen zusammen mit einer Kollegin stellte sie fest, dass viele Forscher*innen, obgleich sie behaupteten, Bi-People of Colour in ihren Stichproben zu berücksichtigen, keine getrennte Erhebung von deren Daten durchführten und somit auch nicht aufschlüsseln konnten, inwieweit diese Gruppe mit unterschiedlichen Problemstellungen aufgrund ihrer Ethnizität konfrontiert war. Laut Ross beschäftigten sich von 324 wissenschaftlichen Aufsätzen nur »7 Prozent mit Ergebnissen, die sich spezifisch auf Bi-People of Colour bezogen, neben den weißen Teilnehmer*innen und anderen sexuellen Minderheiten«.

Somit wurde nicht nur deren Sexualität unter dem Begriff LGBTQ2S+ subsumiert, sondern auch ihre ethnische Zugehörigkeit gelöscht. Ross und Kolleg*innen fassen zusammen: »Bi-People of Colour leben komplexe intersektionale Identitäten, die Bi-Negativität, Rassismus und Unsichtbarkeit einschließen.« In der Forschung zur psychischen Gesundheit bisexueller Menschen haben People of Colour bislang nur marginal Beachtung gefunden. Weder das eine noch das andere hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten wesentlich entwickelt. Das liegt nicht etwa daran, dass Bisexuelle of Colour in Studien über Bisexualität nicht berücksichtigt würden. Problematisch ist vielmehr, dass ihre spezifischen Erfahrungen innerhalb der Stichprobe homogenisiert werden.

Meiner Ansicht nach spiegelt sich der Mangel an einer Forschung, die den besonderen Bedürfnissen und Wünschen von Bi-People of Colour gerecht wird, auch darin wider, dass diese Gruppe bei Bi-Veranstaltungen oder in Bi-Räumen kaum repräsentiert ist. Als ich einmal eine bisexuelle Freundin — sie ist britisch-indisch — fragte, ob sie Teil einer bisexuellen Community sei oder jemals an einem Bi-Pride teilgenommen habe, erklärte sie mir: »Nein. Ich fühle mich dabei niemals mitgemeint.« Auf diesen Punkt kommen wir im siebten Kapitel in der Diskussion über bisexuelle Räume noch einmal zu sprechen.

Überlegen wir nun, auf Grundlage des zweiten Schnappschusses, was es bedeutet, jung, bisexuell und behindert zu sein. Queere behinderte Menschen erfahren ebenfalls ein vielschichtiges Stigma und haben insbesondere mit Heteronormativität und Ableismus zu kämpfen.34 2020 schrieb der Wissenschaftler Alex Toft: »Wenn die alltäglichen Schwierigkeiten Bisexueller bereits damit anfangen, dass es keine präzise Definition von Bisexualität gibt, sind die Schwierigkeiten eines behinderten Menschen in Bezug auf Sexualität ungleich größer und setzen bereits mit der Desexualisierung Behinderter ein, die eine Notwendigkeit von Bildung und Unterstützung in diesem Bereich schlicht leugnet.«35

Aus Tofts Untersuchungen geht hervor, dass Narrative um Bisexualität und Behinderung sich auf dreierlei Weise überschnitten. Erstens wurden sowohl die Bisexualität der Teilnehmenden und ihre Behinderung als auch die Beziehung dieser beiden Komponenten zueinander häufig missverstanden. Die Gegenüberstellung der Hypersexualität Bisexueller und die Entsexualisierung Behinderter führten nicht selten zu einer vollständigen Auslöschung der gesamten sexuellen Identität. Zweitens hatten die Teilnehmer*innen den Eindruck, sie müssten ständig anderen gegenüber ihre Behinderung und ihre Bisexualität unter Beweis stellen und sie damit bestätigen. Drittens erklärten sie, dass auch diejenigen, die ihre Identität als bisexuell und behindert akzeptierten, immer bemüht waren, beides irgendwie zu »reparieren«. Beispielsweise erklärte Tom, einer der Teilnehmer, welche Parallelen und Wechselwirkungen zwischen seiner Bisexualität und Behinderung bestanden: »Meine Eltern sind der Meinung, dass sich meine Sexualität auf mein Asperger-Syndrom zurückführen lässt, und als ich mich geoutet habe, meinten sie, dass wir daran arbeiten könnten. Dasselbe sagen sie auch zu meinem Autismus, ›das wird schon, in dem Bereich gibt es große medizinische Fortschritte‹.«

Die Teilnehmer*innen und Toft legten Wert auf die Feststellung, es gehe hier nicht darum, die Olympischen Spiele der Benachteiligung zu veranstalten. Die jungen behinderten Erwachsenen zeigten an Beispielen auf, wie sie Normen durch Disruption unterliefen oder repressive Annahmen enthüllten. Als ihre bisexuelle oder behinderte Identität gelöscht wurde, fanden viele Mittel und Wege, ihre Identität deutlich zu machen, und ließen sich weder als krank abstempeln noch bemitleiden. Eine andere Teilnehmerin — Amy — erklärt, jede Person, die an sie herantrete und sie zu ändern versuche, solle sich zunächst einmal »selbst ändern«. Letztlich rief Toft zu einem »bisexuellen/behinderten Bündnis« auf, denn schlussendlich stelle beides, in unterschiedlicher, aber durchaus miteinander in Zusammenhang stehender Weise, das Konzept der »Normalität« infrage.

Ein dritter »intersektionaler« Schnappschuss zeigt Menschen, die trans und bi sind. Die Politisierung der Trans-Körper ist Teil eines Kulturkrieges, der Trans-Menschen zum Sündenbock für das Unbehagen macht, das Diskussionen über den Geschlechtsbegriff und dessen Wandelbarkeit unfehlbar auslösen. Die Gewalt, Boshaftigkeit und Selbstgerechtigkeit, mit der diejenigen angegangen werden, die einfach nur ihr Leben in dem Körper leben wollen, den sie als richtig für sich selbst identifiziert haben, sind erstaunlich. Und es ist auch enttäuschend vorhersehbar, denn viele Menschen weichen reflexhaft vor denjenigen zurück, die sie als anders wahrnehmen. Sie gehen von der Annahme aus, dass Menschen, die sie nicht verstehen können, eine Bedrohung darstellen, und wollen die eigenen Ideologien über Gender und Sex keinesfalls kritisch hinterfragen.

Es liegt auf der Hand, dass Trans-Menschen und Bisexuelle Verbündete sind. Beide stehen für Fluidität und Zerstörung von Binarität, was viele Menschen als unangenehm und verstörend empfinden. Und Bi-Trans-Menschen stellen beide Binaritäten zugleich infrage. Die Schriftstellerin May Rude hat 2018 über ihre eigene Erfahrung im Übergang von männlich zu weiblich und von monosexuell zu bisexuell berichtet:

»Ich hatte geglaubt, jener Teil meines Lebens, in dem ich vorgab, etwas anderes zu sein, als ich tatsächlich war, liege hinter mir. Als ich mich als Trans-Lesbe outete, hörte ich auf vorzugeben, ich sei ein Mann und heterosexuell. Ich dachte, nun sei ich frei und könne die queere Frau sein, die ich war. Stattdessen wurde ich so gut darin, allen vorzumachen, ich sei nicht bi, dass ich anfing, mich regelrecht selbst zu hassen, sobald ich an Männer dachte. Und jeder Tag, an dem ich stolz erkläre ›ich bin bisexuell‹, ist Teil dieses Kampfes.

Ich bin bisexuell. Ich bin eine Frau, trans und bisexuell. Und ich bin es gern. Es gefällt mir, das alles zu sein.«36

Erst in der Diskussion über diese Intersektionalitäten verstehen wir, wie unterschiedlich die Erfahrungen Bisexueller sein können. Erst dann können wir Bisexualität treffend abbilden.

Ich komme nun auf ein Problem zu sprechen, über das meiner Ansicht nach unbedingt in diesem Kapitel gesprochen werden sollte. Es ist ziemlich düster, und ich habe Angst, darüber zu schreiben.

Christian Klesse ist ein angesehener Wissenschaftler und forscht über nicht-traditionelle Beziehungsstrukturen. 2011 schrieb er, dass Bisexuelle häufig als »zwielichtige Gestalten, nicht vertrauenswürdige Partner und promiskuitive Schlampen« beschrieben würden.37 Bisexuelle werden generell als exzessiv wahrgenommen, und diese bi-negative Haltung kann in einer Beziehung problematisch sein. Und sie kann darüber hinaus zu sexueller Gewalt führen.

Das Ausmaß der sexuellen Gewalt gegen bisexuelle Menschen und insbesondere bisexuelle Frauen ist schwindelerregend hoch. Sexuelle Gewalt ist immer eine Tragödie, und ob es sich dabei um eine bi- oder eine monosexuelle Person handelt, ist zunächst nicht ausschlaggebend. Wenn wir jedoch sexuelle Gewalt verstehen und verhindern wollen, sollten wir die Augen vor den zahlenmäßigen Verhältnissen ebenso wenig verschließen wie vor der Frage, warum diese Zahlen derart hoch sind. Dem National Intimate Partner Violence Survey des Centre for Disease Control (ungefähr: Studie zur Gewalt in Paarbeziehungen) im Jahr 2010 zufolge sind LGBT+-Menschen deutlich häufiger — und »bisexuelle Frauen unverhältnismäßig stark — von sexueller Gewalt betroffen als Heterosexuelle. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Vergewaltigung, physische Gewalt und/oder Stalking durch einen Intimpartner oder Vergewaltigung und sexuelle Gewalt (nicht Vergewaltigung) durch andere Täter erleben, ist verglichen mit Lesben und heterosexuellen Frauen eindeutig erhöht.«

Hier noch einige weitere, deprimierende Fakten der Studie:

Ein weiterer 2019 veröffentlichter Bericht aus den Vereinigten Staaten stellte ebenfalls fest, dass 63 Prozent der Bi-Frauen erklärten, von Vergewaltigungen betroffen gewesen zu sein. Darüber hinaus ermittelte die Studie auch, dass die sexuelle Orientierung ein unabhängiger Prädiktor war, selbst wenn man soziale Faktoren berücksichtigte wie ethnische Herkunft, Bildung, Einkommen und ob sich jemand offen zu seiner sexuellen Orientierung bekannte. Schlimmer noch: Der Bericht stellte sogar eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit mehrfacher sexueller Viktimisierung fest. Bei Bi-Frauen lag die Wahrscheinlichkeit, wiederholt angegriffen zu werden, um 7,3-mal höher als bei heterosexuellen Frauen.38

Der Bi Report von Stonewall aus dem Jahr 2020 legt einen anderen zeitlichen Rahmen zugrunde als die Studie aus den Vereinigten Staaten. Statt nach der Lebenszeit wurde hier nach erlebter sexueller Gewalt im vergangenen Jahr gefragt. Die Zahlenwerte sind daher entsprechend niedriger. Dennoch ermittelte Stonewall, dass im Vereinigten Königreich 13 Prozent der Bi-Frauen, 12 Prozent der Bi-Männer und 17 Prozent nicht-binärer Menschen Missbrauch durch Intimpartner im Jahr vor der Umfrage erlebt hatten.39 Damit liegen diese Gruppen weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Zum Vergleich: Nach Ergebnissen der Behörde für Nationale Statistik erfuhren 7,9 Prozent der Frauen und 4,2 Prozent der Männer der Gesamtbevölkerung im vergangenen Jahr häusliche Gewalt durch einen Partner.40 Ob die Angriffe direkt mit Bisexualität in Zusammenhang standen, ist für die Opfer schwer zu sagen. 42 Prozent der Bisexuellen gaben jedoch bei dieser Frage an, ihre sexuelle Orientierung könne ein ausschlaggebender Faktor bei ungewolltem sexuellem Kontakt gewesen sein.

Forschungen in einem universitätsspezifischen Kontext — in der Studie wurden über 6000 Student*innen befragt — ergaben, dass bei bisexuellen Frauen die Wahrscheinlichkeit sexueller Übergriffe auf dem Campus doppelt so hoch war wie bei heterosexuellen Frauen. Bi-Frauen, bei denen es zu einem Übergriff gekommen war, nahmen die Reaktion der Universität und die ihrer Mitstudent*innen weniger positiv wahr und fühlten sich in der universitären Gemeinschaft verlassener als heterosexuelle Frauen.41

Ein 2017 veröffentlichter Artikel mit dem Titel »Warum gerade wir?« erörterte einige Gründe für die sexuelle Gewalt gegen Bisexuelle. Hypersexualisierung sei eine der möglichen Ursachen, meinen Nicole Johnson und MaryBeth Grove, Wissenschaftlerinnen für Beratungspsychologie. »Hypersexualisierung macht die bisexuelle Identität einer Frau zu einem Mittel, entmenschlicht sie und beraubt sie ihrer Handlungsmacht. Sie ist nur noch ein Klischee, das sich im männlichen heterosexuellen Fantasierepertoire eingenistet hat und sie zum allzeit willigen männlichen Sex-Spielzeug degradiert.«42 Christina Dyar, die über die Gesundheit von sexuellen Minderheiten forscht, und Kolleg*innen kommen zu einem ähnlichen Schluss. Ihren Berichten nach werden bisexuelle weibliche Opfer sexuell promiskuitiver wahrgenommen als lesbische oder heterosexuelle Opfer: »Die vermeintliche Promiskuität wird mit einer höheren Verantwortlichkeit des Opfers in Verbindung gebracht: Dieses war vermeintlich deutlicher darauf aus, Sex mit dem Angreifer zu haben, oder hat ihn sogar ›zum Narren gehalten‹. Die Reaktion auf ihr Leid ist weniger empathisch, und dem Angreifer wird weniger Verantwortung zugeschrieben.«43 Im Klartext: Nicht nur, dass es für bisexuelle Frauen wahrscheinlicher ist, sexuelle Gewalt zu erfahren, es besteht auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass ihnen anschließend die Mitschuld daran zugeschrieben wird.

Christian Klesse hat argumentiert, »dies verkompliziert sich noch durch Überschneidung von Promiskuitätsdiskursen und Diskursen über race/Ethnizität und Klasse. Jenes Gewaltregime, das mit der Stigmatisierung durch eine Politik der Promiskuitätsunterstellung einhergeht, erhöht das Risiko für Frauen bestimmter gesellschaftlicher Schichten, sich zu outen oder sich in bestimmten kulturellen Kontexten zu bewegen und zu sozialisieren.«44 Die verschiedenen Schichten, über die wir bereits diskutiert haben, spielen auch bei sexueller Gewalt eine Rolle.

Johnson und Grove zufolge ist noch ein weiterer Faktor bei den erhöhten Werten für sexuelle Gewalt zu berücksichtigen, nämlich der intensivere Gebrauch von Drogen bei Bisexuellen. Zu diesem Ergebnis kam eine Reihe von Studien. Beispielsweise stellte eine Studie mit 126.463 Teilnehmer*innen fest — sie wurde 2020 in den Vereinigten Staaten veröffentlicht —, dass im Vergleich zu heterosexuellen und lesbischen Frauen, »bei bisexuellen Frauen eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit zum ›Komasaufen‹, Gebrauch von Marihuana, illegalen Drogen und auch Opioid-Missbrauch und Alkoholmissbrauch vorlag«.45 Hier soll jedoch niemand wegen Drogenmissbrauchs an den Pranger gestellt werden, sondern eine Gesundheitskrise deutlich gemacht werden — und zwar eine, die bisexuelle Menschen im Hinblick auf sexuelle Gewalt überproportional gefährdet.

Dieselben Faktoren, die dafür sorgen, dass Bisexuelle (insbesondere bisexuelle Frauen) eher angegriffen werden, führen vermutlich auch dazu, dass Bisexuelle nach den Übergriffen stärker leiden und diese schlechter verarbeiten. Verglichen mit heterosexuellen Frauen berichten bisexuelle Frauen häufiger von posttraumatischem Stress und Depressionen.46 Teilweise hat das mit bi-negativen Stereotypen in der Opferhilfe selbst zu tun; das bedeutet, dass für bisexuelle Menschen, die Opfer sexueller Gewalt wurden, häufig eine geringere Anzahl geeigneter Ressourcen zur Verfügung steht.

Ziemlich trostlos das alles, ich weiß.

Aber wir können helfen und zu einer Veränderung beitragen, indem wir uns dafür einsetzen, dass bi-freundliche psychologische Einrichtungen entstehen, und indem wir die Annahme infrage stellen, Bisexualität sei mit Hypersexualität gleichzusetzen, tragen wir dazu bei, eine sicherere Welt für bisexuelle Menschen zu schaffen.

Bevor wir diesen Bereich verlassen, möchte ich noch einen Punkt ansprechen. Manchmal befürchte ich, wir konzentrieren uns zu sehr auf die negativen Aspekte der Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit. Ohne die Schwierigkeiten verkennen zu wollen, wäre es aus meiner Sicht absolut verkehrt, unsere bisexuelle Identität ausschließlich darauf zu konzentrieren. Damit würden wir den Aggressoren zu viel Macht überlassen und alle Bisexuellen entmächtigen. Stattdessen sollten wir die Schwierigkeiten bisexueller Menschen zwar anerkennen, ihnen jedoch zugleich auch Respekt dafür zollen, dass sie sich in der soziosexuellen Welt zurechtfinden. Alles, was ich in diesem Abschnitt behandelt habe, soll dazu beitragen, durch Wissen zu ermächtigen und nicht durch Trauer zu schwächen. Die düsteren Aspekte werden hoffentlich nicht das Licht überschatten, das mit Bisexualität einhergeht.

In diesem Sinne möchte ich jetzt die Tonlage wechseln und mich mit einigen der erfreulicheren psychologischen Aspekte beschäftigen, die ebenfalls dazu gehören, wenn man sich als bi outet.

Clive Davis hatte sein bisexuelles Coming-out als Achtzigjähriger.

Davis war in den späten Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre der Präsident von Columbia Records gewesen und hatte eine Schlüsselrolle in der Karriere vieler Pop-Legenden gespielt, darunter Janet Jackson und Lauryn Hill. In der Öffentlichkeit war lediglich bekannt, dass Davis zweimal verheiratet war; nicht bekannt war, dass er auch Beziehungen zu Männern hatte. Als er in seiner Autobiografie seine Bisexualität »enthüllte« — wie es wiederholt bezeichnet wurde —, geriet er nicht nur aufgrund seiner Prominenz in die Schlagzeilen, sondern auch, weil er äußerlich überhaupt nicht dem Bild einer »queeren« Person entsprach. Wie die Zeitung The Guardian schrieb, »sah er aus wie der Inbegriff des alten weißen Mannes«; und er wirkte nicht nur wie ein Opa, sondern hatte tatsächlich Enkelkinder.

Die amerikanische Fernsehmoderatorin Katie Couric wollte in einem Interview wissen, warum er so lange mit seinem Coming-out gewartet habe. Hier ist ein Teil seiner Antwort:

»Erstens, und was die Tatsache betrifft, dass ich mich nicht outete, hielt ich das für eine persönliche Angelegenheit. Ich habe mich aber allen gegenüber, die mir nahestehen, sofort geoutet [in den Achtzigerjahren], und ich war [auch] engen Freunden gegenüber total offen. Ich habe eben bloß keine große Sache daraus gemacht. Dann gab es da noch die Haltung gegenüber Bisexualität, dass man entweder schwul oder heterosexuell oder ein Lügner ist. Das stimmt nicht. Als ich beschloss, meine Autobiografie zu schreiben, war mir klar, dass ich dazu unbedingt etwas sagen wollte, und das habe ich getan … man muss nicht nur das eine oder das andere sein.«

Anschließend erklärt er, er könne hoffentlich mit seinem Buch dazu beitragen, dass sich die Wahrnehmung von Bisexualität verändere, und adressierte auch einige der Stereotype, die ihn beunruhigen.

In einer der wenigen Untersuchungen, die es bisher zu diesem Thema gibt und die sich spezifisch mit dem Altern Bisexueller beschäftigen — die Studie wurde 2016 veröffentlicht —, stellten die Forscher*innen fest, dass in einer großen amerikanischen Stichprobe von über fünfzigjährigen LGB+-Menschen insbesondere bei denjenigen ein guter Gesundheitszustand ermittelt wurde, die zu einem großen sozialen Netzwerk gehörten und enge Kontakte zur lokalen queeren Community hatten. 47 Sich zu outen und Teil einer queeren Community zu sein ist demnach ein Faktor, der die Gesundheit bisexueller Menschen lebenslang schützt und erhält.

Zwischen diesen vorteilhaften Auswirkungen und den Befunden einer Befragung der Psychologin Sharon Rostosky und Kollegen besteht wahrscheinlich ebenfalls ein Zusammenhang; sie wollten von bisexuellen Teilnehmer*innen wissen, was diesen an ihrer sexuellen Orientierung gefiele. Demnach hat eine bisexuelle Selbst-Identifizierung eine ganze Reihe positiver Aspekte. Das überrascht mich keineswegs, denn ich habe ja schon erwähnt, dass ich es toll finde, bisexuell zu sein. Trotz Stigmatisierung und all dem gesellschaftlichen Unsinn? Ja, trotz alledem. Vielleicht macht auch gerade das einen Teil meiner Persönlichkeit aus: Es gefällt mir, Trägerin des Wandels zu sein und den Status quo infrage zu stellen.

Die Studie fand elf positive Aspekte der Identifizierung als Bisexuelle*r heraus: »Frei von gesellschaftlichem Schubladendenken, Ehrlichkeit, Authentizität, eine besondere Sichtweise zu haben, erhöhte Einsicht und bewusste Wahrnehmung, die Freiheit, Menschen unabhängig von Geschlecht/Gender zu lieben, die Freiheit, Beziehungen zu erforschen, Freiheit der sexuellen Ausdrucksfähigkeit, Akzeptanz von Diversität, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, sowohl Privilegien als auch Unterdrückung zu kennen, zu verstehen und sich zu engagieren.«48

Die Freiheit ist hier vielleicht das beherrschende Motiv, insbesondere die Freiheit, andere unabhängig von ihrer Genderidentität zu lieben, aber auch die Freiheit, diversifizierte Erfahrungen machen zu können. Eine kanadische Teilnehmerin der Studie beschrieb den für sie positivsten Aspekt, bi zu sein, folgendermaßen. »Wir (bisexuellen Menschen) besitzen das Potenzial, um die Ecke zu denken, in nicht-traditionellen Beziehungen zu leben und traditionelle Gender-Rollenverteilungen abzustreifen.« Das soll natürlich nicht heißen, Menschen, die nicht bisexuell sind, wären dazu nicht in der Lage; es besagt vielmehr, dass Bisexualität — mehr als anderen Sexualitäten — etwas innewohnt, das ein solches »um die Ecke denken« begünstigt.

Bisexuelle Menschen berichteten außerdem, sie hätten aufgrund ihrer Identität einen speziellen Blick auf sich selbst und die Gesellschaft. Bi zu sein führe zwar gelegentlich zu schwierigen Situationen, es sei aber zugleich ein radikaler, ermächtigender und aufregender Akt, zu einer Minderheit zu gehören. Eine amerikanische Teilnehmerin beschrieb es so:

»Mir macht es offen gestanden Spaß, die Minderheit innerhalb einer Minderheit zu bilden — viele meiner Identitäten sind minoritäre Identitäten — bisexuell, bi-ethnisch, jüdisch, weiblich —, und im Lauf der Zeit habe ich mich damit angefreundet, nicht zur Norm zu gehören. Aufgrund meiner intersektionalen Identitäten habe ich einen besonderen Blickwinkel. Ich halte das für eine gute Sache … ich kann die unterschiedlichsten Erfahrungen heranziehen … und … auf unterschiedliche Möglichkeiten zurückgreifen, um Kontakt zu anderen aufzunehmen.«

Zweifellos liegt es an der Fähigkeit, sich auf viele verschiedene Menschen einzustellen, dass bisexuelle Menschen häufig berichten, sie hätten aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ein erweitertes Verständnis für Privilegien und Unterdrückung. Für viele war das der Auslöser, sich für andere in ihrer Community einzusetzen und Bi-Aktivist*innen zu werden.

Denn letztlich können wir nur gemeinsam als Bi-Community etwas an den erhöhten Risiken und Problemen ändern, denen bisexuelle Menschen physisch und psychisch derzeit noch ausgesetzt sind. Meiner Meinung nach müssen bisexuelle Menschen ihre sexuelle Orientierung nicht an die große Glocke hängen, aber ich fände es schön, wenn mehr Menschen einen Bi-Kuchen backen und sich ihren Nächsten gegenüber offen erklären würden.