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Unsichtbar

In einer Lesben-Bar in London wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie hetero ich aussehe.

Ich hatte ein Date in der Friendly Society, ein Ort des Stilmix mitten in London. Direkt von der geschäftigen Straße führt eine Treppe hinunter in die im Souterrain gelegene Cocktailbar. Ein Potpourri unterschiedlich gemusterter Tapeten ziert die Wände, Hunderte von Barbie-Puppen in diversen Stadien der Entkleidung hängen an der Decke, die niedrigen Stühle sehen aus wie Zwerge, auf deren Köpfen man Platz nimmt, und Disco-Kugeln sowie andere Dekorationselemente sind im ganzen Raum verteilt. Das Ganze mutet an wie die Kreuzung aus einer schicken Bar und einem Kinderzimmer.

Im Hintergrund spielten Hits aus den Achtzigerjahren, während meine Freundin und ich uns unterhielten, herumschäkerten und lachten. Wir schlürften unsere Gin Tonics und fühlten uns glücklich und sicher. Wir küssten uns. Und dann küssten wir uns noch mal. Das Date lief richtig super. Aber dann mischten sich plötzlich zwei Frauen vom Nachbartisch ein. Die beiden, schätzungsweise Lesben, fingen an, hämisch herumzukichern. Anlasslos und unaufgefordert bemerkte die eine: »Ich glaub euch nicht.« Ein Kommentar, der vor Bösartigkeit nur so triefte, und leider wussten wir ganz genau, was sie damit sagen wollte.

Wir sehen beide sehr weiblich aus und passen irgendwie nicht ins queere Schema. Es war daher auch nicht das erste Mal, dass wir etwas Derartiges hörten. Für die beiden am Nachbartisch sahen wir aus wie Heterosexuelle, die sich lesbisch gaben. Dennoch fand ich es entmutigend, dass ich sogar in einer Lesben-Bar, in der ich mit einer Lesbe verabredet war und sie küsste, offenbar nicht queer rüberkam.

Die Bemerkung hatte meine Freundin und mich ziemlich verletzt, doch ehe wir antworten konnten, kam uns ein in der Nähe sitzender junger Mann im extravaganten Outfit zuvor. »Ihr zwei seht so heiß aus!«, erklärte er, und sein freundlicher, solidarischer Blick sollte uns wohl beruhigen, ebenso wie seine folgenden Kommentare, was wir für ein süßes Pärchen seien. Obwohl er ebenfalls ein bisschen viel Wirbel um uns machte, wussten wir ihn als Verbündeten zu schätzen. Nur eine Stunde später, als wir vor der Bar auf den Bus warteten, wurden wir erneut angesprochen, diesmal von einer Gruppe junger Männer.

Wir befanden uns nicht mehr in der (relativ) sicheren Bar. Händchenhalten und Herumschmusen war nun riskanter. Sogar in Soho, dem Londoner Stadtviertel, das am meisten mit Queer-Kultur in Verbindung gebracht wird, nahmen die Männer unser Verhalten zum Anlass, uns zu belästigen, uns hinterherzupfeifen und zudringlich zu beäugen.

Wir spürten, dass sie uns ebenso wenig glaubten wie die Lesben in der Bar. Auch sie reagierten auf uns, als würden wir nur eine Show abziehen und wären in Wahrheit gar keine Lesben. Vielleicht hatten sie sich zu viel Pornos angesehen, wo jeder zweite Kuss direkt in Richtung Kamera ausgetauscht wird, für den männlichen Blick bestimmt. Jedenfalls endete es damit, dass zwei der jungen Männer uns fast bis nach Hause folgten. Wir mussten schließlich an einem Corner Shop in der Nähe meiner Wohnung einen Zwischenstopp einlegen, um die beiden abzuschütteln, das klassische Junge-Frau-wird-auf-dem-Heimweg-verfolgt-Manöver.

Ich befand mich damals in einer Phase, in der ich unbedingt heteronormativ aussehen wollte. Die Vorstellung, ich könnte irgendwie bi wirken, war mir nicht geheuer, und ich machte mir Sorgen, es könnte sich negativ auf meine akademische Laufbahn auswirken. Ich hatte mich zwar daran gewöhnt, als junge Frau sexualisiert zu werden, befürchtete aber, das Label bisexuell würde letztlich dazu führen, dass man mich hypersexualisierte und nicht mehr ernst nahm. Und natürlich beunruhigten mich auch Situationen wie die oben geschilderte.

Im Jahr 2018 trat jedoch eine Veränderung ein: Ich outete mich als bi. Ich hatte mich bisher immer allein gefühlt, ohne queere Community, und sehnte mich danach, Teil der queeren Welt zu sein. Ich outete mich in den sozialen Medien und in meinen Texten. Mir wurde auch klar, wie wichtig es ist, als Bisexuelle sichtbar zu sein, gerade im akademischen Kontext. Der nächste Schritt, so dachte ich jedenfalls, bestand darin, bi auszusehen. Oder wie es in der Bi-Community heißt: Ich wollte als bi gelesen werden.

Jemanden zu lesen bedeutet in queeren Communitys, bestimmte Annahmen über Gender oder Sexualität zu treffen, die auf Aussehen, Verhalten oder dem, was er oder sie schreibt oder sagt, beruhen. Beispielsweise könnte man sagen, ich lese sie als bisexuell aufgrund ihrer rot gefärbten Haarsträhne, oder ich lese ihn als heterosexuell, weil ein Blick auf seine beigen Chinos einfach alles sagt. Dieses Lesen ist oft nötig, um andere queere Menschen in einer Welt zu finden, in der nur die wenigsten ihre Sexualität oder ihre Pronomen offen zur Schau tragen. Menschen zu lesen will allerdings gelernt sein, denn die Zeichen von Queerness sind von Gruppe zu Gruppe und von Ort zu Ort sehr unterschiedlich. Jemanden falsch zu lesen kann als beleidigend empfunden werden oder sogar gefährlich sein. Um ein Beispiel zu nennen: Lese ich eine Person als homosexuell, die tatsächlich aber heterosexuell ist, reagiert er oder sie möglicherweise homophob. Lese ich jemanden als Mann, der tatsächlich eine Frau ist, kann das leicht als beleidigend ausgelegt werden. Oder ich mache — falls die Person trans oder nicht-binär ist — die niederschmetternde Erfahrung des Misgendering. Menschen zu lesen ist also verzwickt, aber auch sehr wichtig. Doch wie sieht ein bisexueller Mensch eigentlich aus? Kann ich bisexuell aussehen? Oder können Sie das?

Die Art, wie wir uns kleiden, kann ein wirkungsvolles Mittel der Kritik an der herrschenden Kultur sein. Nicht ohne Grund bezeichnen wir manche Outfits als schräg, alternativ oder auffällig. Im Gegenzug kann Kleidung auch repressiv sein und unsere Persönlichkeit oder das, was wir sein wollen, eben nicht widerspiegeln. Kleidung kann zur Selbstermächtigung und Selbstverwirklichung führen, wenn sie das visuelle Abbild unseres Selbst ist.1 Es ist daher keine Überraschung, dass queere Communitys ihre eigenen visuellen Identitäten haben. Durch Kleidung und Accessoires stellen wir unsere sexuelle Identität dar und erschaffen eine visuelle Sprache innerhalb unserer Gemeinschaft.2

Stellen wir diese Behauptungen mit einem kurzen Experiment auf die Probe. Welche Assoziationen haben Sie bei dem Wort »schwul«? Wie sehen schwule Männer aus? Was tragen sie? Woher wissen Sie, dass sie schwul sind? Okay, jetzt versuchen wir dasselbe bei Lesben: Wie sehen Lesben aus? Was tragen sie? Woran erkennen Sie, dass sie lesbisch sind?

Genau diese Art von Brainstorming führte die Sexualitätswissenschaftlerin Victoria Clarke mit ihren Student*innen durch, als sie sich mit der Konstruktion queerer Identitäten befasste.3 Clarke plädiert seit Langem für ein vertieftes Verständnis und größere Akzeptanz qualitativer Forschung; Letztere beruht vornehmlich auf Beobachtungen und Gesprächen, quantitative Forschung dagegen mehr auf Zahlen und statistischen Daten.4 Sie schreibt: »Viele Student*innen denken bei dem Wort lesbisch an Begriffe wie hässlich, Butch, maskulin, kurzhaarig, Latzhosen und bequeme Schuhe. Schwule Männer werden eher mit Stil, Mode, gepflegt und effeminiert in Verbindung gebracht. Kurzum, viele Student*innen haben ein klares Bild der (stereo)typischen Lesbe und des (stereo)typischen Schwulen.« Im wirklichen Leben sind natürlich alle queeren Communitys heterogen, und derartige Stereotype greifen zu kurz. Dennoch beruhen sie vermutlich auf irgendetwas.

Clarke fährt fort: »Normen heben vor allem auf das männliche oder androgyne Aussehen der Frauen ab oder bewerten Jugendlichkeit, körperliche Kriterien wie etwa Muskeln, Männlichkeit und eine Vielzahl schwuler Stile bei Männern. Viele Menschen fühlen sich unter Druck gesetzt, diesen Normen zu entsprechen, um als Lesben oder Schwule akzeptiert zu werden.« Demnach gibt es bestimmte Normen im Hinblick auf die äußere Erscheinung, die den Mitgliedern der Community dabei helfen können, ihre sexuelle Orientierung zu signalisieren. In Verbindung damit entsteht jedoch womöglich auch ein gewisser Druck, diesen Normen zu entsprechen, was wiederum zu unrealistischen Erwartungen in Bezug auf Physis und Stil führen kann. Wie steht es mit bisexuellen Menschen? Was müsste ich tragen, um dem Bild einer bisexuellen Person zu entsprechen? Clarkes Student*innen hatten zu dem Begriff bisexuell nur wenige Assoziationen, und die meisten davon waren negativ, wie etwa verwirrt oder gierig. Von dem oder der typischen Bisexuellen hatten sie keine klare Vorstellung.

In einer 2020 durchgeführten Untersuchung befasste sich die Feminismus-Forscherin Nikki Hayfield mit der Frage, ob bisexuelle Menschen eine visuelle Identität haben.5 Sie führte Tiefeninterviews mit 20 selbstidentifizierten bisexuellen Frauen und sichtete die Umfragedaten von 670 Teilnehmer*innen. Dabei stellte sie fest, dass sowohl bisexuelle als auch nicht-bisexuelle Studierende zwar sehr genau beschreiben konnten, wie lesbische, schwule und heterosexuelle Identitäten aussahen, dass aber auch sie nicht in der Lage waren, Normen für die äußere Erscheinung Bisexueller auszumachen und einen durchgängig erkennbaren Kleidungsstil für bisexuelle Menschen zu beschreiben. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch eine 2020 durchgeführte Untersuchung der Soziologin Rosie Nelson. Ihr Bericht trug den vielsagenden Titel: »Wie sehen Bisexuelle aus? Ich weiß es nicht!« Aus Interviews und Fototagebüchern zog Nelson den Schluss, dass »Plurisexuelle den Wunsch haben, sich visuell darzustellen, zugleich jedoch nicht sicher sind, wie sie das tun sollten«.6

Offenbar weiß keiner so recht, wie Bisexuelle aussehen, was bisexuelle Menschen natürlich nicht von dem Versuch abhält, ihrer sexuellen Orientierung visuellen Ausdruck zu verleihen. Die Sexualitätswissenschaftlerin Julie Hartman fand heraus, dass bisexuelle Menschen ihrer Unsichtbarkeit durch eine Kombination heterosexueller, schwuler und lesbischer Stilnormen beizukommen versuchen. Das kann zu einem unverwechselbaren, hybriden, bisexuellen Stil führen, der etwas Neues erschafft, indem er sich gewissermaßen überall ein bisschen bedient.7

Ähnlich erging es mir bei dem Versuch, irgendwie bi auszusehen, bevor ich Hartmans Studie las. Zuerst griff ich auf eine schwere schwarze Lederjacke zurück. Damit fühlte ich mich zwar queer, wurde aber von meiner Umwelt nicht so wahrgenommen. Ich startete einen neuen Versuch: Für die Version Bi 2.0 legte ich weniger Make-up auf als sonst, trug flache schwarze Stiefel, Jeans im Used-Look, ein T-Shirt mit V-Ausschnitt und dazu ein Camouflage-Hemd in Übergröße und mit großen Blumen auf dem Rücken. Ich gewöhnte mir einen neuen schreitenden Gang an und hörte Musik von queeren Künstler*innen. Und wissen Sie was? Es funktionierte! Plötzlich war es viel einfacher, Frauen anzuflirten und dabei eindeutig die Botschaft zu vermitteln, dass ich nicht nur nett sein wollte, sondern noch etwas anderes im Sinn hatte. Die meisten nahmen mich zwar nach wie vor als heterosexuell wahr, aber immerhin sah ich so alternativ aus, dass einige doch leise Zweifel hatten. Ich war, wie eine lesbische Freundin meine Bemühungen wohlwollend kommentierte, im Begriff, meine Big Dyke Energy in die richtigen Bahnen zu lenken.

Obgleich ich mich leicht verkleidet fühlte, hatte ich in diesem Outfit doch mehr als je zuvor den Eindruck, ganz ich selbst zu sein. Es ist sonderbar, dass diese beiden unterschiedlichen Empfindungen einfach nebeneinander bestehen können. In einem ähnlichen Kontext und unter der Überschrift: »Wie sehen sie aus und befinden sie sich mitten unter uns?«, befragte ein kanadisches Forscher*innenteam 22 Frauen, die sich als bisexuell identifizierten.8 Lediglich eine der Teilnehmer*innen berichtete dabei von Erfahrungen, die meinen ähnelten:

»Ich glaube, man sollte bei bisexuellen Frauen vor allen Dingen verstehen, dass sie nicht nur bisexuell in Bezug auf das sind, was sie mögen, sondern auch in Bezug auf ihre eigene Persönlichkeit. Manchmal fühle ich mich wie ein Junge und manchmal wie ein Mädchen. Besser kann ich es nicht beschreiben. Manchmal fühle ich mich wie ein richtiger Macho und manchmal so weiblich wie Scarlett O’Hara. Das ändert sich von Tag zu Tag, und der Auslöser kann einfach ein Stimmungsumschwung sein, aber ehrlich gesagt — an einem Tag bin ich im Kampfanzug unterwegs und am nächsten trage ich einen Minirock und hohe Hacken.«

Das ist ganz schön verwirrend. Man fühlt sich dann nicht unbedingt so, als wäre man ein anderes Gender, zumindest ist das bei mir nicht der Fall. Ich fühle mich wie eine Mischung aus dem, was gesellschaftlich als charakteristisch männlich oder weiblich gilt. Sowohl die sexuelle Anziehung als auch der Gender-Ausdruck schwanken und sind nicht unbedingt miteinander verbunden. An manchen Tagen habe ich nur Augen für Frauen oder weiblich aussehende Menschen, bin aber zugleich unglaublich weiblich angezogen … als könnte unsere vereinte feminine Zartheit zur mächtigsten Kraft des Universums werden. Dann wieder fühle ich mich eher männlich und kleide mich auch so, und obwohl ich mit einem Mann zusammen bin, hat es nichts mit Homosexualität zu tun. Es gibt aber auch Tage, an denen ich, eng an meinen Partner gekuschelt, vor meinem geistigen Auge ein Bild von uns beiden als klassisches, heteronormatives Pärchen in einer romantischen Filmkomödie habe.

Übereinstimmend damit hat Nelson festgestellt, dass für Bisexuelle Gender und Sexualität in Verbindung miteinander stehen. Nelson, die sich als »bisexuelle nicht-binäre Femme« identifiziert, hat aus ihrer Untersuchung geschlossen, dass »für Plurisexuelle Gender und Sexualität miteinander in Zusammenhang stehen, und viele verweisen darauf, wie sie Outfit und Selbstdarstellung durch Feminisierungen oder Maskulinisierungen abwandeln.« Genau das tue ich auch, wenn ich mit unterschiedlichen Looks spiele. Und es ist gar nicht leicht, meine komplexen Empfindungen für andere sichtbar zu machen.

Nelson fand auch heraus, dass die bisexuellen Männer in ihrer Stichprobe nicht minder mit ihrer Kleidung und komplexen Gefühlen über Genderidentität beschäftigt waren. Ein 26 Jahre alter bisexueller Mann namens Stan erzählte Nelson beispielsweise: »Wenn ich sichtbar bi sein möchte, achte ich darauf, möglichst feminin zu wirken. […] So ungefähr: ›Ah, jetzt noch einen Tick schriller, dann kapieren es alle.‹« Die gesellschaftlich akzeptierte Bandbreite, die Stan hat, um sich einen Tick schriller zu stylen, dürfte sich erheblich von der bisexueller Frauen unterscheiden. Ich kann in Hosen und ungeschminkt losziehen, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen oder meine Sicherheit zu gefährden, während das für Stan mit Sicherheit schwieriger ist, wenn er in Rock und stark geschminkt unterwegs ist. Das ändert sich zwar allmählich, aber wir haben noch einen langen Weg vor uns, ehe Männer so verspielt mit ihren Outfits und Looks umgehen können wie Frauen.

Nicht zuletzt wegen der Risiken, die mit nicht genderkonformer Kleidung einhergehen, passen viele plurisexuelle Menschen sich entsprechend an. Nelson bezeichnet das als »situative Anpassung«. Das betrifft insbesondere Männer und Menschen, die als Männer gelesen werden, wie beispielsweise eine teilnehmende nicht-binäre Person in Nelsons Studie namens Bern, die äußerte: »Obwohl ich mich [eher feminin gekleidet] irgendwie besser fühle, nehmen mich heterosexuelle Männer dann nicht als weiblich wahr, sondern sagen nur: ›Ach, diese Transe.‹«

Andere wiederum zeigen ihre Bisexualität nicht durch nicht-genderkonforme Kleidung, sondern greifen auf Stereotype, etwa vermeintliche homosexuelle Dresscodes, zurück. Beispielsweise neigten in der vorher erwähnten kanadischen Studie insbesondere Frauen dazu, sich als Lesben auszustaffieren. Eine davon, Teilnehmerin Nummer 11, beschreibt das so: »Wegen meines Aussehens wurde ich als Lesbe oder Dyke wahrgenommen. Und dabei habe ich es dann auch belassen.« Teilnehmerin Nummer 9, die auf keinen Fall heterosexuell aussehen will, bemerkt: »Für mich ist es ausschlaggebend, dass mich niemand für heterosexuell hält, denn vieles in unserer Gesellschaft beruht auf der Annahme, dass alle heterosexuell sind.« Aus meiner Sicht ist es besonders aufschlussreich, dass auch in dieser Studie keine Rede von speziellen Attributen, Farben oder Bildern ist, durch die sich die Teilnehmenden identifizierten. Die Autor*innen deuten diesen Mangel an bisexuellen Identitätsmarkern als Ausdruck der allgemeinen Wahrnehmung, dass Bisexualität »vorübergehend ist, sich jemand nur in Szene setzt und etwas vorspielt, sie mit anderen Worten also nicht existiert«. Eine sexuelle Orientierung, die es nicht gibt, mit dem dazu passenden nicht-existierenden Look.

Das mag in Bezug auf Mode seine Richtigkeit haben, gilt jedoch nicht in anderen Umfeldern. In den sozialen Medien gibt es Accounts mit eindeutig bisexueller visueller Ansage. Ich denke etwa an die berühmte Rosa-Lila-Blau-Farbkombination, entweder als Bi-Fahne, Bi-Mond oder Bi-Dreieck. Oder an Comic-Tiere mit Bi-Flaggen, japanische Manga-Figuren mit verschämten, zartrosa angelaufenen Gesichtern und den unvermeidlichen ausgestopften Panda, der wahrscheinlich wegen seines schwarz-weißen Fells zum Maskottchen erkoren wurde — kleiner Fingerzeig auf die Wahrnehmung bisexueller Menschen als Kombination aus hetero- und homosexueller Orientierung — und weil er sich auf pansexuell bezieht. Ich finde, das visuelle Design der Bi-Community lässt sich am besten mit dem Wort niedlich beschreiben. Und mir kommt unweigerlich der Gedanke, dass dahinter der unausgesprochene Wunsch steht, das Stereotyp des hypersexuellen Bisexuellen zu konterkarieren.

Diese Niedlichkeit fiel mir zum ersten Mal bei einem Bi-Pride im Jahr 2019 auf, mit über 1300 Beteiligten damals die »größte Bi-Zusammenkunft aller Zeiten«.9 Einige US-Aktivist*innen würden das jedoch wahrscheinlich bestreiten, denn auch ihnen gelang es in den Neunzigerjahren, Tausende von Menschen zur Teilnahme an Bi-Protestmärschen und Veranstaltungen zu bewegen, wie man in der Zeitschrift Anything That Moves nachlesen kann. Es war eine Veranstaltung für bisexuelle Menschen von bisexuellen Menschen. Mich hat dieser Pride jedenfalls nachhaltig beeinflusst, nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass ich die Notwendigkeit einer Bi-Community erkannte, denn anschließend war ich ständig auf der Suche nach Gleichgesinnten. Bei dieser Veranstaltung bin ich zum ersten Mal auf die Themen und Begriffe gestoßen, die ich hier in diesem Buch diskutiere, und sie lieferte mir ein Vokabular, um über meine bisexuellen Erfahrungen zu sprechen. Als würde ich, wie ein Kind, ein neues Alphabet in meiner ersten Bi-Fibel lernen … B wie Bi-Löschung, G wie gemischt-sexuelle Beziehungen, P wie plurisexuell.

Für mich war das damals alles neu, aber Überlegungen in Bezug auf diese Veranstaltungen und wie Bi-Räume strukturiert sein sollten, finden schon seit Langem statt.

2014 hatten Georgina Voss und Kolleg*innen geschrieben, dass »die Bi-Szene des Vereinigten Königreichs im Laufe von kurzzeitigen Veranstaltungen entstand«.10 Sie argumentieren, Bisexualität sei seit den frühen Achtzigerjahren hauptsächlich in zeitlich begrenzten Räumen »sichtbar dargestellt und angenommen worden«.

Zeitlich begrenzte Räume klingt zwar nicht besonders gut, aber es lohnt sich durchaus, darüber nachzudenken, ob dies nicht auch wünschenswert sein könnte. Dass Bi-Veranstaltungen zeitlich begrenzt sind, macht sie vielleicht zu dem, was der französische Philosoph Michel Foucault als Heterotopien bezeichnete, »absolut vollkommene andere Orte« und »gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte«.11 Ich jedenfalls hatte das sichere Gefühl, der Bi-Pride sei ein absolut vollkommener anderer Ort, eine kurze Bi-Utopie.

Die Psychologin Helen Bowes-Catton hat sich ebenfalls mit der Vorstellung sicherer Bi-Räume auseinandergesetzt, und ich kann mir niemanden vorstellen, der für dieses Thema geeigneter wäre. Sie war jahrelang im Vorstand des BiUK, ein Netzwerk der Bi-Forschung, und hat viele Bi-Veranstaltungen mitorganisiert. Erst vor Kurzem, 2021, haben Bowes-Catton, Emile Malipaard — die zuvor die European Bisexual Research Conference auf die Beine stellte —, die experimentelle Psychologin Noemi Dreksler sowie ich selbst online die erste — sehr erfolgreiche — International Bisexual Research Conference organisiert, an der 70 Forscher*innen ihre Arbeit mehr als 485 Teilnehmenden vorstellten. Helen Bowes-Catton ist im Vereinigten Königreich eine echte Heldin der Bi-Community und hat viele Konflikte innerhalb und zwischen den Bi-Communitys gemeistert.

Im Jahr 2008 begaben sich Bowes-Catton und Kolleg*innen während der BiCon, eine Bisexuellen-Konferenz im Vereinigten Königreich, auf Feldforschung.12 Sie stellten fest, dass es für die meisten Teilnehmenden eine Ausnahmeerfahrung war, sich an einem Ort zu befinden, wo Bisexualität die Norm war und sie diese Erfahrung als ungeheuer befreiend empfanden.13 Der Ort war erfahrungsmäßig und physisch vom alltäglichen Leben getrennt und wurde zugleich als ein »nach Hause kommen« empfunden. Genauso ging es mir bei meinem ersten Bi-Pride. Obwohl ich noch nie zuvor dort gewesen war und niemanden kannte, fühlte ich mich geborgen und zu Hause.

Bowes-Catton und ihre Kolleg*innen fanden heraus, dass sichere Räume nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, sondern auch euphorische Gefühle und eine Anmutung von Freiheit auslösen. Genauer gesagt erlebten die Teilnehmer dort einen »Überschwang der Gefühle«, der sie gleichsam aus sich selbst hinaus und in den Raum hinein beförderte, und die Grenzen zwischen physischem Raum und ihrem eigenen, sich darin befindenden Körper verschwammen. Sozusagen ein drogenfreies psychedelisches Erlebnis. Das erinnert mich an einen ziemlich schlüpfrigen Gedankengang im Rahmen meines Masterstudiums in Queer History: Während eines Kurses über die Geschichte queerer Räume machte uns der Dozent Benno Gammerl mit dem Konzept des queeren Raums als Orgasmus bekannt, indem der Körper sich in der ihn umgebenden physischen Welt entgrenzt und auflöst und der Einzelne dies als Wellen der Lust erlebt.14 Diese Idee ist so schräg, dass ich beim Aufschreiben rot werde. Und sie macht deutlich, warum es so wichtig und richtig ist, ab und zu eine wirkmächtige, kurze Veranstaltung durchzuführen … stimmt’s oder hab’ ich recht?

Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder bei Bi-Veranstaltungen seinen Spaß hat oder gar transzendentale Erfahrungen macht. Queere Räume wie BiCon oder BiPride können zwar bei manchen euphorische Zustände auslösen, aber sie schaffen auch — beabsichtigt oder nicht — Grenzen, die solche Erfahrungen verhindern. Was für den einen ein bisexueller Spielplatz und Karneval sein mag, empfindet der andere womöglich als repressive, akademische, behindertenfeindliche und weiße Mittelschichtsveranstaltung. Sowohl Clare Hemmings als auch Bowes-Catton berichten, dass dabei eine künstliche Homogenität entstehen kann: Bisexuelle Räume werden als inhärent und freudig inklusiv und divers gesehen, obgleich dort in erster Linie Weiße Erfahrungen und Probleme abgehandelt werden. Gerade dadurch werden »Probleme, die auf Ethnizität und Klassenzugehörigkeit beruhen, zugunsten einer utopischen bisexuellen Zukunft aufgeschoben«.15

Während der ersten großen englischsprachigen bisexuellen Konferenzen drehten sich viele der — meist sehr komplexen — Debatten um Rassismus und Intersektionalität. Während der ersten US National Bisexual Conference kam es, um ein Beispiel zu nennen, wiederholt zu »schweren Konflikten« zwischen den inklusiven Zielvorstellungen der Konferenz und dem Eingeständnis, dass es innerhalb der bisexuellen Politik und des bisexuellen Handelns an Anti-Rassismus fehlte.16 30 Jahre später sind die Teilnehmenden bisexueller Veranstaltungen enttäuschenderweise immer noch überwiegend weiß.

Im Jahr 2020 erschien ein selbstkritischer Artikel auf der BiCon-Webseite; der immer wieder darin auftauchende Satz »BiCon ist rassistisch« wirft ein Schlaglicht auf das Problem.17 Der Text umreißt, dass trotz zunehmender Anstrengungen so gut wie keine People of Colour an den Veranstaltungen teilnehmen. Schlimmer noch wurde aufgrund der Besuchsstatistiken festgestellt, dass die wenigen, die kamen, häufig nicht wiederkehrten, weil »sich die Mühe nicht lohnt«. Dieser niederschmetternde Befund weist darauf hin, dass noch viel zu tun bleibt, ehe bisexuelle Räume tatsächlich so inklusiv und divers sind, wie sie es angeblich sein wollen. Die BiCon 2021 versuchte das Manko zu beheben, indem die Teilnehmer*innen zuvor einen Kurs zum Thema Anti-Rassismus absolvieren mussten. Das scheint ein Schritt in die richtige Richtung gewesen zu sein.

Um Communitys aufzubauen, die nicht nur dem Namen nach inklusiv sind, müssen wir beispielsweise den Blick (the look) verstehen. Im Jahr 1984 verfasste die Bürgerrechtsaktivistin Audre Lorde, selbst identifiziert als »Schwarz, lesbisch, Mutter, Kämpferin und Dichterin«, einen einflussreichen Text. Darin beschrieb sie, wie schwarze Körper von weißen Beobachtern in weißen Räumen als nicht menschliche und insektenähnliche Wesen wahrgenommen werden.18 Lordes Vorstellung vom Blick des rassistischen Ekels klingt bis heute in Diskussionen über race/Ethnizität und sexuelle Räume nach. Beispielsweise wurde in einer im Jahr 2003 veröffentlichten Studie festgestellt, dass auch asiatische Lesben und Bisexuelle diesem Blick in queeren Räumen in London ausgesetzt sind.19 Daneben fand eine 2016 durchgeführte Analyse bisexueller Menschen und Lesben heraus, dass Rassismus als exklusive Praktik weißer Menschen, die den Großteil der Bewohner vornehmlich schwuler Viertel (gaybourhood) ausmachten, keine Seltenheit war.20 People of Colour wurden dort häufig als »racialised others« (rassifizierte Andere) betrachtet, indem man beispielsweise ihr Haar berührte, rassistisch fetischisierende Kommentare machte und Menschen durch den Blick objektifizierte.

Auch im Netz sollten wir wachsam sein: Nicht alle Bi-Räume, die sich inklusiv geben, sind es tatsächlich; »bisexuelle sichere Räume sind ein gemischter Erfolg«, schreibt Emile Maliepaard. Er fand heraus, dass Bi-Räume im Netz ohne Kontrolle durch Gatekeeper Stereotype und repressive Ideale sogar verstärken.21

Bi-Räume sind Orte, wo sowohl der Einzelne sichtbar bisexuell für den anderen als auch die gesamte Community sichtbar für die Welt ist. Gemeinsam unsere Sexualität zu feiern ist ein Akt der Stärke. Wir sollten darüber jedoch nicht vergessen, wie wir unsere Community gestalten. Wenn wir der Welt zeigen wollen, dass jede*r bisexuell sein kann, haben wir aus meiner Sicht auch die Pflicht, das einzulösen und für jede*n Räume zu schaffen, zu denen er oder sie gehen kann: sichere, liebevolle, aufrichtig inklusive Räume. Daran müssen wir weiter arbeiten.

Letztlich ist wichtig, dass niemand behauptet, es gebe keine bisexuellen Räume. Bei lokalen LGBT+-Gruppen sind Informationen über Bi-Organisationen zu finden, und der Kontakt zu bisexuellen Menschen lässt sich auch über Gruppen in den sozialen Medien herstellen. Auf der Welt gibt es so viele Communitys, bitte macht sie nicht unsichtbar. Wer behauptet, Bi-Räume existierten nicht, fällt der monosexistischen Sicht bisexueller Räume als inadäquat oder schlicht nicht bestehend zum Opfer. Ebenso wie die Vorstellung, bisexuelle Menschen wären in homosexuellen Räumen nur Touristen, zu der — unrichtigen — Annahme führt, diese Räume seien nicht auch für uns bestimmt. Die Realität sieht vielmehr so aus, dass bisexuelle Menschen eigene Räume haben und außerdem integral und dauerhaft zur großen queeren Community gehören.

Gerade für Minderheiten ist es wichtig, Communitys aufzubauen, einerseits für ihr Wohlbefinden und andererseits, um sichtbar für Heteros zu sein. Erhöhte Sichtbarkeit lässt sich beispielsweise auch durch Fernsehauftritte erreichen.

In einer bizarren Wendung meines Lebens bat man mich im Januar 2020, als Beraterin am Drehbuch für eine neue deutsche Sendung namens »8 Zeugen« mitzuwirken. Die Protagonistin Dr. Jasmin Braun, eine junge Wissenschaftlerin und Expertin für Fehlerinnerungen, hilft der Polizei bei der Lösung eines schwierigen Falls. Ich nahm den Auftrag an und flog nach Berlin, um das Team kennenzulernen. Sie holten mich am Flughafen ab, und wir fuhren, in ein winziges Auto gequetscht, zum Büro der Produktionsfirma. Wir sprachen über das Projekt, und ich erkundigte mich, woher sie meine Arbeit kannten. Erst da erfuhr ich, dass sowohl die Geschichte als auch die weibliche Hauptfigur tatsächlich auf mir und meiner Arbeit aufbauten.

In einem großen, hellen Büro verbrachte ich den Rest des Tages damit, das Team sowohl in Bezug auf die Story als auch den Charakter der Hauptfigur Jasmin zu beraten. Es lief mehr oder weniger darauf hinaus, dass ich sagte: »Das würde ich nie so ausdrücken« oder »So funktioniert das Gedächtnis nicht« und »Habt ihr eigentlich schon mal eine Frau kennengelernt?«. Irgendwann kamen wir auf die Hauptfigur selbst zu sprechen. Wer ist diese Jasmin Braun? Wie ist sie gestrickt? Mitten in dieser Diskussion wurde ich hellhörig und erklärte: »Sie sollte bi sein

Warum sind TV-Figuren eigentlich standardmäßig heterosexuell? Während meiner Kindheit und Jugend in Deutschland kann ich mich nicht daran erinnern, je eine bisexuelle Figur im Fernsehen oder gar als Moderator*in einer TV-Show gesehen zu haben. Wäre es nicht aufregend, eine solche Figur sichtbar zu machen? Das Team zeigte sich aufgeschlossen. Aber dann kam die große Frage, wie wir Jasmin als bi zeigen sollten, ohne dass es in den Vordergrund geriet. Wir wollten schließlich keine Bi-Stereotype verstärken. Aber wie?

Vielleicht, indem sie gelegentlich mit Frauen und Männern flirtete, die sie attraktiv fand? Oder eine Textnachricht von einer weiblichen Ex-Freundin erhielt? Oder sollten wir sie in ihrer Freizeit zeigen, wenn sie sich eine kurze Erholung von der anstrengenden Polizeiarbeit gönnt und auf Tinder sowohl einen Mann als auch eine Frau anwählt? Wir sprachen lange darüber und kamen schließlich überein, ihre sexuelle Orientierung im Figuren-Exposé zu erwähnen und abzuwarten, was passierte. In der endgültigen Version ging ihre Bisexualität jedoch total unter. Es war einfach zu subtil und ließ sich nicht darstellen; niemand hätte sehen können, dass sie bi war, auch wenn die Schauspielerin, die sie verkörperte, auf meine Frage hin munter erwiderte: »Sie ist eben einfach bi.« Wenn ich das nächste Mal eine Filmfigur entwickle, stecke ich sie jedenfalls in ein Outfit aus Bi-Flaggen, und damit hat sich der Fall.

In Filmen wird sexuelle Anziehung — wenn sie nicht offensichtlich ist — häufig in den kurzen Pausen zwischen den Dialogen dargestellt. Ein kurzer Blick, ein Lächeln, eine flüchtige Berührung. Genauso ließe sich auch eine bisexuelle Figur anlegen, wenn wir denn gewillt sind, sie so zu lesen. Man bezeichnet das als das Queeren einer Filmfigur: jemanden als queer zu interpretieren, ohne es direkt anzusprechen.

Ich kann das Queeren in Fernsehen und Film nur wärmstens empfehlen. Statt Heterosexualität als Norm vorauszusetzen, macht es deutlich mehr Spaß zu vermuten, jemand sei queer. Bis zum Beweis des Gegenteils immer nur davon auszugehen, Figuren seien heterosexuell, ist eine Annahme, die sich ebenso gut umdrehen lässt. Momente, die man zuvor einfach als freundschaftlich gedeutet hat, können dann mit einem Mal ganz anders wirken. Und wer weiß, vielleicht steckt manchmal eine gewisse Absicht dahinter, dass Zuschauer*innen die Situation als ein bisschen bi oder queer auffassen. Jahrelang gab die amerikanische Production Code Administration — in etwa das Pendant der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) — amerikanische Filme mit auch nur andeutungsweise queeren Inhalten — der sogenannten sex perversion — nicht frei. Patricia White hat über die Darstellung von Lesben in klassischen Hollywood-Filmen geschrieben.22 Sie erörtert, dies habe dazu geführt, queere Figuren anhand von Codes darzustellen, die nur für Eingeweihte verständlich waren und für die meisten Zuschauer völlig intransparent blieben.

In ihrem Buch The B Word schreibt die Film- und Medienprofessorin Maria San Filippo, es sei schwierig, Bisexualität in einem abendfüllenden Film nachzuweisen, teils wegen der begrenzten Zeitspanne und teils weil »die narrativen Bedingungen verhindern können, dass sich das bisexuelle Potenzial einer Figur entwickelt«.23 Vielleicht finden sich aus diesem Grund so viele tolle Bi-Charaktere in Fernsehserien, wo sie sich freier und nuancierter entfalten können. In der witzigen Netflix-Serie The Politician wirkt beinahe jede der Figuren sexuell fluide, seien es Männer oder Frauen, Eltern oder ihre Kinder. In Crazy Ex-Girlfriend treten weibliche und männliche bisexuelle Charaktere auf, und außerdem gibt es noch eine richtige Musical-Einlage mit dem Song Gettin’ Bi. Oder denken wir nur an die Bi-Blondine Eleanor Shellstrop in The Good Place, die Bi-Cheerleaderin Brittany Pierce in Glee und die Chirurgin Callie Torries in Grey’s Anatomy. Und die wohl berühmteste Bi-Figur ist zweifellos Rosa Diaz, Detektivin in der Kriminalserie Brooklyn Nine-Nine. Die Darstellung der Figuren ist allerdings manchmal problematisch. Männliche Figuren sind unterrepräsentiert — Frauen sind in bisexuellen Rollen viermal so häufig zu sehen —, und People of Colour, behinderte oder nicht-binäre bisexuelle Figuren fehlen beinahe gänzlich.

Dennoch nimmt der Anteil an Bi-Rollen insgesamt zu, und es zeichnet sich eine Tendenz ab, bisexuelle Figuren einzubeziehen, statt sie einfach auszublenden, zu verteufeln oder zu zensieren. Inzwischen sind die Figuren auch glaubwürdiger. Um Ihnen zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich auf einen ikonischen und vielfach im Netz geteilten Moment zu sprechen kommen, der kürzlich erfreulicherweise auf den Bildschirmen zu sehen war. Die Rede ist von einem ebenso kurzen wie epischen Dialog in der kanadischen Sitcom Schitt’s Creek.

Stevie und David, die beiden Hauptfiguren, mustern nach einem One-Night-Stand die Flaschen in einem Weingeschäft. Stevie, die David für schwul hielt, ist erkennbar verwirrt wegen der Ereignisse der vorhergehenden Nacht und sagt: »Bis letzte Nacht war ich ganz sicher, dass du auch nur Rotwein trinkst … aber da hab’ ich mich vermutlich getäuscht, oder?« Damit fragt sie indirekt, ob David sich wirklich nur für Männer interessiert, und er erwidert: »Ich mag viele verschiedene Weine, aber nicht das Etikett.« Obwohl die Serie nicht deutlicher wird, hat der Schöpfer von Schitt’s Creek bestätigt, dass David eine pansexuelle Figur ist.

Der Mangel an eindeutigen visuellen Markern, die Bisexualität signalisieren, macht es nicht einfach, auf dem Bildschirm sichtbare Bi-Figuren zu erschaffen. Unüberwindbar sind die Probleme jedoch nicht. Wenn wir in Drehbüchern durch Dialoge, Blicke oder explizite Beziehungen der Figuren auf ihre Bisexualität hinweisen, schaffen wir glaubwürdige Charaktere, die parasoziale Beziehungen auf- und negative Stereotype in Bezug auf Bisexualität abbauen.

Falls Sie sich jemals Serien bis zu dem Punkt reingezogen haben, an dem Sie das Gefühl hatten, die Hauptdarsteller persönlich zu kennen, oder so viele Podcasts gehört haben, dass ein Tag ohne den Host Ihnen völlig leer erschien, oder Sie glaubten, eine Celebrity aus den sozialen Medien wirklich zu kennen … dann hatten Sie eine sogenannte parasoziale Beziehung. Das Präfix »Para« bedeutet in diesem Kontext »ähnlich«. Parasoziale Interaktion ist ein beliebtes Feld in der Kommunikationswissenschaft,24 und das Konzept geht auf die Soziologen Donald Horton und Richard Wohl zurück.25 Sie beschrieben es seinerzeit folgendermaßen:

»Eines der auffälligsten Merkmale der neuen Massenmedien — Radio, Fernsehen und Film — besteht darin, dass sie die Illusion einer persönlichen Beziehung zum Darsteller vermitteln. Die Bedingungen für die Reaktion auf den Darsteller sind analog zu denen in einer Primärgruppe. Die entferntesten und berühmtesten Menschen werden auf Augenhöhe, von Gleich zu Gleich wahrgenommen; dasselbe gilt auch für Figuren in einer Geschichte, die in diesen Medien auf besonders lebendige und fesselnde Weise zum Leben erweckt werden. Für diese scheinbar persönliche Beziehung zwischen Zuschauer und Darsteller schlagen wir den Begriff der parasozialen Beziehung vor.«

Horton und Wohl nahmen insbesondere bekannte Fernsehdarsteller*innen und Moderator*innen in den Blick, die keine bestimmte Geschichte erzählten oder eine Botschaft überbrachten. Wie sie es ausdrückten: »Diese Persönlichkeiten sind in der Regel in den sozialen Sphären außerhalb der Medien unbekannt.« Sie sind gewissermaßen ein Produkt dieser Medien selbst.

Heute sind parasoziale Beziehungen noch relevanter als zu der Zeit, in der dieser Begriff geprägt wurde. Wahrscheinlich wären Horton und Wohl schockiert darüber, zu welchen Extremen wir das Konzept mit Realityshows, Selfie-Stars und den Ikonen der sozialen Medien geführt haben. In die Idee der parasozialen Beziehungen ist von Anfang an eingebettet, dass Menschen diese illusorische Beziehung im Lauf der Zeit aufbauen. In dem Maße, wie sich die Beziehung vertieft, nimmt auch ihre Bedeutung im Leben des Einzelnen zu.26 Wie echte Freund*innen üben diejenigen, denen wir folgen, enormen Einfluss auf unser Denken und Verhalten aus. Deswegen bezeichnen wir sie wahrscheinlich als Influencer.

Es liegt daher nahe, dass sich dieser Einfluss auch auf unsere Wahrnehmung von Sexualität erstrecken kann, so die Hypothese von Medienforscher Edward Schiappa und Kollegen in einer Studie aus dem Jahr 2005.27 Sie verbanden das Konzept der parasozialen Beziehungen mit der Forschung zur Kontakthypothese und schlugen dafür den Begriff der »parasozialen Kontakthypothese« vor. Die Kontakthypothese ist gut erforscht und belegt. Sie besagt, dass der Kontakt zu Mitgliedern anderer Gruppen (outgroups) die Vorurteile gegenüber diesen Gruppen reduziert. In einem Aufsatz, der die Forschungsergebnisse von über 500 Studien zur Kontakttheorie zusammenfasst, werden für diesen Abbau von Vorurteilen drei Gründe benannt.28 Erstens lernen und erfahren wir durch Kontakt etwas über die andere Gruppe. Wir erfahren beispielsweise, wie sie wirklich sind, wie sie leben, was sie sagen und wie sie aussehen. Zweitens verringern sich dadurch die Ängste vor Kontakten zwischen den Gruppen. Persönliche Kontakte mit Menschen, die einen anderen Hintergrund haben, verringern in der Folge unsere Ängste vor der Begegnung mit Menschen, die anders sind als wir selbst. Und drittens fördert Kontakt Empathie und Perspektivenübernahme.

Diese Erkenntnisse wurden auch auf die Sexualität angewandt. Eine quantitative Synthese, in der größtenteils Stichproben aus den Vereinigten Staaten herangezogen wurden, zeigte eine signifikante negative Beziehung zwischen Kontakt und sexuellen Vorurteilen.29 Demzufolge verringern sich die Vorurteile heterosexueller Menschen gegenüber Lesben und Homosexuellen nachweislich, sobald sie Kontakt zu ihnen haben.

Da die Vorurteile gegenüber bisexuellen Menschen sich häufig von Vorurteilen gegenüber anderen sexuellen Minderheiten unterscheiden, haben die Sozialpsychologin Ashley Lytle und Kolleg*innen erforscht, ob ein häufigerer und besserer Kontakt zu bisexuellen Menschen eine positivere Einstellung gegenüber dieser Gruppe bewirkt.30 Für seine Umfrage rekrutierte das Forscher*innenteam 758 heterosexuelle und 166 lesbische und schwule Erwachsene. Zunächst wurden die Teilnehmenden nach ihrer sexuellen Identität befragt, anschließend nach der Anzahl bisexueller Menschen, die sie kannten, und der Art der Beziehung zu ihnen. Das war das Kontaktmaß. Damit die Teilnehmenden sich möglichst konkret äußerten, mussten sie die Initialen von bis zu zehn ihnen bekannten Personen angeben, die sich als bi identifizierten, und außerdem Angaben über deren Gender, Ethnizität und Alter machen. Diese Konkretisierung sollte die Teilnehmer*innen veranlassen, an bestimmte Personen zu denken.

Um die Bi-Negativität der Befragten zu testen, arbeitete das Forscher*innenteam mit der ARBS — (Attitudes Regarding Bisexuality Scale)31 —, einer in zwei Abschnitte unterteilten Skala, die Einstellungen zur Bisexualität misst. Im ersten Abschnitt »Stabilität« wird erfragt, ob Bisexualität als legitime, robuste sexuelle Orientierung gesehen und bisexuellen Menschen die Fähigkeit zu dauerhaften und festen Beziehungen zugestanden wird. Der zweite Abschnitt »Toleranz« fragt danach, inwieweit Bisexualität als moralisch, tolerierbar und nicht schädlich für die Gesellschaft gesehen wird. Erwartungsgemäß stellten die Forscher*innen fest, dass mehr Kontakt zu bisexuellen Menschen auch eine positivere Haltung zu Bisexualität unterstützte. Um genau aufzuschlüsseln, warum die Einstellung positiver war, wurden den Teilnehmenden Fragen zur Intergruppenangst — der Begriff beschreibt das Gefühl des Unbehagens oder der Angst bei der Interaktion mit Mitgliedern anderer Gruppen — gestellt, etwa: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie mit Fremden zusammenkämen, die bisexuelle Männer oder Frauen wären? Oder wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie der einzige Heterosexuelle in einer Gruppe bisexueller Menschen wären? Oder eine direkte Frage: Denken Sie an Ihre Erfahrungen im Kontakt mit bisexuellen Frauen und was sich in dieser Situation normalerweise abspielt.

Lytle und Kolleg*innen kamen zu dem Ergebnis, dass Kontakt negative Bi-Vorurteile in ihrer Stichprobe minderte, weil er die Intergruppenangst verringerte. Um grundsätzlich etwas an Vorurteilen und Voreingenommenheit zu ändern, müssen wir das Unbehagen und die soziale Spannung reduzieren. Das lässt sich am besten durch möglichst viel Kontakt zu bisexuellen Menschen bewerkstelligen. Wir leben jedoch in einem Zeitalter des ausufernden Medienkonsums, und vieles, was uns interessiert — Menschen und Geschichten —, findet hauptsächlich online statt. Ist es also, um Vorurteile abzubauen, tatsächlich notwendig, bisexuelle Menschen im echten analogen Leben zu treffen?

An diesem Punkt kommen wir wieder auf die eingangs erwähnte parasoziale Beziehung zurück. Edward Schiappa und Kollegen wollten wissen, ob derselbe Nutzen, den wir in realen Intergruppenkontakten erkennen, sich auch im Fernsehen beobachten lässt.32 Sie überprüften daher im Jahr 2005 in drei Studien, ob parasoziale Beziehungen zu queeren Männern Vorurteile reduzierten.

In ihrer ersten Studie wurden Personen getestet, bevor und nachdem sie fünf Wochen — insgesamt 10 Episoden — lang die makabre US-Serie Six Feet Under — gestorben wird immer gesehen hatten. Die Wahl fiel auf diese Serie, weil darin zwei schwule Hauptfiguren zu sehen waren; eine der beiden ist bereits offen schwul, und die andere outet sich im Verlauf der Serie. In der zweiten Studie befragten sie die Teilnehmer, bevor und nachdem diese drei Episoden oder zweieinhalb Stunden der US-Reality-TV-Show Queer Eye gesehen hatten; in der Serie beraten fünf schwule Experten eine meist heterosexuelle Person in Mode und Lifestyle-Fragen. In beiden Studien wurden die Teilnehmenden gebeten, vor und nach der Show einen Fragebogen auszufüllen, der ihre Haltung zu schwulen Männern erfragte. Eine dritte Studie zeigte den Teilnehmenden Dressed to Kill, eine 80 Minuten lange Show des englischen Komikers Eddie Izzard (der sich inzwischen als Trans-Frau geoutet hat). Auch hier mussten sie, bevor und nachdem sie die Show gesehen hatten, einen Fragebogen ausfüllen, in dem ihre Einstellung zu Transvestiten ermittelt wurde. In allen drei Studien wurden die Befragten nach dem Zufallsprinzip entweder der jeweiligen ausgesuchten Sendung oder einer anderen Sendung, deren Inhalte nichts mit queeren Themen zu tun hatten, zugeteilt.

Die Ergebnisse aller drei Studien zeigten, dass die Vorurteile abnahmen. Die Forscher*innen untersuchten zugleich auch spezifische Aspekte der parasozialen Kontakte und stellten fest, dass diese zunahmen — darunter auch die sogenannte Homophilie. Der Begriff beschreibt die Neigung von Individuen, diejenigen aufzuspüren oder sich zu ihnen hingezogen zu fühlen, die ihnen selbst ähneln. Homophilie ist eine soziale Wahrnehmung. Je mehr wir über jemanden wissen, desto deutlicher werden unsere Gemeinsamkeiten mit der betreffenden Person — auch wenn das auf den ersten Blick nicht so zu sein scheint. Letztlich gleichen sich die Mitglieder der menschlichen Familie, und es ist albern, wenn wir über den Unterschieden, die uns als unüberbrückbar erscheinen, alles vergessen, was wir gemeinsam haben.

Parasozialer Kontakt mindert nachweislich nicht nur die Stigmatisierung sexueller Minderheiten, sondern trägt auch dazu bei, Vorurteile in anderen Kontexten zu überwinden, beispielsweise rassistische Einstellungen,33 Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen34 oder gegenüber Menschen mit Behinderungen im Sport.35 Die Forschung hat auch gezeigt, dass parasoziale Beziehungen sich darauf auswirken, wie Menschen über Menschenrechte und Gleichheit denken und beispielsweise vermehrt eine transgender-freundliche Politik unterstützen.36 Für alle, die keine persönlichen Kontakte zu offen schwulen Individuen haben, wurde eine positive Korrelation zwischen der (parasozialen) Begegnung mit homosexuellen Filmfiguren und der Befürwortung der Gleichstellung Homosexueller festgestellt.37 Das alles sind gute Gründe für mehr Diversität in den Medien. Wir alle wollen Menschen auf dem Bildschirm sehen, die etwas mit uns zu tun haben, und Filmschaffende können dazu beitragen, dass Zuschauer sich mit vielen unterschiedlichen Menschen identifizieren.

Bei allem, was ich hier geschildert habe, gibt es allerdings auch einen Haken. Sämtliche Studien konzentrieren sich auf die positive Darstellung queerer Menschen. Im wahren Leben ist das nicht immer der Fall, und parasoziale Beziehungen können daher auch zu Enttäuschungen oder sogar Hass führen. Dies kann auf zwei Arten geschehen: wie der Einzelne sich selbst darstellt und wie andere ihn darstellen.

Die größte Bühne der Selbstdarstellung sind heute die sozialen Medien. Wenn wir einer bestimmten Person jahrelang folgen, erfahren wir, wie er oder sie denkt. Das kann der Wendepunkt in einer parasozialen Beziehung sein; mir ging es beispielsweise so, als ich erfuhr, dass ein Autor, dem ich folgte, transphob ist, oder ein Evolutionsbiologe, den ich bewunderte, den Islam mit einer Krebserkrankung verglich. Wenn ich nur eine*m einzige*n Schriftsteller*in oder Wissenschaftler*in folge, kann das möglicherweise dazu führen, dass diese Einzelperson für mich den gesamten Berufszweig diskreditiert. Da ich jedoch vielen verschiedenen Profilen folge, nehme ich derartige Fälle als Ausnahmen wahr. Wissenschaftler*innen und Autor*innen sehe ich ohnehin als heterogene Gruppe und werde wegen einer hetzerischen Person ihnen gegenüber keine Vorurteile entwickeln.

Vielleicht befinden sich sexuelle Minderheiten jedoch nicht in dieser Luxusposition. Wer nur einer einzigen bisexuellen Person folgt und feststellt, dass sie in wichtigen Punkten eine andere Meinung vertritt, beschließt daraufhin möglicherweise, alle bisexuellen Menschen unsympathisch zu finden. Gleiches gilt für die Angehörigen vieler Minderheiten. Ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten werden unfairerweise häufig als Sprachrohr für diejenigen betrachtet, die man als ähnlich wahrnimmt. Das übt großen Druck auf den Einzelnen aus und führt zur Homogenisierung von Minderheiten.

Daneben kann sich parasozialer Kontakt auch negativ auswirken und Vorurteile eher begünstigen als abbauen, wenn Minderheiten auf stereotype und destruktive Weise durch andere dargestellt werden. Und, oh Mann, die Beziehung zwischen bisexuellen Menschen und Film und Fernsehen ist bekanntlich alles andere als rosig.

Wenn wir ausnahmsweise einmal bisexuelle Figuren im Film zu sehen bekommen, werden sie seit Jahrzehnten unangemessen von konventionell attraktiven Schauspielerinnen als sexuell aggressiv, verschlagen und letztlich tödlich dargestellt: als Femme fatale.38

Ich denke dabei sofort an die eiskalte und berechnende Catherine Tramell, dargestellt von Sharon Stone in dem Thriller Basic Instinct aus dem Jahr 1992, insbesondere die berühmte Unten-ohne-Szene, als ihre unter Mordverdacht stehende Figur verhört wird. Stones Figur hat eine Beziehung mit einer Frau und Sex mit dem Kommissar, der ihr auf der Spur ist. Vampire als bisexuell darzustellen hat ebenfalls Tradition im Film, wie etwa in der Horrorkomödie Jennifer’s Body: Megan Fox gibt die betörend schöne Vampirfrau — einen Succubus — und erklärt »Ich mag beides — I go both ways«, was auf das Verspeisen von Menschen und zugleich auf ihre bisexuelle Vorliebe anspielt. Und jüngst gab es da noch Villanelle, gespielt von Jodie Comer, die Hauptfigur der Serie Killing Eve und erstmals 2018 zu sehen. Sie stellt eine nicht unsympathische, aber psychisch gebrochene und psychopathische bisexuelle Serienmörderin dar, die Sex mit Menschen diverser Genderidentitäten hat, sowohl zum Vergnügen als auch, um sie zu manipulieren.

Belassen wir es bei diesen drei Beispielen, obwohl es noch viel mehr gäbe. »Die bisexuelle Frau ist offenbar allgegenwärtig: In Neo-Noir-Filmen, erotischen Thrillern, Teenager-Dramas, Science-Fiction-, Horror- und Retro-Noir-Streifen«, schreibt die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Katherine Farrimond und stellt weiter fest, dass diese Femmes fatales aufgrund ihres bisexuellen Verhaltens häufig als überaus erotische Traumfrauen dargestellt werden.

Bisexuelle Figuren geben ideale Projektionsflächen für Fantasiefiguren ab, die sich zwar bisexuell verhalten, aber zugleich vor allem an Männern interessiert sind. Ihre Sexualität ist für den männlichen Blick konzipiert: dasselbe Stereotyp, mit dem ich bei meinem Date in der Friendly Society konfrontiert war. Dennoch sind bisexuelle Frauen im Spielfilm, anders als in Pornos, wo sie häufig, Farrimond zufolge, »als heiße Bräute, die jeden ficken«, präsentiert werden, zweideutiger: Sie stellen sich sexuell jedem zur Verfügung, der ihnen nützlich ist, lassen sich jedoch auf niemanden ein. Das macht sie gefährlich und unzuverlässig. Und es bedient die gängigen Vorurteile gegenüber bisexuellen Menschen, die angeblich promiskuitiv, sexuell unentschieden, nicht bindungswillig und somit unzuverlässig sind.39

Stehen sexy Bi-Vampirfrauen also tatsächlich für die Form von Bi-Sichtbarkeit, die wir uns wünschen? Die bisexuellen Frauen, die Sharon Stone, Megan Fox oder Jodie Comer darstellen, sind toll und gefallen mir alle. Mit ihrer Intriganz, Macht und sexuellen Freiheit wirken sie verführerisch transgressiv: Sie durchbrechen die Gender-, Sexualitäts- und Gesellschaftsnormen, und ich glaube, diese Frauen stellen häufig genau das dar, was bisexuelle Menschen sehen wollen.

Vielleicht sollten wir die Figuren nicht allzu wörtlich nehmen. Filme verraten uns vieles über unsere Gesellschaft, und die Femme fatale rührt seit jeher an konservative Ängste in Bezug auf die gesellschaftliche Stellung von Frauen.40 Laut Farrimond steht die Femme fatale »emblematisch für die postfeministische Ermächtigung«. Ob ihre Bisexualität nun wörtlich oder symbolisch oder als beides zu verstehen ist, sie ist in jedem Fall ein effektives Mittel, außerhalb der gesellschaftlichen Norm zu leben. Unweigerlich fällt einem dabei ein Zitat aus dem Buch The Bisexual Option des Sexologen Fritz Klein ein. Darin geht es um einen Vater, der über seine bisexuelle Tochter spricht:

Hier ein Mann, dort eine Frau. So kannst du nicht leben. Du bist entweder das eine oder das andere.

Darin besteht die Gefahr.

Zu viel Freiheit.

Genau darauf spielt die Figur der bisexuellen Femme fatale an, sie ist der ultimative Ausdruck einer übergroßen Freiheit, die zu Tod und Zerstörung führt. Wir können sie entweder als eine Kinoversion der Warnung vor sexueller Freiheit oder als selbstermächtigte Heldinnen lesen. Solange sie nicht unsere einzige Repräsentation bleibt, hoffe ich, dass es sie weiterhin auf dem Bildschirm geben wird.

Die männliche bisexuelle Figur ist noch schwerer zu fassen als die weibliche (und die bisexuelle nicht-binäre Person existiert schlichtweg nicht). Taucht ausnahmsweise doch ein bisexueller Mann auf dem Bildschirm auf, wird er in der Regel als schwul abgestempelt. Beispielsweise in dem Film Brokeback Mountain, der 2005 mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Dem verstorbenen Soziologieprofessor Harry Brod zufolge »wird Brokeback Mountain als Film über ›schwule‹ Cowboys diskutiert, dabei sind die Figuren eindeutig bisexuell angelegt. Diese Fehlbeurteilung des Films ist darauf zurückzuführen, dass unsere Kultur nach wie vor dazu neigt, in Fragen der Sexualität und sexuellen Orientierung zu polarisieren, in Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen und zu simplifizieren. … Diese Tendenz sollte man kritisieren und sich dagegen zur Wehr setzen.«41 »Da sind zwei bisexuelle Hirten zu sehen, keine schwulen Cowboys«, schrieb er.

Von den Dreißiger- bis in die frühen Sechzigerjahre hinein verbannte der amerikanische Motion Picture Production Code (der Dachverband der Filmproduktionsindustrie) jegliche Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen im Film. Als er aufgehoben wurde, so Wayne Bryant, der sich eingehend mit dem Thema der Darstellung Bisexueller im Film befasst hat, hatte das auch seine Schattenseiten, »denn als sich in den Sechzigerjahren mit dem Ende dieser Zensurmaßnahme die Schleusen für die Darstellung bisexueller Figuren öffneten, betraf das insbesondere auch die damit einhergehenden Stereotype«. Er argumentiert, dass die damals auftauchenden männlichen Bi-Stereotype eine Vielzahl von Formen annahmen.

Sehr verbreitet war beispielsweise das Klischee, dass bisexuelle Ehemänner grundsätzlich ihre Sexualität vor ihren Frauen verbergen, ihre Frauen schlagen, Opfer von Erpressung werden und nicht damit umgehen können, dass sie gleichgeschlechtliche Neigungen verspüren. Die Vorstellung, dass Bi-Männer mit allem Sex hatten, was nicht »bei drei auf den Bäumen ist«, war ebenfalls verbreitet. Als in den Achtzigerjahren bisexuelle Männer in den Medien oft als die Überträger des HIV-Virus von den schwulen in die heterosexuellen Communitys dargestellt wurden, tauchte auf dem Bildschirm zudem das Bild des bisexuellen Mannes als sadomasochistischer, drogenabhängiger und sexualisierter Killer auf.42 Auch hier ist das Thema des doppelten Spiels präsent. Bi-Männer werden häufig als Figuren gezeichnet, die ein geheimes Leben führen und sich selbst, ihre Partner*in und die Gesellschaft darüber belügen, wer sie wirklich sind.

Ähnlich wie in historischen Darstellungen im Film neigen wir zu der Annahme, dass die bisexuelle Filmfigur etwas verleugnet oder sich in einer Übergangsphase hin zu ihrer wahren Neigung befindet — nämlich homosexuell ist. Darin spiegelt sich die verbreitete Überzeugung, Bisexualität sei eine Phase oder existiere in Wirklichkeit nicht. Dazu trägt auch bei, dass bisexuelle Figuren im Film so gut wie nie das Wort bisexuell verwenden und damit viele Interpretationsmöglichkeiten ihrer sexuellen Identität zulassen. Laut Bryant wurde Bisexualität zu einer »Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt«.43 Wer es einmal bemerkt hat, ärgert sich unweigerlich darüber. Sag doch einfach bisexuell, brüllen mein Partner und ich, wenn im Fernsehen eine Figur mal wieder zu einer total umständlichen Umschreibung ansetzt.

Dennoch lässt sich die Tatsache, dass wir und queere Filmtheoretiker*innen überhaupt diese Filme besprechen, dass diese also gedreht und die bisexuellen Figuren darin geschrieben wurden, bereits als ein Triumph verbuchen. So wie ich selbst mich teilweise mit den weiblichen Bi-Bösewichtinnen identifizieren kann, gilt dasselbe wahrscheinlich auch für Bi-Männer, selbst wenn sie gewisse negative Stereotype tragen. Unter dem Gesichtspunkt des parasozialen Kontaktes beunruhigt es mich allerdings, dass für viele Zuschauer*innen die einzigen bisexuellen Menschen, die sie sehen, verwirrend und monströs gezeichnet sind. Wenn ich mir vorstelle, man könnte diese Figuren ernst nehmen, überläuft es mich kalt. Aber noch ist nicht alles verloren. In jüngster Zeit sind mehr und mehr tolle und nachvollziehbare Filmfiguren zu sehen, die mir Hoffnung machen.

In dem Maß, wie bisexuelle Menschen ihre eigene visuelle Sprache und eine wachsende Zahl inklusiver Communitys entwickeln und auf dem Bildschirm zunehmend sichtbar sind, wird es zwangsläufig schwieriger werden, jene wunderbare Welt jenseits von Gender nicht wahrzunehmen.