6

Alles ist politisch

Ob Sie es wollen oder nicht: Ihre Sexualität ist politisch.

Viele bisexuelle Menschen leben in einer Familie, in einer Gemeinschaft oder einem Land, wo sie sich in Gefahr befinden. Wo sie ihre Sexualität nicht erforschen oder ausdrücken können. Wo sie befürchten müssen, belästigt und diskriminiert, angegriffen, eingesperrt oder getötet zu werden, wenn sie ihre sexuellen Neigungen äußern.

In Gefahr zu sein, nur weil man gegen die heterosexuelle Norm verstößt, ist eine besondere Art der Isolation. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit dieser verheerenden Realität. Ein düsteres Kapitel, aber vielleicht auch das wichtigste in diesem Buch. Es ist von entscheidender Bedeutung — gerade für diejenigen von uns, die in Sicherheit leben —, sich derer, die sich in Gefahr befinden, bewusst zu sein und für sie zu kämpfen. Wir sollten jenen, die nicht sprechen können, unsere Stimme leihen. Jede*r, der oder die laut ausspricht, dass er oder sie bisexuell, schwul oder lesbisch ist oder eine andere nicht-heterosexuelle Identität hat, hilft denjenigen, die keine Stimme besitzen. Sichtbarkeit ist absolut notwendig, um Menschen auf der ganzen Welt im Kampf für Menschenrechte beizustehen. Wenn wir die Menschen daran erinnern, dass wir existieren und mitten unter ihnen leben, wird es sehr viel schwieriger, uns zu entmenschlichen.

Heute, im Jahr 2021, lebt beinahe die Hälfte der Weltbevölkerung in jenen 69 Ländern, deren Gesetze homosexuelles Verhalten kriminalisieren.1 In vielen davon drohen ihnen Gefängnis- und manchmal sogar Todesstrafen. Dieses Kapitel befasst sich mit besonders schwierigen Problemen, aber ich möchte Sie an dieser Stelle ermutigen, es zu lesen. Brennen Sie es in Ihr Gedächtnis ein. Lassen Sie Gefühle der Trauer und Wut zu. Ich will, dass Sie diese Realität kennen und sich davon befeuern lassen, Veränderungen anzustoßen.

Der Bericht des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2018 zeichnet ein trostloses Bild, was den Stand der Menschenrechte aller LGBT+-Personen weltweit betrifft. Es ist der erste Bericht dieser Art, der ausschließlich Gewalt und Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Genderidentität thematisiert.2 Er stützt sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und deren Präambel, wonach die »Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet«.3 Wie schön, die Welt als eine Gemeinschaft von Menschen zu sehen. Wenn es doch auch in der Praxis bedeuten würde, dass wir einander freundlich behandelten.

Der Bericht stellt stattdessen fest, dass die auf sexueller Orientierung und Geschlechteridentität beruhende Gewalt und Diskriminierung »überall auf der Welt stattfinden und pro Jahr vermutlich Millionen Opfer fordern. Die Handlungen reichen von täglicher Ausgrenzung und Diskriminierung bis zu den niederträchtigsten Verbrechen wie Folter und willkürlichem Töten.« Das zeigt sich insbesondere in Ländern mit »tief verwurzeltem Stigma und Vorurteilen, die durch eine diskriminierende Gesetzgebung und Regulierungen verstärkt werden und ein Klima erzeugen, in dem Hassreden, Gewalt und Diskriminierung geduldet und ungestraft verübt werden«.

Den Bericht als deprimierend zu bezeichnen ist eine Untertreibung. Er zeigt die grausame Realität, so unbegreiflich weit von jenen Regenbogenbildern entfernt, die man uns in London, Toronto, Berlin oder New York präsentiert. Dem Bericht zufolge sind »Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und andere nicht genderidentitäts-konforme Personen … mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Gefahr von Gewalt ausgesetzt, und … ihr tägliches Leben ist generell von der Angst davor geprägt«. Mich überkommen angesichts dieser Ungerechtigkeit Schuldgefühle. Der Zufall, an welchem Ort der Welt man geboren wird, hat mir ein Leben ermöglicht, in dem ich ohne Angst vor Verfolgung offen bisexuell sein kann.

Der Bericht beschreibt die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von homosexuellen Handlungen, im Namen der »sozialen Säuberung« oder als »Ehrenmorde« durchgeführte Tötungen in privaten und öffentlichen Räumen. Andere Gewalttaten sind etwa Todesdrohungen, Schläge, körperliche Züchtigung als Strafe für homosexuelles Verhalten, willkürliche Verhaftung und Inhaftierung, Folter, Säureangriffe, Genitalverstümmelung, Vergewaltigung, Zwangsbefruchtung, Isolationshaft, sexuelle Nötigung, Demütigung, Beschimpfung, Zwangsheirat, Belästigung, Mobbing, Hassreden und erzwungene medizinische Untersuchungen. Die Gewalttaten werden von Familien oder Einzelpersonen, manchmal aber auch durch lokale Milizen, Banden, religiöse Extremist*innen und extreme Nationalist*innen verübt.

2021 haben Laurel Watson und Kolleg*innen qualitative Untersuchungen durchgeführt, die sich mit der Erfahrung sexueller Gewalt von 532 diversen bisexuellen Frauen beschäftigen.4 Watson hat den PhD in Beratungspsychologie und nutzt ihre Spezialisierung im Bereich Traumatologie, um Diskriminierungserfahrungen und ihre Auswirkung auf die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden von Einzelpersonen mit marginalisierten Identitäten besser zu verstehen.5

Im Rahmen ihrer Untersuchungen stellten Watson und Kolleg*innen fest, dass »viele Teilnehmer*innen die sexuellen Übergriffe auf ihre offen geoutete Identität zurückführten, was vermutlich die Diskriminierung von Bisexualität verstärkte«. Eine besonders abscheuliche Form der Gewalt, die einige Teilnehmerinnen beschrieben, war die sogenannte »korrigierende Vergewaltigung«. Nach Angaben der Organisation Human Rights Watch ist in einigen afrikanischen Staaten, darunter auch Südafrika und Uganda, »korrigierende Vergewaltigung ein weitverbreitetes Phänomen, bei dem Männer Menschen vergewaltigen, die sie für lesbisch halten oder von denen sie wissen, dass sie lesbisch sind, um sie zur Heterosexualität zu ›bekehren‹«.6

Watson stellte fest, dass einige bisexuelle Teilnehmer*innen, die in den Vereinigten Staaten lebten, ebenfalls korrigierende Vergewaltigung erfahren hatten. Der Grund dafür war jedoch nicht immer, dass sie heterosexuell werden sollten. So erklärte eine Teilnehmerin, die sich als Schwarze Cisgender-Frau identifizierte: »Ich glaube, ich sollte durch diese ›korrigierende Vergewaltigung‹ zu einer ›echten Lesbe‹ gemacht werden.« Eine an der Studie teilnehmende Person, die sich als Weiß und genderfluid identifizierte, konstatierte: »Ich habe das Gefühl, jede*r von ihnen glaubte, sie könnten meine Identität so verändern, wie sie ihrer Meinung nach sein sollte. Die Frau dachte, sie könnte mich zu einer Lesbe, und der Mann dachte, er könnte mich heterosexuell machen. Keiner von beiden hielt Bisexualität für eine eigene Identität.« Solche Übergriffe zeigen, dass bisexuelle Menschen vor allem deshalb gefährdet sein können, weil sie eben bisexuell sind. Sie werden nicht wegen der homosexuellen Aspekte ihres Verhaltens oder ihrer Identität angegriffen.

Opfer, die über solche Missstände berichten, werden häufig nicht beachtet oder sogar diskreditiert. Selbst Menschenrechtsverteidiger*innen, die im Bereich der sexuellen Orientierung oder Genderidentität aktiv sind, werden von Staaten bei ihrer Arbeit behindert. Schlimmer noch: Wer queer ist, dessen Feind kann auch der Staat sein. Staatliche Gewalt wird nicht selten unter dem Deckmantel des Schutzes der öffentlichen Ordnung, der gesellschaftlichen Sitten oder in Zusammenhang mit der Durchsetzung von Gesetzen ausgeübt, die gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisieren. Russland, Aserbeidschan, Ägypten und Indonesien werden in dem Bericht als Länder genannt, in denen staatliche Vertreter als Gewalttäter bekannt sind.

Laut Bericht wurde auch in Kamerun, Ägypten, Kenia, Libanon, Tunesien, Turkmenistan, Uganda, Tansania und Sambia von erzwungenen Analuntersuchungen berichtet, die einer Folterung gleichkommen. Bei diesem häufig staatlich sanktionierten Verfahren führt ein Arzt oder eine andere medizinische Fachkraft den Finger oder andere Untersuchungsmittel in den Anus einer Person ein, die gleichgeschlechtlicher Handlungen verdächtigt wird. Durch diese Praxis sollen homosexuelle Neigungen »bewiesen« oder »widerlegt« werden. Dieser medizinisch nutzlose Test stellt ein grundlegendes und erniedrigendes Missverständnis homosexuellen Verhaltens dar. Hinzu kommt, dass queere Menschen in vielen Teilen der Welt so behandelt werden, als seien sie körperlich oder psychisch krank.

Mir liefen beim Lesen des UN-Berichts die Tränen übers Gesicht. Ein schockierender Abschnitt folgte auf den anderen. Hinter jedem der aufgeführten Begriffe von Gewalt stehen unzählige Opfer. Es kommt mir unmöglich vor, dass sie in derselben Welt leben wie ich und dass wir, die Mitglieder der menschlichen Familie, so bereitwillig und rücksichtlos jene vernichten, die sich nicht an unsere sexuellen Normen halten.

Glauben Sie wirklich, dass wir anders handeln würden und Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Genderidentität niemals so schreckliche Dinge antun würden? Derartige Verbrechen und Überzeugungen machen mitnichten an den Landesgrenzen halt. Unsere Communitys mögen sich mit Regenbogenflaggen schmücken, aber davon auszugehen, dass alle queeren Menschen hier gleichermaßen geschützt seien, ist eine Illusion. Ein eklatantes Beispiel dafür, dass auch in Ländern, in denen homosexuelle Handlungen nicht mehr kriminalisiert werden, schrecklicher Missbrauch aufgrund der sexuellen Orientierung betrieben wird, ist das Fortbestehen von Konversionstherapien.

Im Jahr 2020 veröffentlichte die LGBT+-Foundation einen Bericht über den weltweiten Stand dieser Therapien.7 Konversionstherapien zielen in der Regel darauf ab, eine Person von ihrem queeren »Lebensstil«, ihrem Verhalten oder ihrer Identität abzubringen und zur Heterosexualität oder einer Cisgender-Identität zu bekehren. Dabei wird der Versuch unternommen, diejenigen, die nicht den Erwartungen der Gemeinschaft entsprechen, durch Zwang zur Einhaltung der gesellschaftlichen Normen zu bringen. Die meisten Menschen, die sich einer solchen Therapie unterziehen, tun dies nur unter Zwang oder weil sie massiv unter Druck gesetzt werden.

Die »Therapien« werden von internationalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation und der American Psychological Association abgelehnt, da sie medizinisch und wissenschaftlich fragwürdig sind. Sie sind auch in einer Reihe von Ländern und Gerichtsbarkeiten untersagt, etwa in einigen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten, wo sich Schätzungen zufolge seit der Einführung im Jahr 1890 rund 698.000 Menschen einer Konversionstherapie unterzogen haben.8

Mehr als die Hälfte der Betroffenen war bei der Behandlung noch minderjährig. Obwohl diese Praxis von Berufsverbänden abgelehnt und mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht wird, stellt der LGBT+-Foundation-Bericht von 2020 fest, dass sie nach wie vor verbreitet ist. Die Frage »Werden in Ihrem Land noch Konversionstherapien durchgeführt?« wurde von 5820 Teilnehmern beantwortet, und 1851 davon bejahten sie. Unabhängig davon, auf welchem Kontinent Sie leben, kann man also davon ausgehen, dass die Konversionstherapie noch irgendwo in Ihrem Teil der Welt ausgeübt wird.

Was genau beinhaltet die Therapie? Dem Bericht zufolge gehören dazu generell eine Gesprächstherapie und eine Psychoanalyse. Stellen Sie sich einmal vor, man erzählte Ihnen, Ihre sexuelle oder Gender-Orientierung sei eine Krankheit, die kuriert werden müsse, und dass Sie zu einer Kategorie gehörten, die einer »Therapie« bedürfe. Andere gängige »Behandlungsmethoden« sind Beten, erzwungener Sex, erzwungene Schwangerschaft, Fasten, exzessives Sportprogramm, Hypnose, Drogen, Operationen, körperliche Misshandlung und Elektroschocks. Da sich die meisten Menschen nicht bereitwillig auf diese Methoden einlassen, kann es vorkommen, dass Eltern oder Gemeinschaften die Betroffenen entführen, sie festhalten oder ihre Finanzen kontrollieren. Es gibt keine Beweise dafür, dass solche Behandlungen jemanden davon abhalten könnten, seinen homosexuellen Neigungen zu folgen. Eine Konversionstherapie ist völlig nutzlos und hat obendrein erwiesenermaßen langfristige negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen; diese leiden — unter anderem — an Schuldgefühlen, Wut, Angst, Scham, Selbstmordgedanken, Depressionen und ebenso unerwünschten wie hartnäckigen Erinnerungen an die überstandenen Prozeduren.

Falls Sie sich die Frage stellen, welche Menschen bereit sind, ihre Nächsten derlei schrecklichen Eingriffen auszusetzen: Bei einem Großteil davon handelt es sich um private Anbieter psychologischer Behandlungen oder religiöse Gruppen; daneben wurden auch viele andere »Täter« identifiziert, etwa medizinische Anbieter, traditionelle Heiler, Eltern und Konversionslager. Bei rund fünf Prozent handelte es sich um staatliche Organisationen und bei vier Prozent um schulisches Personal.

Die Konversionstherapie ist ein gutes Beispiel dafür, dass jemand, unabhängig davon, wo er lebt, psychische und körperliche Folter fürchten muss, nur weil er LGBT+ ist. In Deutschland wurde erst 2020 ein Gesetz verabschiedet, das Konversionstherapien bei Minderjährigen untersagt, und im Vereinigten Königreich ist die Therapie gegenwärtig noch immer nicht verboten.9 Eine Umfrage der britischen Regierung im Jahr 2018 ergab, dass rund 5 Prozent jener 108.000 Personen, die geantwortet hatten, eine Form der Konversionstherapie angeboten worden war und 2 Prozent dieser Gruppe sich hatten therapieren lassen.10 Darüber hinaus wurde in der Umfrage festgestellt, dass über die Hälfte dieser Therapien von religiösen Gruppen durchgeführt wurde. Man mag es kaum glauben, dass dies immer noch möglich und in so vielen Ländern nach wie vor auch legal ist.

Obwohl es nirgendwo völlig sicher ist, sind einige Orte sicherer als andere. Das veranlasst Menschen dazu, aus ihrem eigenen Land zu fliehen und anderswo ein Leben zu beginnen, in dem sie nicht mehr von Folter und Verfolgung bedroht sind. Asylbewerber*innen stehen dann vor einer besonderen Schwierigkeit: Sie müssen ihre Sexualität beweisen. Im Kontext einer Konversionstherapie oder Gesetzgebung gegen homosexuelles Verhalten ist es meist irrelevant, ob eine Person bi- oder homosexuell (oder irgendeine andere Art von queer) ist. Ausschlaggebend ist, dass der Betreffende nicht heterosexuell ist. Bei Asylanträgen spielt jedoch die sexuelle Orientierung eine Rolle, und der Nachweis der eigenen Bisexualität kann besonders schwierig sein.

Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten Ihre Sexualität vor Gericht nachweisen. Wie würden Sie das tun? Würden Sie Fotos von sich gemeinsam mit Ihren Sexualpartner*innen vorlegen? Vielleicht Sexting-Daten zu Verfügung stellen oder Fotos von sich selbst in Aktion? Doch gerade diese letzte Idee ist seltsamerweise ziemlich nutzlos.

Antonia Benfield, eine auf Asyl- und Einwanderungsrecht spezialisierte Anwältin im Vereinigten Königreich,11 erklärte mir dazu: Obwohl Asylbewerber*innen manchmal denken, sexuell eindeutiges Material könnte ihren Antrag begünstigen, berücksichtigt das Innenministerium keine »sexuell eindeutigen Narrative«. Auch wenn die sexy Fotos den Anschein erwecken mögen, sie könnten den Antragssteller*innen weiterhelfen, dürfen sie wahrscheinlich überhaupt nicht für den Fall herangezogen werden.

Laut Benfield wird erwartet, dass die Asyl suchende Person sich zu ihrer eigenen Sexualität und der Entdeckung ihrer sexuellen Orientierung äußert und klar angeben kann, wie sie sich identifiziert. Oberflächlich betrachtet erscheint dies zunächst einfach, doch das ist ein Irrtum. Während einige sehr genau wissen, wann ihnen zum ersten Mal bewusst wurde, dass sie queer sind, ist das keineswegs immer der Fall. Oft wird dabei auch übersehen, wie viel schwieriger es für Menschen mit weniger Bildung ist, ihre Identität und Erfahrungen zu erklären, wenn sie in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, in der ihnen in Schule und Kirche beigebracht wurde, alles nicht Heterosexuelle sei verabscheuungswürdig.

Daneben gibt es noch ein Problem, das ich vorher nie in Betracht gezogen habe. Viele Asylsuchende kommunizieren notgedrungen über Dolmetscher*innen — Dolmetscher*innen, die selbst homophob sein könnten oder zumindest bei den Betroffenen Erinnerungen an das Stigma auslösen, das sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in ihrer Heimat oder ihrer Gemeinschaft erfahren haben. Es übersteigt mein Vorstellungsvermögen, wie schrecklich oder retraumatisierend es für die Betreffenden sein muss, einer Person, die sie stark an die einstigen Täter erinnert, die eigene Geschichte ihrer erlittenen Menschenrechtsverletzungen zu berichten. Womit ich nicht sagen will, dass es für dieses Problem eine einfache Lösung gibt. Ohne Dolmetscher*innen geht es nicht, und die jeweils genau zu einem Asylsuchenden passenden zu finden dürfte ein schwieriges Unterfangen sein. Aber wenn man darüber nachdenkt, warum es so kompliziert ist, die eigene Sexualität zu beweisen, übersieht man leicht derartige verfahrenstechnische Ursachen.

Natürlich sind diese Probleme nicht nur für queere Menschen relevant. In den meisten Ländern ist es außerordentlich schwierig, als Asylsuchende*r anerkannt zu werden, unabhängig davon, welche Gründe Sie geltend machen — Religionsausübung, Sexualität, humanitäre Gründe wie Krieg. Das lässt sich durch Zahlen belegen: 2018 wurden nach Angaben der britischen Regierungsstatistik nur 35 Prozent der Asylbewerber*innen der Flüchtlingsstatus oder eine andere Form des rechtlichen Schutzes gewährt, wenn sie zum ersten Mal einen Antrag stellten.12 Das ist etwas weniger als der europäische Durchschnitt von 39 Prozent.13 In Anbetracht der tragischen Umstände, die Menschen dazu veranlassen, aus ihrer Heimat zu fliehen, bedeutet dies, dass viele Menschen, deren Antrag scheitert, »abgeschoben« und in ihr Heimatland zurückgeschickt werden.

Für diejenigen, die aufgrund ihrer Sexualität Asyl suchen, sind die Anerkennungsquoten noch niedriger. Es herrscht eine Kultur des Unglaubens, da das britische Innenministerium oft einfach nicht akzeptiert, dass Menschen tatsächlich homosexuell oder bisexuell sind, wie sie behaupten. Wenn es zu dem Schluss kommt, dass eine Person nicht homosexuell ist, und dies die Grundlage des Asylantrages bildet, dann wird der Antrag wahrscheinlich mit der Begründung abgelehnt, für diese Person bestehe keine begründete Furcht vor Verfolgung.

Hier ein paar Beispiele dafür, wie sich derartige Ablehnungen anhören: »Der Richter befand … dass er nicht bisexuell war.«14 Oder: »Der SSHD (Secretary of State for the Home Office, Staatssekretär des Innenministeriums) traf eine weitere Entscheidung zur Ablehnung von JS’ Schutz- und Menschenrechtsansprüchen und bestritt sowohl JS’ Darstellung seiner Misshandlung in Uganda als auch seine Bisexualität.«15 Oder:

»Die Richterin akzeptierte, dass eine bisexuelle Person grundsätzlich in der Lage ist, Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne der Flüchtlingskonvention zu sein und dass der Antrag des Klägers daher das Potenzial hatte, den Verpflichtungen des Vereinigten Königreiches aus diesem Vertrag zu entsprechen. Sie akzeptierte die Beweise dafür, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Männern in Nigeria illegal sind und Homosexuelle generell keinen Schutz bei der Polizei suchen können. Sie akzeptierte, dass der Kläger, wenn er bisexuell wäre, bei seiner Rückkehr nach Nigeria gefährdet wäre. Seine Behauptung, bisexuell zu sein, wurde jedoch zurückgewiesen.«16

In letzterem Fall erklärte die Richterin, die Behauptung sei erfunden. Können Sie sich das vorstellen? Man sagt Ihnen, dass Sie in Bezug auf Ihre Sexualität lügen, und schickt Sie in Ihre Heimat zurück … wo Sie für das, was Sie öffentlich gesagt haben, verfolgt und getötet werden könnten. Was für eine entsetzliche Realität.

Ich will damit nicht sagen, dass diese Urteile unbedingt falsch sind. Jede*r kann einfach behaupten, er oder sie sei bisexuell, das ist richtig. Es ist nicht auszuschließen, dass Menschen in Bezug auf ihre Sexualität lügen. Aber es ist unglaublich schwierig, Beweise dafür zu finden, insbesondere in Ländern, in denen homosexuelle Handlungen illegal sind und in denen Menschen unter Druck gesetzt werden, um zu heiraten und Kinder zu bekommen. Das kann dazu führen, dass für LGBT+-Personen und insbesondere bisexuelle Menschen ein größeres Abschieberisiko besteht als für Menschen, die Asyl auf der Grundlage anderer Gründe der Genfer Konvention beantragen.

Dies steht im Zusammenhang mit einer umfassenderen Frage: Können Richter*innen in diesen Fällen tatsächlich erkennen, ob jemand lügt? In meinem Hauptforschungsgebiet — der Kriminalpsychologie — ist das Erkennen von Lügen ein wichtiges Untersuchungsfeld. Weylin Sternglanz und Kolleg*innen haben 2019 die Literatur zu diesem Thema an verschiedenen amerikanischen Universitäten gesichtet und festgestellt, dass in Hunderten von Studien die durchschnittliche Genauigkeit bei der Unterscheidung zwischen wahren Berichten und Lügen bei 54 Prozent liegt.17 Davon ausgehend, dass man bei 50 Prozent von Zufall spricht, ist das keine gute Nachricht. Und es ist ebenso wenig eine neue Nachricht. Seit Jahrzehnten wird in Studien immer wieder das Gleiche festgestellt: Menschen sind schlecht darin, Lügen zu erkennen. Während ich dies schreibe, fällt mir auf, dass ich noch nie daran gedacht habe, die Forschung der Lügenerkennung könnte relevant für irgendeinen Aspekt der Sexualität sein. Für Asylbewerber*innen hat diese Problematik der unzuverlässigen Lügenerkennung verheerende Folgen. Stellen Sie sich vor, Sie erzählen Ihre Geschichte, berichten von schrecklichen Misshandlungen und setzen alles auf eine Karte, indem Sie sich vor den Behörden und vor dem Gericht outen, nur um dann zu hören, Sie seien ein*e Lügner*in? So etwas kommt ständig vor. Im ersten Kapitel haben wir festgestellt, wie vielschichtig die Definition von Bisexualität ist und dass sie sich in der Regel auf die sexuelle Anziehung zu mehreren Geschlechtern und nicht auf das Sexualverhalten bezieht. Wie sich jemand sexuell identifiziert, ist unbeweisbar. Auf welche Art von Beweisen stützen sich dann Entscheidungsträger und Gerichte?

Eine Form des Beweises ist das Sexualverhalten. Problematisch hierbei ist, dass bisexuelles Verhalten häufig monosexuell anmutet — beispielsweise wenn der oder die Betreffende mit nur einem Gender sexuelle Beziehungen hat, sich jedoch gleichwohl zu vielen Gendern hingezogen fühlt. Selbst wenn jemand zu verschiedenen Zeiten sexuelle Beziehungen mit multiplen Gendern hat, beweist das noch nicht, dass die Person bisexuell ist. Ein derartiges Verhalten lässt sich ebenso gut als Beweis für verkappte Homosexualität werten oder dafür, dass Sex als Mittel zur Manipulation eingesetzt wird oder dass es sich bei den Betroffenen um Sexarbeiter*innen handelt. Häufig zitiert wird auch der Fall einer lesbischen Asylbewerberin aus Jamaika, deren sexuelle Orientierung vor Gericht als »sexuelles Experiment« abgetan wurde.18

Das folgende Fallbeispiel einer Asylbewerbung spiegelt die Komplexität wider:19

Während der förmlichen Anhörung am 21. September 2012 gab C. an, dass er bisexuell sei und seine Familie ihn töten wollte, als sie von seiner Sexualität erfuhr. Er gab auch an, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Gambia Verfolgung und schwere Misshandlung befürchte.

Befragt, wann er seine sexuelle Orientierung entdeckt habe, erwiderte C., er habe ungefähr als Zehnjähriger bemerkt, dass er »anders« sei, habe aber erst als Dreizehn- oder Vierzehnjähriger zum ersten Mal mit einem Mann, dem Deutschen Karl Hans Kloser, den er am Strand kennenlernte und mit dem er ausgegangen sei, geschlafen. C. gab weiter an, er habe damals in einem Restaurant und einem Hotel gearbeitet, es seien jedoch immer kurzfristige Jobs gewesen. Er erzählte dem Vernehmungsbeamten, sein Bruder habe ihn, als seine Familie von C.s Sexualität erfuhr, mit einer Eisenstange auf den Bauch und ins Gesicht geschlagen. Dabei deutete C. auf zwei Narben. Auf die Frage, wie seine Familie von seiner Homosexualität erfahren habe, antwortete er: »Sie haben Gerüchte gehört, und Leute haben es ihnen erzählt. Sie haben mich damit konfrontiert, und ich wollte sie nicht anlügen.« Er sagte, er sei weggelaufen, seine Familie habe ihn jedoch aufgespürt und ihm eine »schwere Tracht Prügel« verpasst, sodass er für ein paar Tage ins Krankenhaus musste. Er flüchtete aus dem Krankenhaus, bevor sie herausfanden, dass er sich dort befand, und ihn abholten. Mit ungefähr 15 Jahren lief er zum letzten Mal von zu Hause weg und kam danach ins Vereinigte Königreich. Er gab an, einem Polizeibeamten umgerechnet 20 Pfund bezahlt zu haben, damit er ihm einen Pass besorgte. Er sagte, er habe dem Polizeibeamten erzählt, dass er 1978 geboren sei.

Er sagte, er sei 14 oder 15 Jahre alt gewesen und habe im Freien am Strand übernachtet, als er Linda Firth und ihren Ehemann kennenlernte. Er hatte eine Affäre mit Linda und sagte ihr, er wolle ins Vereinigte Königreich kommen. Sie schickte ihm Geld für das Visum, und er sagte den Behörden, sie sei seine Verlobte. Er verschwieg Linda sein Alter und seine Bisexualität. Als er im Vereinigten Königreich eintraf, holte Linda ihn am Flughafen ab und nahm ihn mit nach Leeds, allerdings nicht in das Haus, wo sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern wohnte. Er gab an, sie habe nicht die ganze Zeit bei ihm gewohnt, sondern auch in ihrem eigenen Zuhause. Nach ungefähr zwei Monaten sagte er ihr die Wahrheit über seine Sexualität, woraufhin die Beziehung endete.

C. hatte Dokumente mit unterschiedlichen Altersangaben bei sich, was, wie er behauptete, damals notwendig gewesen sei. Gerade dieser Umstand führte dazu, dass ihm das Gericht eine gewisse Täuschungsabsicht unterstellte und sich zu der Feststellung veranlasst sah, dass es »ganz offensichtlich schwierig ist, ihm irgendetwas zu glauben«. In Bezug auf seine Bisexualität hieß es, es gebe zwar einige Beweise, die seine Darstellung von Beziehungen zu zwei Frauen bestätigten, seine Beweise für homosexuelle Beziehungen seien jedoch »vage und ohne glaubwürdige Details«, was darauf hindeute, dass »insbesondere seine Behauptung, homo- oder bisexuell zu sein, erfunden sei«.

Das Problem, Lügen als solche zu erkennen, spielt hier auf jeder Ebene eine Rolle. Richter*innen stellen ständig Vermutungen darüber an, ob ein Bericht wahr oder falsch ist, und selbst wenn es nachweislich sexuelle Beziehungen zu multiplen Gendern gab, reicht das nicht aus, um die Bisexualität einer Person zu »beweisen«. Und was ist das Ergebnis? Zwei Forschungsarbeiten zu diesem Thema fassen ihre deprimierenden Erkenntnisse mit den nicht weniger deprimierenden, aber eingängigen Titeln zusammen: »Asyl für Bisexuelle: Kaum eine Chance« und »Weder hier- noch dorthin gehören«.

Die erste Studie aus dem Jahr 2009, in der Anträge von Flüchtlingen auf Grundlage ihrer Bisexualität in den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien untersucht wurden, kam zu dem Schluss, dass bisexuelle Menschen deutlich seltener den Flüchtlingsstatus erhalten als andere sexuelle Minderheiten. Der Autor der Untersuchung, Sean Rehaag von der York University, stellte fest, dass die Unsichtbarkeit von Bisexualität und negative Stereotype der Entscheidungsträger*innen eine wichtige Rolle dabei spielten. Er fand außerdem heraus, dass sexuellen Minderheiten, die keine traditionelle schwule oder lesbische Identität haben, der Flüchtlingsstatus insgesamt nur zögerlich gewährt wird.20 Unverkennbar liegt hier die Annahme zugrunde, dass bisexuelle Menschen einfach entscheiden können, ein heterosexuelles Leben zu führen, romantische Beziehungen mit dem »anderen« Geschlecht einzugehen und somit nicht wirklich in Gefahr sind. Passt euch einfach an, macht eure sexuelle Identität unsichtbar, lautet die Botschaft. Ihr seid nicht queer genug, um unseren Schutz zu verdienen.

Ich bin nicht die Einzige, die diese Botschaft laut und deutlich vernimmt. Die zweite Arbeit von Jaclyn Gross von der University of California stellte fest, dass diejenigen, die in den Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Bisexualität (im Unterschied zu Homosexuellen oder Transsexuellen) Asyl beantragen, die größten Schwierigkeiten haben.21 Einer der Gründe dafür ist, so ihre Erkenntnis, dass Entscheidungsträger*innen Bisexualität nicht verstehen oder negative Vorurteile haben. Gross belässt es jedoch nicht bei dieser Feststellung, sondern geht einen Schritt weiter und rückt die Thematik des Unabänderlichen in den Fokus.

Etwas Unabänderliches lässt sich nicht ändern und beruht nicht auf freier Wahl.22 Das ist weniger eindeutig, als es klingt. Ganz oben auf der Skala stehen Merkmale wie Alter, Ethnizität und Herkunftsland. Diese Merkmale kann man sich weder selbst aussuchen noch verändern, selbst wenn man es wollte. Am entgegengesetzten Ende der Skala befinden sich Merkmale, die man sich aussuchen und ändern kann, die aber in vielen Ländern dennoch gesetzlich geschützt sind. Dazu zählen etwa Schwangerschaft und Ehe. Abgesehen von Ausnahmen wie Zwangsheirat und Zwangsschwangerschaft haben die Menschen in der Regel die Wahl, sich frei dafür zu entscheiden. Zwischen diesen beiden Punkten der Skala liegen die sexuelle Orientierung und die Religion. Obgleich man sich frei für eine bestimmte Religionszugehörigkeit entscheiden kann und sexuelle Orientierung und Identität sich ändern können, werden diese Merkmale dennoch als bedeutend angesehen. Sie unter Zwang abzuändern ist nicht statthaft. Wie es in den Richtlinien der Vereinten Nationen zum internationalen Schutz heißt, sind »sexuelle Orientierung beziehungsweise geschlechtliche Identität grundlegende Aspekte der menschlichen Identität. Sie sind angeboren oder aus anderen Gründen unabänderlich, und niemand sollte gezwungen werden, sie aufzugeben oder zu verheimlichen.«23 Ihre Sexualität ist eines Ihrer Wesensmerkmale und wahrscheinlich ein zentraler Bestandteil Ihrer Identität, es ist jedoch durchaus möglich, dass sie sich ändert.

Manchmal höre ich das Argument, bisexuellen Menschen stehe es frei, unsichtbar zu sein und heterosexuell zu erscheinen. Samuel Lawton, der über bisexuelle Männer in Beziehungen geforscht hat, bezeichnet dies als »sexuelle Camouflage«. Dennoch besteht die implizite Annahme, diese optionale Unsichtbarkeit sei eine Art Superkraft, die bisexuellen Menschen das Leben in einem Umfeld erleichtere, das anderen Mitgliedern der queeren Community gegenüber feindlich eingestellt ist: Demzufolge können bisexuelle Menschen frei entscheiden, sich nur noch in Mitglieder des anderen Geschlechts zu verlieben und Beziehungen mit ihnen einzugehen. Aber Liebe hält sich bekanntlich nicht an willkürliche Entscheidungen der Gesellschaft, mit wem man zusammen sein sollte und mit wem nicht. Ebenso wenig wie die sexuelle Anziehung. Und wenn jemand sich versehentlich outet? Wie wir erfahren haben, hat das in vielen Teilen der Welt katastrophale Folgen.

Auf diese Denkmuster ist die Forschung im Bereich der Asylsuchenden dann auch gestoßen. Einige der Entscheidungsträger*innen in Asylverfahren vertraten genau diese Überzeugungen und gingen davon aus, dass Bisexualität — oder genauer gesagt das homosexuelle Verhalten bisexueller Menschen — lediglich auf deren freier Wahl beruhe. Diesem Problem ließe sich beikommen, wenn besagte Entscheidungsträger*innen ähnlich über Bisexualität nachdenken würden wie über Religion. Angenommen, Sie entscheiden über folgenden Antrag: Bei dem Betreffenden handelt es sich um einen in Syrien lebenden Christen; dort hat eine terroristische Organisation gedroht, jeden zu töten, der nicht Muslim ist. Die Person hat in Kanada einen Asylantrag gestellt. Ihre Begründung lautet, dass sie aufgrund ihrer Religion befürchtet, gefoltert oder getötet zu werden. Stellen Sie sich mal vor, Sie lehnen den Antrag ab, weil der Antragssteller a.) nicht christlich aussieht und b.) wahrscheinlich als Muslim durchgehen könnte. Sie erklären dem Betreffenden daher, er solle einfach zum Islam konvertieren und das Christentum aufgeben, letztlich sei die Wahl der Religion eine freie Entscheidung.

Viele Menschen, die aus religiösen Gründen Asyl suchen, werden ebenfalls abgelehnt, und manchmal aus genau diesen Gründen. Dennoch dürften die meisten erkennen, wie problematisch so ein Vorgehen ist. Von religiösen Menschen zu verlangen, einfach ihren Glauben aufzugeben und einen neuen anzunehmen, funktioniert einfach nicht. Nur so zu tun, als gehöre man einer anderen Religion an, und regelmäßig an Gottesdiensten teilzunehmen, die nichts mit dem eigenen Glauben zu tun haben, ist für die meisten Gläubigen unvorstellbar. Bisexualität ist, im Gegensatz zu Religion, für die meisten Entscheidungsträger*innen ein relativ unbekanntes Territorium.

In manchen Fällen können Bi-Unsichtbarkeit und Biphobie einem Todesurteil gleichkommen. Stereotype beeinträchtigen die Fähigkeit der Entscheidungsträger*innen und Richter*innen, Menschen, die aufgrund ihrer Bisexualität von Verfolgung bedroht sind, wirksam zu unterstützen.

Während es in einigen Ländern unglaublich schwierig sein kann, in einem Asylverfahren nachzuweisen, dass man queer ist, kann in anderen Ländern der Beweis, dass man nicht queer ist, ebenso schwierig sein. Schon eine vage Anschuldigung reicht möglicherweise aus, um öffentlich beschämt, angegriffen, getötet oder verhaftet zu werden. Zum Beispiel in Uganda.

Im Sommer 2020 sprach ich mit einer Wissenschaftlerin, die gerade ihren PhD in Uganda machte. Zu ihrer eigenen Sicherheit behalte ich ihren Namen für mich. Als bisexuelle Frau, die über LGBT+-Erfahrungen forscht, hielt sie sich bedeckt. Ihr Doktorvater hatte ihr sogar geraten, ihre Forschungsergebnisse erst nach ihrer Abreise aus Uganda bei akademischen Fachzeitschriften einzureichen, um sicherzustellen, dass ihr Name nicht mit LGBT+-Forschung in Verbindung gebracht wurde. Sie hatte Angst, geoutet zu werden, und vor den möglichen Folgen für ihre Sicherheit.

Wie sich zeigte, war ihre Angst nicht unbegründet. Obwohl es in Uganda legal ist, queer zu sein, sind homosexuelle Handlungen illegal. Daraus ergibt sich ein offensichtliches Spannungsverhältnis; Räume, die — vermeintlich — homosexuelle Aktivitäten fördern, werden routinemäßig durchsucht und geschlossen. Sie erzählte mir, die einzige LGB-Bar (das T wird in Uganda in der Regel nicht erwähnt) in Uganda sei immer wieder überfallen worden und habe vor Kurzem schließen müssen. Viele hatten Angst, Dating-Apps zu nutzen, weil sich dort Polizeibeamte herumtrieben und sich als queer ausgaben (catfishing) oder andere Gruppen darauf aus waren, sie zusammenzuschlagen.24

Sie selbst war aufgrund der Covid-Pandemie in Uganda gestrandet, und während sie sich im Lande aufhielt, hatte die ugandische Polizei 23 Menschen in einer vorübergehenden Unterkunft verhaftet. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie die Polizisten die Verhafteten mit einem Rohrstock verprügelten, auf sie einschlugen und dabei sagten: »Erzähl mir von den Kondomen! Woher kommen die? … Wofür hast du sie benutzt? … Mit wem hast du Sex gehabt? … Sag uns, mit wem du Sex hattest!«25 Der Polizei ging es angeblich darum, die Einhaltung der Abstandsregel während der Pandemie zu überprüfen, aber ihre Fragen legen andere Gründe für die Aktion nahe. Der verstörende Vorfall endete damit, dass die Polizei die 23 Personen in Ketten abführte und sie wochenlang festhielt. Angeblich hatten sich die Männer »fahrlässiger Handlungen, die eine Ausbreitung der Krankheit begünstigten«, und der »Missachtung gesetzlicher Anordnungen« schuldig gemacht.26

Seit Kurzem hat Uganda seine Gesetzgebung geändert und homosexuelle Handlungen abermals unter Strafe gestellt. Während ich dies schreibe, wird ein Gesetzesentwurf zur Verabschiedung vorgelegt, der sogar noch weiter geht und die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen fordert. Dieses Gesetz ist umgangssprachlich als das »Tötet die Schwulen«-Gesetz bekannt.27 Nach den Sittengesetzen des Landes gilt »Geschlechtsverkehr wider die natürliche Ordnung« als illegal und kann bis zu sieben Jahren Haft führen. Dieses schreckliche Gesetz befürworten beispielsweise Personen wie der Minister für Ethik und Integrität, Simon Lokodo. Wie er 2019 in einem Interview sagte, »ist Homosexualität für Ugander nicht natürlich… Es gibt jedoch eine massive Rekrutierung von Homosexuellen in den Schulen, insbesondere in der jüngeren Generation, wo sie die Lüge verbreiten, dass Menschen so geboren würden.«28 Das Argument, wonach solche Gesetze zum Schutz der Jugend nötig sind, ist nicht neu und deckt sich mit ähnlichen Argumenten, auf die viele Länder nach wie vor zurückgreifen.

Inwiefern betrifft dieses Gesetz auch Bisexuelle? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand: Jede*r, der oder die homosexuelle Handlungen ausübt, ist ein mögliches Opfer dieses Systems. Darüber hinaus fand ich es erstaunlich, von meiner Informantin zu erfahren, dass homosexuelle Handlungen von Frauen erst seit kurzer Zeit in die Anti-Homosexuellen-Gesetzgebung von Uganda aufgenommen wurden. Damit besteht eine rechtliche Anerkennung der lesbischen, queeren oder Bi-Identitäten von Frauen. Die gewaltige Kehrseite davon ist allerdings, dass Frauen nun ebenfalls rechtlich sanktioniert werden können. Sie müssen damit rechnen, für homosexuelle Handlungen inhaftiert oder vielleicht sogar getötet zu werden, falls das Gesetz über die Todesstrafe verabschiedet werden sollte.

Ich weiß nicht warum, aber in diesem Kontext wurde mir zum ersten Mal klar, dass die Sichtbarkeit und Akzeptanz von Frauen, die — wie ich — homosexuelle Handlungen ausüben, auch Nachteile haben können. Und zwar massive Nachteile. Zuvor hatte ich aus irgendeinem Grund immer angenommen, jede neue Gesetzgebung in diesem Bereich würde der Bi-Agenda zugutekommen. Aber mancherorts geht die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung, und wieder einmal werden LGBT+-Personen grundlegende Menschenrechte vorenthalten. Joan Nyanyuki, Leiterin von Amnesty International Ostafrika, erklärte Ende 2019: »Es ist empörend, dass die ugandische Regierung, anstatt dringend notwendige Schritte zur Entkriminalisierung von homosexuellem Sex einzuleiten, homosexuelle Menschen hinrichten lassen will … Das wird den Hass in einem ohnehin bereits homophoben Umfeld noch weiter befeuern… Die ugandischen Abgeordneten müssen jede Maßnahme zur Legalisierung dieser Art von Bigotterie und Hexenjagd auf jede*n, der oder die als anders empfunden wird, mit aller Entschiedenheit zurückweisen …«29

Gesetze, die darauf abzielen, eine bestimmte Religion oder reichlich verschwommene Vorstellungen von »Moral« oder »Anstand« aufrechtzuerhalten, sind nicht nur in Uganda zu finden, und es geht in ihnen nicht nur um Sexualität. Im Sudan wurde beispielsweise ein Fall bekannt, in dem eine Frau aufgrund von Unzuchtgesetzen mit 40 Peitschenhieben bestraft wurde, weil sie Hosen trug;30 im Iran werden Frauen dafür bestraft, dass sie homosexuelle Aktivitäten ausüben oder sich unverschleiert in der Öffentlichkeit zeigen;31 in Singapur sehen die Gesetze für »Verstöße gegen die Sittlichkeit« eine zweijährige Haftstrafe für Männer vor, die homosexuell aktiv sind.32

Leider führen derart rigorose Moralgesetze auch zu Ausweichstrategien, die destruktive neue Gewohnheiten begünstigen.

Vor einigen Jahren führte ich regelmäßig Schulungen von Militärangehörigen durch. In einer Kurzausbildung sollte die Gedächtnisfähigkeit in sehr emotionalen Situationen trainiert werden, insbesondere wenn es darauf ankam, Informationen über die Beziehungen zwischen Warlords in von Milizen kontrollierten Gebieten zu sammeln. Wenn ich zu solch einer Schulung reiste, wurde ich am Flughafen von einem Mann in voller Militäruniform begrüßt, der mich anschließend begleitete und mir ein echtes VIP-Gefühl gab — als hätte ich meinen eigenen Sicherheitsdienst. Nach dem Training berichteten die Männer — außerdienstlich — von ihren Auslandseinsätzen, und ich hörte zum ersten Mal von Männern, die sich ihre eigenen »Schlupflöcher« geschaffen hatten.

Im Gespräch über die Offiziere, Warlords und Milizen, denen er im Ausland begegnete, bezeichnete ein militärischer Freund im Privatgespräch diese Gruppe von Personen als das moralisch Verwerflichste, was er je erlebt habe. Er beschrieb, wie während seines Aufenthaltes in Afghanistan Männer, die sich geradezu leidenschaftlich als heterosexuell identifizierten, sich junge Männer und Knaben zu Liebhabern nahmen.

Diese Praxis nennt sich Bacha Bazi und ist auch unter der Bezeichnung bartlose Jungen (beardless boys) oder Tanzknaben (dancing boys) bekannt. Bacha Bazi ist weithin als eine Form des Kindesmissbrauchs und der sexuellen Sklaverei kritisiert worden. Das überarbeitete und seit 2018 in Kraft getretene afghanische Strafgesetzbuch stellt die Praxis unter Strafe. Kritiker*innen zufolge wird die neue Gesetzgebung von der afghanischen Polizei jedoch nicht angemessen durchgesetzt und die Praxis des Bacha Bazi nach wie vor toleriert. In einem Bericht des Sozialanthropologen Simone Borile aus dem Jahr 2019 heißt es, die Praxis bestehe meist darin, dass wohlhabende Männer minderjährige Jungen anheuerten, die dann in Frauenkleidern auf Festen tanzen. Typischerweise werden die Jungen dabei unter dem kaum verschleierten Deckmantel der Abendunterhaltung angeworben, aber, so Borile, »von den Jungen wird nicht nur verlangt, die Gäste auf den Festen dieser reichen Gastgeber mit raffinierten und zweideutigen Tänzen zu unterhalten, sondern oft auch, den Erwachsenen als Lustobjekte gefällig zu sein.«33

In einem militärischen Briefing für die britischen Streitkräfte über paschtunische Sexualpraktiken wird Bacha Bazi ebenfalls diskutiert und als eine der dunklen Seiten im Kontext des homosexuellen Verhaltens beschrieben.34 Weil Homosexualität in diesem Teil Afghanistans so weit verbreitet ist, bezeichnen die Autor*innen dies als eine »kulturell bedingte Homosexualität«; sie argumentieren, dass gleichgeschlechtliche Wünsche vor allem durch die »strenge gesellschaftliche Trennung der Frauen, die unerschwinglichen Kosten einer Eheschließung … und die schlechte wirtschaftliche Lage insgesamt« begünstigt werden. Ein 29 Jahre alter Afghane, der Sex mit Männern hat, erklärte in einem Interview, er wisse aufgrund der strengen Geschlechtertrennung kaum, wie Frauen aussehen, und sagte: »Jungen gefallen mir, aber Mädchen mag ich lieber.«35

Männer, die sich sexuell zu Männern und Frauen hingezogen fühlen oder sogar mit unterschiedlichen Geschlechtern Sex haben, passen offenkundig ganz gut zu dem Label bisexuell. Dennoch betrachten sich afghanische Männer so gut wie nie als bisexuell. Warum? Weil Homosexualität von vielen als unvereinbar mit dem Islam angesehen wird und in Afghanistan illegal ist. Viele argumentieren daher, solange man nicht in den anderen Mann verliebt sei, habe es eigentlich nichts mit Homosexualität zu tun. Im Briefing der Streitkräfte heißt es: »Einen Mann zu lieben wäre inakzeptabel und nach der kulturellen Auslegung des Islam eine schwere Sünde. Einen Mann zur sexuellen Befriedigung zu benutzen würde hingegen lediglich als eine Schwäche ausgelegt — es ist zwar unerwünscht, aber doch weitaus besser als Sex mit einer ungeeigneten Frau.«

Solche Schlupflöcher ermöglichen es Menschen, ein mit ihren religiösen Überzeugungen unvereinbares Verhalten zu rationalisieren. Im oben genannten Beispiel gilt das, wenn Männer gleichgeschlechtlichen Sex haben und Jungen sexuell ausbeuten. Damit diese Strategie greift, müssen Menschen gleichgeschlechtliches Verhalten natürlich als etwas ansehen, was sie lediglich tun, und nicht als etwas, das sie sind.

Da es in Afghanistan gefährlich ist, queer und Muslim zu sein, gibt es nur sehr wenige Untersuchungen. Immerhin liefert eine Studie mit einer kleinen Stichprobe britisch-pakistanischer Männer, die gleichgeschlechtlichen Sex haben, einige Erkenntnisse. Die Forscher*innen interessierten sich schwerpunktmäßig dafür, wie die Teilnehmenden mit der Bedrohung ihrer Identität umgingen. Sie fanden heraus, dass alle Männer innerhalb der Stichprobe mit der Unvereinbarkeit ihrer religiösen Überzeugungen und ihrer sexuellen Identitäten und Verhaltensweisen zu kämpfen hatten. Einige von ihnen lösten das Problem, indem sie sich als Muslime und als Schwule identifizierten. Laut Bericht »stellten diejenigen, die mit ihrer homosexuellen Identität offenbar gut zurechtkamen, ihre persönliche, spirituelle Beziehung zu Gott in den Vordergrund. Das machte es ihnen leichter, den Widerspruch zwischen ihrem Verhalten und den religiösen Geboten des Islam auszuhalten oder aufzulösen.«36 Die meisten Teilnehmenden hielten dennoch an dem Argument fest, dass ihr homosexuelles Verhalten entweder ein Fehler sei oder aufgrund des fehlenden Kontakts zu Frauen notwendig.

Mit derselben Argumentation schützen sich Männer vor der Bedrohung ihrer Identität auch in anderen, nicht-religiösen Kontexten. In ihrem Buch Not Gay: Sex between Straight White Men befasst sich die Gender- und Sexualitätsforscherin Professorin Jane Ward mit Konstellationen, in denen Männern, die gleichgeschlechtlichen Sex haben, ihr Tun gleichfalls als bedeutungslos, zufällig oder notwendig rationalisieren.37 Typische Umfelder sind Internate mit Geschlechtertrennung, Aufnahmerituale in Burschenschaften oder beim Militär. Ein solches Verhalten findet sich auch bei heterosexuellen Männern, die öffentliche Toiletten oder Saunas für sexuelle Begegnungen aufsuchen. Ward erläutert, es sei kontraintuitiv »möglich, dass diese homosexuellen Praktiken tatsächlich Heterosexualität verstärken, da heterosexuelle Männer damit auch demonstrativ zeigen ›Ich bin so hetero, dass ich das tun kann, ohne irgendwelche Auswirkungen auf meine alltägliche sexuelle Orientierung — die heterosexuell ist — befürchten zu müssen‹«.38

Wenn wir die Beobachtungen von Ward mit dem Konzept der Identitätsbedrohung kombinieren, wird deutlich, dass nicht nur Unvereinbarkeit zwischen religiöser Identifizierung und homosexuellem Verhalten besteht, sondern auch (offensichtlich) Unvereinbarkeit zwischen der Identifizierung als Heterosexueller und homosexueller Erfahrung. Nicht zuletzt deswegen geht das hyper-heterosexuelle Narrativ häufig mit extremer Homophobie einher und führt zu Feindseligkeit und Gewalt. Religion und Hyper-Heterosexualität sind in vielen Kontexten eng miteinander verwoben und lassen sich kaum getrennt voneinander betrachten.

Wie können wir diese Dynamiken überwinden? Ward hält eine Neukonzeption der männlichen Sexualität für unerlässlich. Aus ihrer Sicht neigen wir dazu, Frauen generell als sexuell verfügbar und sexuell flexibel zu betrachten. Männern hingegen, so Ward, sprechen wir einen »relativ unflexiblen, fest verdrahteten heterosexuellen Impuls zur Fortpflanzung zu«. Das lässt wenig Raum für die Realität des Sexuallebens vieler Männer, zu der ein gewisses Maß an bisexuellem Verhalten gehört.

Um auf den Kontext der Religion zurückzukommen: Natürlich schafft nicht nur der Islam Identitätsbedrohungen und eine feindliche Umgebung für LGBT+-Menschen. In nahezu jeder Glaubensrichtung wurden queere Menschen verfolgt. Ein Beispiel dafür ist etwa der ugandische evangelikale christliche Pastor Martin Ssempa, der mit extrem homophoben Behauptungen — schwule Männer »eat da pooh pooh« — im Internet viral ging. Er ist auch einer der bekanntesten Befürworter des ugandischen »Tötet die Schwulen«-Gesetzes. Das ist natürlich ein Extrembeispiel, aber ähnliche Äußerungen sind in Kirchen auf der ganzen Welt zu vernehmen.

Eine 2018 im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten veröffentlichte Studie über bisexuelle Christen ergab, dass selbst in Kirchen, die sich als LGBT-inklusiv bezeichnen, Bisexualität in Gotteshäusern nahezu pauschal unsichtbar gemacht wird. Die Autorin der Studie, Carole Shepherd, selbst bisexuelle Christin, stellte fest, dass, vermutlich im Zusammenhang mit diesem Unsichtbarmachen und der Ausgrenzung, beinahe alle von ihr in der Studie befragten bisexuellen Christen*innen unter depressiven Störungen litten.39 Auch aufgrund dieser Ergebnisse plädiert Shepherd dafür, innerhalb der Kirche Raum für den Dialog über sexuelle Flexibilität und Bisexualität zu schaffen.

Dieses Anliegen wurde bereits 2008 von William Jeffries und Kolleg*innen geäußert; sie argumentierten, dass »nicht-heterosexuelle Menschen aufgrund der Homonegativität innerhalb der Kirche häufig die strukturierte Religion zugunsten der Spiritualität aufgeben«.40 In ihrer Studie über bisexuelle Schwarze in den Vereinigten Staaten stießen Jeffries und Kolleg*innen jedoch auch auf positive Aspekte im Zusammenhang mit Bi-Sein und Religion — und dass einige Menschen, obwohl ihre Bisexualität abgelehnt wurde, dennoch von der Gemeinschaft als Mitglieder der Kirche akzeptiert wurden.

Ich bin jedes Mal beeindruckt von religiösen Räumen, in denen sich Menschen zugleich als Teil der religiösen Gemeinschaft und als queer verstehen können. In London wohne ich neben einer katholischen Kirche, in der das zu gelingen scheint. An einem der Kirchtürme flattert immer die aktuelle Regenbogenfahne — zurzeit, während ich dies schreibe, ist das die Flagge des Fortschritts mit den sechs Farben der Regenbogenfahne und einem kleinen, schwarz-braun gestreiften Dreieck, das alle People of Colour repräsentiert, sowie die Farben der Trans-Flagge. Der Pfarrer der Kirche ist offen schwul, und sein Vorgänger war so auffällig schwul, dass er im Viertel so eine Art Legende ist. Die Kirche veranstaltet einmal im Monat einen sogenannten Open Table, der queeren Menschen einen sicheren, sakralen Ort bieten soll. Daneben findet sich dort ein queerer Buchklub, der sich mit Titeln wie Towards a theology of same-sex marriage, Trans affirming churches und Queer theologies: The basics beschäftigt. Mir ist klar, dass Religion und Queerness durchaus nebeneinander bestehen können, aber leider ist das bisher die Ausnahme.

Nicht vergessen werden sollte auch, dass selbst dann, wenn es illegal ist und als religiöse Sünde gilt, wie etwa in Afghanistan, sich Menschen nicht von homosexuellem Verhalten abhalten lassen. Anstatt also fromme Lügen zu unterstützen, sollten wir uns lieber dafür einsetzen, dass in Glaubensgemeinschaften die Akzeptanz dafür zunimmt, dass viele Männer sich homo- oder bisexuell verhalten.

Homophobie und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen als ein Phänomen zu sehen, das ausschließlich in weit, weit entfernten Ländern vorkommt, ist so einfach. Das wollen uns auch einige Politiker*innen glauben machen, die die Rechte von LGBT+ zu politischen Zwecken instrumentalisieren. Im Jahr 2007 prägte Jasbir Puar dafür den Begriff Homonationalismus, ein Konzept, das aus meiner Sicht gute Dienste in der Diskussion über dieses Thema leistet. Zum Auftakt eine Erklärung von Puar über die Entstehung ihrer Idee:

»In meiner 2007 erschienenen Monografie Terroristische Assemblagen: Homonationalismus in queeren Zeiten entwickelte ich den konzeptionellen Rahmen des ›Homonationalismus‹, um die Komplexitäten jener ›Akzeptanz‹ und ›Toleranz‹ zu verstehen, die in Bezug auf schwule und lesbische Subjekte zur Bemessungsgrundlage des Rechts auf und der Fähigkeit zu nationaler Souveränität geworden sind.«41

Mit anderen Worten, Länder mit ähnlichen Gesetzgebungen wie in Afghanistan, Uganda, Iran oder Polen werden als rückschrittlich und problematisch eingestuft, während Länder, die rechtlichen Schutz für LGBT+-Menschen bereitstellen, als fortschrittlich gelten.

Diese Haltung trägt dazu bei, die Welt in »wir hier« und »die da« aufzuteilen, in Gut und Böse, in diejenigen, die man schützen, und diejenigen, die man angreifen sollte. Sie hilft, Rassismus gegenüber Menschen aus LGBT+-feindlichen Ländern zu rechtfertigen. Sie liefert Politiker*innen die Munition für Argumente gegen Einwanderung und internationale Politik.

Tatsächlich hat diese homonationalistische Haltung zu einer Vielzahl von Problemen geführt, nicht zuletzt zur langen Geschichte des Kolonialismus, der (in einigen Ländern wie Uganda und Jamaika) hauptverantwortlich für den Export homophober Ansichten und Gesetze war, nur um später dieselben Länder dafür zu bestrafen, dass sie just das fortführen, was die Kolonisatoren begonnen hatten. Wer vor nicht allzu langer Zeit noch als hypersexueller und exotischer Fremder galt, dem man beibringen musste, was Zivilisation bedeutet, wird gegenwärtig häufig als das Gegenteil wahrgenommen, nämlich als sexuell unterdrückt und fundamentalistisch. Mich beschleicht daher immer ein ungutes Gefühl, wenn sich jemand, dessen politische Ansichten ich ansonsten ablehne, auf einmal für die Rechte von LGBT+-Menschen in entlegenen Gegenden der Welt starkmacht. Das liegt daran, dass ein derartiges Engagement zutiefst homonationalistisch sein kann und instrumentalisiert wird, um andere davon zu überzeugen, die seien vollkommen anders als wir und sollten mit ihren rückständigen Ideologien nicht hierherkommen. Diese Haltung befeuert die Vorstellung, Migranten aus nicht-westlichen Ländern seien eine kulturelle Bedrohung.

Rosa Lopes Heimer zufolge (2020) hat sich das »Othering« (das Fremd-Machen) dieser homonationalistischen Denkweise auf »gefährliche und schädliche Weise« in Asylentscheidungen niedergeschlagen. Sie erklärt, obwohl das Vereinigte Königreich stolz darauf sei, queere Menschen zu schützen, weise es die meisten Asylbewerber ab, die vor Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung fliehen. Lopes Heimer argumentiert, dies werde häufig damit gerechtfertigt, dass »man ihnen nicht ›helfen‹/sie nicht ›retten‹ könne, da sie aufgrund ihrer ›kulturellen/natürlichen‹ Unterschiede nicht in der Lage seien, ihre Sexualität offen und frei zu leben, auch nicht in einem ›offenen und freien‹ Land.« Das implizite Argument der Regierung lautet also nicht wir, sondern die Verfolgten selbst seien das Problem.42

Noch merkwürdiger ist jedoch, dass Homophobie keineswegs nur anderswo vorkommt oder etwas ist, was nur die anderen tun: Auch in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich haben Gesetze gegen »grobe Anstößigkeit« eine lange, bis in die Gegenwart hineinreichende Geschichte, in der vornehmlich homosexuelles Verhalten schwuler Männer unter Strafe gestellt wurde. In England und Wales lebende Menschen dürften den 1988 von Margaret Thatchers Regierung eingeführten Abschnitt 28 kennen, der erst im Jahr 2003 im Vereinigten Königreich vollständig abgeschafft wurde. Für Menschen in den Vereinigten Staaten sind wahrscheinlich die sogenannten No-promo-homo-Gesetze ein Begriff.

In der Schule habe ich so gut wie nichts über LGBT+-Identitäten gelernt. Abgesehen von einer Unterrichtsstunde, in der es um Bananen und Kondome ging und man uns einige ekelhafte Bilder von Geschlechtskrankheiten zeigte, wurde Sex oder Sexualität ausgeklammert. Deutlich mehr erfuhr ich beim Flaschendrehen mit Freunden, aus Frauenzeitschriften, in denen viele fürchterliche Ratschlägen erteilt wurden, und in Online-Chatrooms, wo vor allem erwachsene Männer darauf warteten, dass sich Teenager einloggten. Insgesamt sorgte diese Gemengelage dafür, dass ich den Kopf voll falscher Vorstellungen und Stereotype hatte.

(Un)erfahren, wie ich war, ist es daher nicht verwunderlich, dass es mir kalt über den Rücken lief, als ich zum ersten Mal von den »No-promo-homo«-Gesetzen hörte. Laut William Eskridge Jr., Professor für Rechtswissenschaft an der Yale University, der sich ausführlich mit LGBT+-Themen befasst,43 »wurden Gesetze oder soziale Normen, die Homosexuelle stigmatisierten, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein damit gerechtfertigt, dass Homosexuelle abstoßende Dinge tun, krankhaft sind oder Unschuldige verführen«. Er argumentiert weiter, dass seit den Sechzigerjahren noch eine weitere Ebene hinzugekommen sei, nämlich die Befürchtung, dass Gesetze, die eine Inklusion von Homosexuellen anstrebten, letztlich auch homosexuelles Verhalten förderten: »Der Slogan lautet: Keine Förderung der Homosexualität (no promotion of homosexuality), oder im Jargon eben: No promo homo.«

William Eskridge hat als Rechtswissenschaftler bedeutende Arbeit im Kampf für die Rechte Homosexueller in den Vereinigten Staaten geleistet und viele Jahre als Dozent an der Yale University unterrichtet. Von 1990 bis 1995 vertrat er ein homosexuelles Paar, das für die rechtliche Anerkennung seiner Ehe kämpfte; während dieser Zeit wurde die Gesetzgebung zur Verhinderung der gleichgeschlechtlichen Ehe verschärft, etwa durch den Defense of Marriage Act von 1996 (dieses Gesetz definiert eine Ehe ausschließlich als Bündnis zwischen Mann und Frau).44 Eskridge hat auch eine umfassende Analyse rechtlicher Fragen in Bezug auf geschlechtliche und sexuelle Nonkonformität in den Vereinigten Staaten vorgelegt. Der Titel seines Buches prangt in Großbuchstaben auf dem Umschlag und lautet — ungelogen — Gaylaw.

Eskridge zufolge besteht eine logische Struktur in den Argumenten gegen Homosexualität: Sie beinhalten die Annahme, Heterosexualität sei der Goldstandard für sexuelles Verhalten und ein Staat, der eine andere Form der Sexualität anerkenne, fördere damit unweigerlich etwas weniger Gutes. Das Argument hebt insbesondere auf die Bedeutung traditioneller Werte der Familie und die Vorstellung ab, dass queere Identitäten und Verhaltensweisen die Familie bedrohten.

Ein amerikanischer Bundesstaat, in dem es No-promo-homo-Gesetze gibt, ist Texas. Ein Auszug aus der texanischen Gesetzgebung besagt, dass in Bezug auf die staatliche Schulbildung über sexuelles Verhalten »die Materialien der für Minderjährige bestimmten Bildungsprogramme Folgendes beinhalten müssen: 1.) den Wert der sexuellen Enthaltsamkeit vor der Ehe betonen, 2.) erklären, dass homosexuelles Verhalten kein hinnehmbarer Lebensstil ist und eine Straftat darstellt«.45 Das klingt nicht nur falsch, sondern ist es auch. Aus rechtlicher Sicht ist es mindestens zweifelhaft, denn 2003 hat der Oberste Gerichtshof die Kriminalisierung von »homosexuellem Verhalten« aufgehoben. Dessen ungeachtet sind laut den No-promo-homo-Gesetzen LGBT+-freundliche Inhalte an texanischen staatlichen Schulen gesetzlich verboten und Lehrkräfte verpflichtet, homosexuelles Verhalten oder damit in Verbindung stehende Sexualitäten aktiv zu verurteilen.

Derartige Gesetze gelten nicht nur in Texas. Im Jahr 2021 finden sie sich unter anderem auch in Alabama, Louisiana, Mississippi und Oklahoma. Laut Eskridge können derartige Richtlinien dazu führen, dass Lehrer*innen falsche und irreführende Informationen verbreiten und zu einem feindlichen Umfeld für Lehrer*innen und Schüler*innen beitragen. Weltweit existieren verschiedene Versionen solcher Gesetze, und je repressiver ein Land gegenüber LGBT+-Personen eingestellt ist, desto repressiver ist in der Regel auch das schulische Umfeld.

Schulen können jedoch auch ohne No-promo-homo-Gesetze zu Schlachtfeldern sexuell grundierter Konflikte werden. So startete im Januar 2019 ein Elternteil an einer Schule in Birmingham, Großbritannien, eine Petition, in der er oder sie behauptete, man brächte seinen oder ihren Kindern in der Schule Dinge bei, die dem islamischen Glauben widersprächen.46 Letztlich führte dies zu Protesten vor der Schule, die sich anschließend auf andere Schulen ausweiteten. Slogans wie »Unsere Kinder, unsere Entscheidung« (our children, our choice), »Nein zur Sexualisierung von Kindern« (say no to sexualisation of children), »Lasst Kinder Kinder sein« (let kids be kids) und — mein persönlicher Favorit — »Adam und Eva, nicht Adam und Stefan« (Adam and Eve, not Adam and Steve) wurden über Lautsprecher ausgerufen und auf Schilder gemalt.47

Amir Ahmed, einer der Organisatoren der Proteste, erklärte in einem Interview mit der BBC: »Wir sind eine traditionelle Gemeinschaft mit traditionellen Familienwerten und akzeptieren Homosexualität moralisch nicht als eine gültige sexuelle Beziehung.« Er behauptete weiter, Ziel dieses Unterrichts sei nicht Inklusion oder Diversität, sondern man wolle vielmehr »die Kinder zu einer homosexuellen Lebensweise bekehren«.48 Die Proteste fanden statt, als sich bereits abzeichnete, dass ab September 2020 in England ein altersgerechter Beziehungskundeunterricht für Grundschüler*innen und Beziehungs- und Sexualkundeunterricht für Schüler*innen der weiterführenden Schule obligatorisch werden würde.

Während die Proteste im Vereinigten Königreich überwiegend auf die Initiative muslimischer Eltern zurückgingen, organisierten vor allem christliche Eltern die zeitgleich in den Vereinigten Staaten stattfindenden Proteste. Anfang 2019 wurde in New Jersey ein Gesetz verabschiedet, das staatliche Schulen verpflichtete, Beiträge über LGBT+-Personen sowie LGBT+-Beiträge und Themen in den Lehrplan der Mittelstufe aufzunehmen.49 Der Musterlehrplan enthielt Unterrichtsvorschläge: Auseinandersetzung mit einem Aktivisten für lebenslange Transgender-Rechte,50 wie Homosexuelle im Nationalsozialismus in Konzentrationslagern zum Tragen der rosa Winkel gezwungen wurden51 oder eine Unterrichtsstunde über die repressive Geschichte der Konversionstherapien. Die Proteste gegen den neuen Lehrplan ließen nicht lange auf sich warten. Sie hatten viel Ähnlichkeit mit früheren Protesten in Kalifornien, wo vergleichbare Richtlinien bereits 2015 umgesetzt worden waren. Dort hatten christliche Eltern der Regierung vorgeworfen, sie habe eine »LGBT+-Agenda« und strebe die »Sexualisierung« kalifornischer Schulkinder an.52

Sexual- und Beziehungskunde in den Schulunterricht einzubinden ist seit Langem ein umstrittenes Thema, und in Ländern wie den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich haben sich in den letzten zehn Jahren mehrheitlich diejenigen durchgesetzt, die einen inklusiveren Lehrplan anstreben und unterschiedliche Sexualitäten und Familienstrukturen in den Blick nehmen. Was genau ist denn nun so strittig an Lehrinhalten über Sexualität? Diese Frage lässt sich nicht so leicht beantworten und ist abhängig von vielen Faktoren. Um was für eine Schulform handelt es sich genau? Ist es eine religiöse, private oder staatliche Einrichtung? In welchem Land liegt sie? Und in welchem Schulbezirk? Obwohl es überall auf der Welt Schulen gibt, auf deren Lehrplan Sexualität steht, ist es meist Sache der jeweiligen Schulen, darüber zu entscheiden, in welcher Form sie Kinder über Sex und Beziehung unterrichten.

So können englische Schulen zwar eigenständig festlegen, welche Unterrichtspläne sie verwenden, sie müssen sich jedoch an Leitlinien halten, wie den Lernenden die wichtigsten Informationen vermittelt werden sollen. In der Sekundarstufe müssen die Schüler*innen über sexuelle Orientierung und Genderidentität unterrichtet werden, in der Primarstufe ist der Unterricht über verschiedene Familienformen — zu denen auch LGBT+-Familien gehören können (aber nicht müssen) — obligatorisch.53

Mein Hauptinteresse gilt hier der Frage, ob Lehrer*innen auch das Thema Bisexualität ansprechen und, wenn ja, wie die Diskussionen dann gestaltet werden. Ich jedenfalls kann mich an keinen einzigen Lehrenden in einer Unterrichtsstunde oder auf irgendeiner Bildungsebene zwischen Grundschule und Promovierung erinnern, von dem oder der ich irgendetwas über Bisexualität gelernt hätte — mit Ausnahme meines Masterstudiums in Queer History, das ich mit 33 Jahren abgeschlossen habe.

Allem Anschein nach kommen LGBT+-Themen jedoch auch heute noch in Schulen generell zu kurz, und Bisexualität wird häufig überhaupt nicht berücksichtigt.54 Laut Maria Pallotta-Chiarolli, die in den Bereichen Gesundheit und soziale Entwicklung forscht, wird Bisexualität durch die Praktik der »Exklusion durch Inklusion« und unter dem Oberbegriff der LGBT+ vereinnahmt und unsichtbar gemacht, wodurch spezifische Gespräche über Bisexualität vermieden werden.55

2018 wurde Pallotta-Chiarolli aufgrund ihrer Arbeit von den australischen GLOBE Community Awards — die Arbeiten von LGBTIQ-Menschen (und deren Verbündeten) würdigen — als »Straight Ally of the Year« (Hetero-Verbündete des Jahres) ausgezeichnet. Im Jahr 2008 veröffentlichte sie das Jugendbuch Love You Two und setzte sich darin mit Bisexualität und Polyamorie in einem multikulturellen Umfeld auseinander. Sie brachte auch das erste akademische australische Buch über bisexuelle Student*innen und polyamore Familien heraus und untersucht darin, wie diese beiden Gruppen innerhalb des Bildungssystems zurechtkommen. Mit diesem Vorlauf war sie die Idealbesetzung für eine 2014 herausgekommene Sonderausgabe des Journal of Bisexuality zum Thema bisexuelle Erziehung.

Sie schreibt, es sei schwierig gewesen, Forschungsergebnisse über die Beziehung zwischen Sexualerziehung in der Schule und Bisexualität zu finden. Dennoch geht aus ihren Daten klar hervor, »dass Bisexualität in allen Bildungsbereichen weiterhin in die Lücke der Binarität von Hetero- und Homosexualität fällt«. Laut Pallotta-Chiarolli ist dies sogar in aufgeschlossenen, Homophobie-kritischen Bildungseinrichtungen der Fall; selbst dort fänden »keine Aufklärung über und Bejahung von Bisexualität statt, und Biphobie werde im Lehrplan, in schulischen Richtlinien und bei der Betreuung der Lernenden nur selten gesondert betrachtet«.56

Gerade in neuen Richtlinien und Lehrplänen für die Sexualerziehung sollte ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass Lehrer*innen Raum für sinnvolle Gespräche über die Identität, die Bedürfnisse und das Verhalten von Nicht-Monosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten jenseits von Schwulen und Lesben schaffen. Andernfalls bleiben die Betroffenen stumm und unsichtbar, und, wie Pallotta-Chiarolli weiter ausführt, »diese Auslassungen und das Unsichtbarmachen müssen als einer der Hauptfaktoren dafür angesehen werden, dass es um die mentale, emotionale, sexuelle und soziale Gesundheit bisexueller Jugendlicher, Familienmitglieder und Lehrender erheblich schlechter bestellt ist als um die ihrer homo- oder heterosexuellen Altersgenossen«.

Diese Probleme bestehen auch heute noch durchgängig in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Schulen. Dieses Versäumnis bei der Sexualerziehung macht sich insbesondere bei bisexuellen Kindern bemerkbar, da sich die Erfahrungen bisexueller Menschen in der Schule häufig von denen ihrer monosexuellen Mitschüler*innen unterscheiden. Wie eine 2020 veröffentlichte Studie57 ermittelte, »waren bisexuell identifizierte Lernende mit ständigen Herausforderungen wie der Verleugnung ihrer Identität, negativen Stereotypen, Biphobie und sexueller Belästigung konfrontiert«. Bisexuelle Kinder werden in vielerlei Hinsicht anders behandelt. So fand die amerikanische Bildungsforscherin Susan Woolley in einer dreijährigen Untersuchung an einer Highschool heraus, dass Mädchen ihr Aussehen und Verhalten gegenseitig im Hinblick auf »die richtige Weiblichkeit« regulieren.

Woolley argumentiert, Bisexualität bedrohe — wie Lesbischsein — eine Heteronormativität, die ebendiese richtige Form der Weiblichkeit voraussetze. Um die Grenzüberschreitungen in Bezug auf heteronormative Weiblichkeit zu bestrafen, wurden einige der von Woolley beobachteten Mädchen häufiger als andere Lernende ohne ihre Zustimmung angefasst, gemobbt und ihr Verhalten oder ihre Kleidung erheblich strenger beurteilt. Daneben kursierte die von Woolley als »Schlampen-Diskurs« bezeichnete Vorstellung, bisexuelle Mädchen seien »richtige Schlampen« und jederzeit für einen Dreier zu haben. Dieser Schlampen-Diskurs trug auch dazu bei, dass man den Mädchen, die von Gleichaltrigen belästigt wurden, selbst die Schuld daran zuschob. Dieselbe Problematik der performativen Weiblichkeit und des Schlampen-Diskurses wird auch mit der sexuellen Belästigung bisexueller Menschen am Arbeitsplatz in Verbindung gebracht.

Darüber hinaus wurde einigen Kindern ihre bisexuelle Identität schlichtweg abgesprochen. So bekam ein Mädchen in Woolleys Studie zu hören: »Wir wissen, dass du nicht bi bist. Du schadest der homosexuellen Community. Hör auf zu lügen! Hör damit auf! Wir wissen, dass du dich nicht zu Mädchen hingezogen fühlst, also hör einfach auf, alle anzulügen.« Vorhergehende Untersuchungen haben bereits auf eine ähnlich problematische Behandlung männlicher und nicht-binärer Lernender und auf ein generelles Klima der Bi-Negativität hingewiesen.58

Obwohl ich davon überzeugt bin, dass an einigen Schulen und bei einigen Schüler*innen Bisexualität als etwas Positives gesehen wird, passen diese Ergebnisse nicht zu der Vorstellung, Bisexualität sei grundsätzlich irgendwie cool — so wie es die Titelgeschichte der Newsweek von 1995 andeutete, in der behauptet wurde, Bisexualität sei »angesagt«. Aber hier geht es nicht um die Frage, wer am schlimmsten dran ist, sondern um die Erkenntnis, wie wichtig es für Schulen ist, über die gesamte Palette der Regenbogen-Identitäten und Beziehungsstrukturen zu sprechen, damit Kinder gesund und glücklich aufwachsen.

An dieser Stelle soll auch darauf hingewiesen werden, dass die Auswirkungen, die Schulen und Lehrende auf die Identität Jugendlicher haben, größtenteils unbeabsichtigt und nicht Teil des Lehrplans sind. Eine Literaturübersicht aller Studien, die sich mit dem Einfluss der Schule auf die Identitätsentwicklung Jugendlicher beschäftigen,59 ergab beispielsweise, dass »Jugendlichen durch Differenzierung und Auswahl, Unterrichtsstrategien, Erwartungen der Lehrenden und die Normen Gleichaltriger unbeabsichtigt Botschaften vermittelt werden könnten, wer sie sein sollten oder sein könnten«. Das Biotop Schule gibt also in Sachen Sexualität den Ton an. Entscheidend ist, wie Lehrende auf dem Flur über Sexualität sprechen, ob sie die LGBT+-Geschichte und Personen in den Lehrplan aufnehmen, welche Art von Spielen zwischen Schüler*innen sie zulassen oder verhindern. Gerade diese Momente vermitteln Kindern, welche Sexualitäten akzeptiert werden: das, was sich zwischen Unterricht und Vorlesungen, in den Gesprächen mit Lehrenden und Eltern oder zwischen Gleichaltrigen abspielt.

Das gesamte pädagogische Ökosystem macht deutlich, welche sexuellen Identitäten im Angebot sind, zum System gehören und entsprechend geschätzt werden. Wenn der Sexualkundeunterricht es Schulen und Lehrenden ermöglicht, die Identitätsentwicklung sexueller Minderheiten bewusst zu unterstützen, und forschendes Lernen zur Realität wird, kann eine derartige Inklusion für die Identität der Heranwachsenden eine große Rolle spielen. In einem unterstützenden Umfeld können Lehrende den Lernenden dabei helfen, neue Identitäten zu erforschen oder weiterzuentwickeln und die eigene Identität besser zu verstehen.

Leider erleben die No-promo-homo-Gesetze in manchen Teilen der Welt gerade ein Comeback, und das bleibt nicht ohne schwerwiegende Konsequenzen für Kinder und das kulturelle Klima eines Landes.

In Europa kommt es in einigen Ländern eindeutig zu Rückschritten, was ihren Ansatz zu LGBT+-Rechten betrifft, dazu gehören unter anderem Russland, Ungarn und Polen. Die ungarische Soziologin Judit Takásc ist der Meinung, dass insbesondere in Osteuropa ein großer Teil der LGBT+-Community auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Unsichtbarkeit vorzieht — ein Phänomen, das Takács mit dem Begriff Rosa Vorhang (The pink curtain) umschreibt.60 Grund dafür sind die meist offen queer-feindliche Politik und die im Unterschied zu den westlichen Ländern Europas grundsätzlich rückwärtsgewandten Vorstellungen über LGBT+-Menschen. Politiker mit expliziten Anti-LGBT+-Einstellungen haben damit Teile Osteuropas zu queer-feindlichen Räumen gemacht.

Im Jahr 2020 berichtete der damalige LGBT+-Korrespondent der BBC, Ben Hunte, über die in Polen eingerichteten »LGBT+-freien« Zonen, in denen sich Politiker verpflichteten, jegliche Förderung einer LGBT+-Gleichstellung zu verbieten, wozu auch LGBT+-Unterstützungseinrichtungen gehörten sowie die positive Darstellung von queeren Lebensweisen in Schulen.61 Hunte stellte fest, dass sich Polen — unter dem altbekannten Deckmantel des Schutzes traditioneller Familienwerte und der schrecklichen Verquickung von Pädophilie und gleichgeschlechtlichen Neigungen — zu einem der queer-feindlichsten Länder in der Europäischen Union entwickelt hat. Der polnische Präsident Andrzej Duda unterstrich dies erneut in einer Rede im Jahr 2020, in der er erklärte, dass »Kinder vor aggressiver Sexualisierung geschützt werden müssen«, und sich gegen die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Partner aussprach. Er sagte auch, die LGBT+-»Ideologie« sei schlimmer als der Kommunismus. Mit dieser Aussage zielte er auf die Ängste der polnischen Bevölkerung ab, die das Ende des repressiven kommunistischen Regimes erst 1989 durch freie Wahlen herbeigeführt hatte.

Obgleich diese Anti-LGBT+-Rhetorik zunächst an Dynamik zu gewinnen schien, zeigte sich doch auch Widerstand dagegen. Hunte sprach 2020 in Polen mit polnischen queeren Menschen und LGBT+-Aktivist*innen, die mit Regenbogenfahnen auf die Straße gingen und gegen die zunehmend homophobe öffentliche und politische Ideologie protestierten. Diese Demonstrationen sind unter dem Namen polnisches Stonewall bekannt geworden. »Sie wollen uns Angst einjagen«, sagte ein LGBT+-Aktivist im Gespräch mit Hunte. »Bei unserem ersten Pride-Marsch in Lublin haben die Leute Steine auf uns geworfen. Und bei unserem zweiten Marsch hatte ein Paar Sprengstoff dabei.« Die beiden Protestveranstaltungen wurden von der Polizei massiv überwacht und angefeindet, und 2021 warfen Organisationen wie Human Rights Watch (Menschenrechtskommission) Polen vor, gegen die EU-Richtlinien in Bezug auf die Rechte von LGBT+-Personen und Frauen zu verstoßen.62

Der Kampf in Polen geht weiter, mit Organisationen vor Ort und online. Auch bisexuelle Gruppen wie Biszkopty sind nach wie vor aktiv und bieten bi-positive Räume, um eine Sexualität, die im eigenen Land weiterhin verfolgt wird, zu feiern und Gleichgesinnte zu finden. Die zunehmende Verbreitung bi-positiver Online-Plattformen und Räume macht es für die Regierung zusehends schwieriger, queere Menschen daran zu hindern, sich zu organisieren und gegenseitig zu unterstützen. Regierungen überall auf der Welt geben vor, dass es in ihrem jeweiligen Land keine queeren Communitys gebe, sie verhaften oder töten Mitglieder dieser Communitys. Doch das wird nichts an der Tatsache ändern, die eine polnische Dragqueen in sagenhaftem Outfit vor jubelnden und johlenden polnischen queeren Expats in London formulierte: »Wir sind queer, wir sind hier, wir sind auch in Polen und überall.«

Außerhalb Polens kämpft die Bewegung für Schwulenrechte oder allgemeiner die LGBT+-Bewegung schon seit mindestens einhundert Jahren für den rechtlichen Schutz homosexueller Paare. Die erste dokumentierte — und wahrscheinlich die weltweit erste — Organisation, die für die Rechte Homosexueller in den Vereinigten Staaten eintrat, entstand 1924 und trug den treffenden Namen »Society for Human Rights« (Gesellschaft für Menschenrechte). Und wenn wir mal mit der Fast-forward-Taste in unser Jahrhundert vorspulen, hat sich vieles zum Guten verändert. Dennoch ist es gar nicht so lange her, dass eine Form des rechtlichen Schutzes für homosexuelle Paare — die gleichgeschlechtliche Ehe — in Ländern wie den Niederlanden (als erstes Land der Welt, 2001),63 dem Vereinigten Königreich (2014),64 den US-Bundesstaaten (2015)65 und Deutschland (2017)66 eingeführt wurde. Davon haben sämtliche Mitglieder der LGBT+-Community profitiert, allerdings nicht alle im gleichen Maß. Wie wir in diesem Kapitel erfahren haben, ist die LGBT+-Community im überwiegenden Teil der Welt nach wie vor dazu gezwungen, ein Schattendasein zu führen. Und bisexuelle Menschen sind meist unsichtbar, oder ihre sexuelle Identität wird unsichtbar gemacht.

Im Jahr 2015 führte Nancy Marcus an der Indiana Tech Law School eine systematische Studie aller in LGBT-Rechtsfällen erwähnten bisexuellen Themen durch, darunter auch jüngste Rechtsstreitigkeiten zur gleichgeschlechtlichen Ehe.67 Sie schreibt:

»Die Studie dokumentiert ein nahezu vollständiges, systematisches Unsichtbarmachen bisexueller Menschen in Briefings und Stellungnahmen, einschließlich des Fehlens jeglicher Erwähnung bisexueller Menschen in den Mehrheitsmeinungen (mehrheitliche Meinung in einem amerikanischen Geschworenengericht) in Fällen, in denen im jeweiligen Briefing tendenziell ein Unsichtbarmachen der Bi-Identität betrieben wird, indem für ›schwule und lesbische‹ Rechte oder die ›Schwulenehe‹ oder die ›gleichgeschlechtliche Ehe‹ plädiert und jeglicher Bezug auf bisexuelle Menschen ausgespart wird.«

Selbst wenn die Kläger bisexuell waren, blieb der Begriff tabu. Der Aufsatz liefert überzeugende Belege für das Unsichtbarmachen Bisexueller durch Anwälte, Gerichte und Medien in den Vereinigten Staaten, die sich überall auf der Welt wiederfinden. Dieses Vorgehen bildet die Mechanismen toxischer Stereotype in Bezug auf Bisexualität ab, die letztlich dazu führen, dass die Rechtssysteme im Hinblick auf bisexuelle Menschen versagen. Anwält*innen, Richter*innen und politische Entscheidungsträger*innen müssen anfangen, das Wort bisexuell auszusprechen und es aufzuschreiben. Sie müssen es sichtbar machen und sich engagieren.

Ein besonders aussagekräftiges Engagement besteht darin, in der Politik offen bisexuell zu sein. Das ist überall wichtig, und wir sehen mehr und mehr Beispiele dafür.

Der walisische Staatssekretär und Parlamentsabgeordnete Ron Davies geriet 1999 in die Fänge der Boulevardpresse, die ihn outete, als ihm sexuelle Beziehungen zu Männern nachgewiesen wurden. Davies sah sich gezwungen, eine öffentliche Stellungnahme abzugeben, und erklärte: »Nachdem ich die Angelegenheit mit meiner Frau besprochen habe … und um der unerträglichen Flut von reißerischen und nicht zutreffenden Geschichten Einhalt zu gebieten, bleibt mir keine andere Wahl, als zu bestätigen, dass ich, und das schon seit längerer Zeit, bisexuell bin.«68

In der Presse hieß es daraufhin, Davies habe seine Bisexualität eingestanden — als bestehe ein Anrecht der Öffentlichkeit, darüber informiert zu werden, und als sei dies sein schmutziges Geheimnis. Seit Langem erfreut sich diese Öffentlichkeit an den, ihrer Meinung nach, obszönen Einblicken in das Sexualleben von Politiker*innen, ob es sich nun um Affären, Fetische oder nicht heteronormative sexuelle Identitäten handelt. Das Besondere an dieser Geschichte ist jedoch, dass sich hier — wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt — ein amtierender Parlamentarier als bisexuell outete. Der Skandal führte dazu, dass Davies von seinem Amt zurücktrat und sich wenig später ganz aus der Politik zurückzog. Die Öffentlichkeit, die Presse und viele seiner Kolleg*innen hatten denkbar schlecht auf seine Bisexualität reagiert.

14 Jahre später, 2013, meldete sich Daniel Kawczynski, ein weiterer britischer Abgeordneter, nervös zu Wort und teilte seinen Kolleg*innen mit, dass er in einer Beziehung mit einem Mann lebe und bisexuell sei. Laut Kawczynski »erhob sich daraufhin sofort ein Herr in der ersten Reihe, sagte ›das ist eine wunderbare Nachricht, gut gemacht‹ und fing an zu klatschen«, woraufhin sich andere anschlossen.69 Geholfen hat dabei wohl, dass er diese Nachricht freiwillig und nicht aufgrund eines Skandals mitteilte. Für Kawczynski war es eine positive Erfahrung, und er blieb in der Politik und hat sich in den darauffolgenden Jahren zunehmend über Bisexualität geäußert. Aber ist eine stehende Ovation wirklich die angemessene Reaktion auf die Aussage, jemand sei bisexuell? Und darf man daraus schließen, dass es jetzt akzeptabel ist, ein*e bisexuelle*r Politiker*in zu sein, und wird man vielleicht sogar deswegen gefeiert?

Der Fortschritt verläuft nicht gradlinig, und Akzeptanz gilt nicht für alle im gleichen Maß. 2020 fingen die Journalist*innen der Boulevardzeitung The Mail on Sunday an, der Abgeordneten Layla Moran per Telefon zuzusetzen und Personen aus ihrem Umfeld zu belästigen.70 Sie drohten Moran, ähnlich wie Davies zwei Jahrzehnte zuvor, sie zu outen. Moran war mit einem Mann verheiratet gewesen, und die Zeitung wollte nun enthüllen, dass sie jetzt mit einer Frau zusammen war. Moran erklärte, die Boulevardzeitung habe »versucht, [meine] Beziehung als irgendwie anrüchig oder sensationell darzustellen«. Sie hatte zum ersten Mal eine gleichgeschlechtliche Beziehung und sich noch nicht geoutet; sie bat die Zeitung daher, mit der Veröffentlichung ihrer Geschichte zu warten, bis sie es ihrer 92-jährigen Großmutter selbst erzählt hatte. Moran: »Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie es aus der Zeitung erfahren würde.«

Moran outete sich kurz darauf — und nicht ganz freiwillig — als pansexuell. Die queere Community und die Medien nahmen die Nachricht sehr positiv auf. Moran löste damit auch eine landesweite Diskussion über Pansexualität aus, und Memes von Menschen, die sich heftig in Küchenpfannen verliebten, machten die Runde. Daneben kam es jedoch auch zu vielen wichtigen Gesprächen über dieses häufig übersehene Sexualitäts-Label. Auch sprachlich zeichneten sich in der Berichterstattung im Vergleich zu 1999 große Veränderungen ab: Nun formulierten die Medien nicht mehr, Moran habe ihre Sexualität eingestanden, sondern sie habe sie bekannt gegeben.

Diese insgesamt eher positiven Reaktionen waren vermutlich nicht nach dem Geschmack der Mail on Sunday. Nach wie vor auf einen verkaufsträchtigen Skandal erpicht, veröffentlichte die Zeitung einen Artikel und berief sich darin auf anonyme »Mütter«, die Moran angeblich beschuldigten, sie instrumentalisiere ihre Sexualität, um »woke« zu erscheinen. Das greift eine Idee auf, die Wissenschaftler*innen als »lavender vote« (ungefähr: lila Wählerstimme) bezeichnet haben.71 Der Begriff ist auf queere Wähler gemünzt, die eher für sozialliberale Parteien stimmen. Wer Mitglied einer solchen Partei — in Morans Fall die Liberal Democrats — und queer ist, könnte demnach tatsächlich besonders viele »lavender votes« dieser Gruppe auf sich vereinigen. Moran merkt jedoch kritisch an: »Mit dieser Geschichte findet ein bestimmtes Framing statt, das meine Handlungen und das, was ich über mich erzähle, berechnend wirken lässt. Nichts könnte der Wahrheit weniger entsprechen. Ich bin zwar stolz darauf, zu sein, wie ich bin, habe aber das Gefühl, dass die Medien mich einschüchtern wollten.«

Morans Geschichte fiel mir wieder ein, als ich Dr. Andrew Reynolds traf, Gründer der Queer Politics an der Princeton University. Reynolds bezeichnet sich selbst als »langweilig aussehenden weißen Mann«. Er betrachtet sein Äußeres als ein wichtiges Werkzeug, um auf eine zurückhaltende Art sichtbar zu sein. Als ich Reynolds im Jahr 2021 traf, war er exakt so gekleidet, wie man es von einem Politikprofessor mittleren Alters erwarten würde, ohne einen queeren Farbtupfer oder andere visuelle queere Signale. Während ich an meinem geradezu anstößig grünen Matcha-Latte nippte, ein krasser Gegensatz zu seiner ausgesprochen vernünftigen Tasse Tee, berichtete er mir von seiner Arbeit.

Reynolds setzt sich seit Langem für die Rechte marginalisierter Communitys auf der ganzen Welt ein. Seine Spezialgebiete sind Demokratisierung, Verfassungsgestaltung und Wahlpolitik, und in jüngster Zeit hat er sich eingehend mit LGBT+-Politiker*innen und deren Art und Weise, die Welt zu verändern, befasst. 2018 veröffentlichte er das bewegende und ermutigende Buch The Children of Harvey Milk.

Wir sprachen über seine Forschungsarbeit, zu der auch die Erfassung von Politiker*innen gehört, die sich geoutet haben. Kurz nach unserem Treffen teilte er freundlicherweise seinen Datensatz von über eintausend gewählten Amtsträger*innen weltweit mit mir, die sich als LGBT+ geoutet hatten. Der Datensatz reicht von 1977 bis 2021; 58 Personen sind als bisexuell, 4 als pansexuell und 19 als queer erfasst.72 Laut Reynolds geht daraus hervor, dass seit 1977 »rund sieben Prozent« der gewählten Amtsträger*innen (einschließlich Abgeordneter und Bürgermeister*innen), die sich als LGBT+ geoutet haben, sich als bi oder pansexuell oder queer identifizieren.

Das ist ein unverhältnismäßig geringer Anteil. Ausgehend von anderen Statistiken über Sexualität würde man bei einem Datensatz, der ausschließlich LGBT+-Personen erfasst, erwarten, dass die Mehrzahl dieser Personen bisexuell ist. Dennoch wird darin nur von 62 bi- und pansexuellen Mandatsträger*innen weltweit seit 1977 berichtet, eine verschwindend kleine Zahl.

Die Zahl derjenigen, die wichtige politische Ämter bekleiden und sich outen, nimmt jedoch insgesamt zu. Zu den jüngsten Beispielen gewählter, offen bisexueller Amtsträger*innen gehören Libbie Davies von der NDP in Kanada, die Demokratinnen Kyrsten Sinema und Katie Hill in den Vereinigten Staaten, Tobias Billström von der Partei Die Moderaten in Schweden, Marieke Koekkoek von VOLT in den Niederlanden, Chloë Swarbrinck von der Grünen Partei in Neuseeland und Simon Emil Ammitzbøll von der Liberalen Partei in Dänemark.

Wer sich als bi outet, muss, auch wenn er oder sie in der Öffentlichkeit steht, nicht zwingend ein übermäßiges und lästiges Medieninteresse befürchten. Eine Reihe von Abgeordneten hat sich in jüngster Zeit als bi und queer geoutet, ohne deswegen Aufsehen in der Presse zu erregen. Zu ihnen gehören Nadia Whittome, Charlotte Nichols und Olivia Blake. »Im Alter von 24, 28 und 30 Jahren repräsentieren sie ein neues Großbritannien, in dem eine rasch größer werdende Anzahl junger Menschen und insbesondere junger Frauen das Gefühl haben, dass ein Raum entstanden ist, sich als queer, bi oder pansexuell zu identifizieren«, schreibt Reynolds.73 Bisexualität als einen normalen Teil des Lebens von Politiker*innen zu behandeln, ist eine wunderbar neue Realität, wenn auch nach wie vor eine allzu seltene.

Je mehr bisexuelle Politiker*innen im Amt sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit bi-inklusiver Gesetze und Maßnahmen. In der Politik gab es schon immer bisexuelle Akteur*innen, und bestimmt will sich auch heute nicht jeder von ihnen öffentlich als bisexuell outen. Ihre Sichtbarkeit hilft jedoch anderen Menschen, offen am Tisch der großen Bi-Community Platz zu nehmen.

Zur Verbesserung von Asylverfahren empfiehlt die Rechtswissenschaftlerin Jaclyn Gross, dass alle Richter*innen, die über Asylanträge entscheiden, eine Schulung zum Abbau von Stereotypen durchlaufen sollten. Sie hofft, dass »durch diese Schulung die persönliche Voreingenommenheit der Entscheidungsträger*innen, die zur Skepsis in Bezug auf die Glaubwürdigkeit von Antragssteller*innen führen kann, reduziert wird und Fehleinschätzungen von Personen, die von der geschlechtlichen oder sexuellen Binarität abweichen, entsprechend vermieden werden können«. Diese Schulung könnte die einzige Zeit sein, in der die Betroffenen wirklich über Bisexualität nachdenken und etwas darüber lernen. Die Bekämpfung von Mythen über alle Sexualitäten, einschließlich Bisexualität, sollte unbedingt in die juristische Ausbildung integriert werden.

Für diejenigen unter uns, die weder in juristischen Berufen noch in der Politik tätig sind und auch nicht mit Asylbewerber*innen und Flüchtlingen arbeiten, gibt es ebenfalls eine Menge zu tun. Wir können korrekte, zutreffende Informationen über bisexuelle Menschen weitergeben. Wir können nationale und internationale Kampagnen für die Rechte queerer Menschen unterstützen und Organisationen daran erinnern, dass Bisexualität nicht einfach unter dem Begriff LGBT+ subsumiert werden sollte, sondern eigene Räume benötigt.

Das Wichtigste ist jedoch, dass wir weiter für die Liebe kämpfen.