Die Gralshüter des Wissens entscheiden manchmal, »bisexuell« sei ein schmutziges Wort, vor dem sie uns beschützen müssten.
Beispielsweise vervollständigte Google bis 2014 nicht automatisch und schlug auch keine Alternativen vor, wenn man nach bisexuellen oder verwandten Begriffen suchte. Einem Vertreter des Unternehmens zufolge lag das daran, dass »automatische Filter im (ungefilterten) Internet eine starke Korrelation zwischen diesen Begriffen [bisexuell] und Pornografie erkennen«.1 Das änderte sich erst, als eine Petition mit Unterschriften von 15.500 Menschen den Suchmaschinengiganten aufforderte, »das Wort bisexuell freizugeben«.2 Bereits im vorhergehenden Jahr war eine ähnliche Petition lanciert worden, weil Apple eine Warnung aufploppen ließ, sobald man versuchte, den Begriff bisexuell in App-Beschreibungen zu verwenden.3 Inzwischen hat auch Apple diese Praxis abgeändert. Beide Beispiele lassen jedoch eines gut erkennen: Bisexualität ist in den Köpfen vieler Menschen so eng mit vermeintlich für die Arbeit nicht sicheren Inhalten verflochten, dass dies unsere Fähigkeit beeinträchtigt, Informationen über Bisexualität zu erstellen und zu finden.
Nicht nur Suchmaschinen produzieren Fehler, wenn der Begriff bisexuell fällt, sondern auch Menschen im wirklichen Leben. Analog zu den Google-Suchmaschinen sind unsere Gehirne ebenfalls mit einer Reihe von »automatischen Filtern« trainiert worden, weswegen Bisexuelle sich häufig Fragen anhören müssen wie: Kann ein einziger Partner denn jemals genug für dich sein? Und musst du unbedingt Sex mit Männern und Frauen haben, um glücklich zu sein?
Der Ton der Fragestellung lässt keinen Zweifel daran, dass der Fragende sie für völlig vernünftig hält. Als müsste jede*r, der oder die sich zu mehreren Gendern hingezogen fühlt, auch gleichzeitig Sex mit ihnen haben. Und als gelte das auf keinen Fall für Heterosexuelle, die sich nur zu einem Geschlecht hingezogen fühlen und deren Bedürfnisse demzufolge nur von einer einzigen Person erfüllt werden. Von wegen.
Sich zu mehreren Personen hingezogen zu fühlen ist nicht spezifisch bi, sondern menschlich. Es ist nahezu unmöglich, dass eine einzige Person unsere gesamten sexuellen und emotionalen Bedürfnisse erfüllt. Dennoch versprechen Menschen, die eine Beziehung eingehen, sich verpartnern oder heiraten, einander in der Regel, monogam zu leben. Wir müssen daher nicht nur unsere Annahmen über Heterosexualität infrage stellen, sondern auch unsere Annahmen über Anziehung und Monogamie.
In einer 2011 veröffentlichten Studie befragten Forscher*innen über 900 Teilnehmende, ob sie »sexuelle Interaktionen mit einer anderen Person als ihrem*r Partner*in gehabt hätten, die ihre Beziehung gefährden oder ihr schaden könnten«.4 Beinahe ein Viertel der Männer (23,2 Prozent) und ein Fünftel der Frauen (19,2 Prozent) gaben an, dass sie während ihrer derzeitigen Beziehung fremdgegangen waren. Um das noch einmal zu verdeutlichen: Es geht hier nicht um die Häufigkeit von Seitensprüngen insgesamt, sondern um das Fremdgehen in einer Partnerschaft. Die Hälfte der Befragten war verheiratet, was nichts an der Wahrscheinlichkeit eines Fremdgehens änderte. In anderen Studien wurden sogar noch höhere Werte ermittelt, etwa in einer Übersicht über die Literatur zum Thema Untreue in der Ehe: Hier wurde der Wert auf 25 Prozent geschätzt.5 Obwohl dieses Verhalten offenkundig weit verbreitet ist, kann nicht-monogames Verhalten in einer Welt, die Monogamie als unabdingbar betrachtet, katastrophale Folgen haben.
Niemand geht aus Versehen fremd, man trifft immer eine Entscheidung. Warum also versprechen so viele Menschen einander, treu zu sein, wenn sie sich eigentlich nicht so verhalten wollen? Und warum streiten wir so viel darüber? Ich glaube, es läuft für die meisten von uns letztlich auf das hinaus, was der verstorbene Schriftsteller Kurt Vonnegut meiner Meinung nach im folgenden Zitat gut zusammengefasst hat:
»Ich sage, bei Ehekrächen geht es nicht ums Geld oder Sex oder Macht. Eigentlich meinen die Ehegatten: ›Du bist nicht genug Leute.‹«6
Meiner Ansicht nach ist dieses Gefühl vielen Menschen, mich selbst eingeschlossen, vertraut. Eine Person kann unmöglich der Vielzahl von Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühlen gerecht werden, die mich ausmachen.
In diesem Kapitel sprechen wir über Bisexualität und Sex. Und was könnte sich als Auftakt besser eignen als jene sexuelle Konstellation, an die meistens gedacht wird, wenn das Thema Bisexualität aufkommt: der Dreier.
Gemischtgeschlechtlicher Sex zu dritt scheint ein von Natur aus bisexueller Akt zu sein. Und trotzdem sehen die meisten Menschen das nicht so. Sie sind zwar durchaus der Ansicht, dass ein Großteil der bisexuellen Menschen Sex zu dritt bevorzugt, nehmen aber zugleich an, dass diejenigen, die diese sexuelle Konstellation praktizieren, nicht bisexuell sind.
Ein Grund für diese Ansicht könnte das sogenannte Dreier-Imaginäre (the threesome imaginery) sein.7 Laut Sexualforscher Ryan Scoats, der von sich selbst sagt, er habe »den ersten Doktortitel der Welt in Sachen Dreier«,8 beinhaltet das Dreier-Imaginäre »kollektive kulturelle Auffassungen im Hinblick auf Sex zu dritt, die bestehende Machtverhältnisse und soziale Privilegien spiegeln und reproduzieren«.9 Demzufolge gibt es also eine allgemeine Vorstellung davon, was ein akzeptabler Dreier ist. Scoats führt weiter aus, dass es sich dabei in Bezug auf Heterosexuelle um »ein monogames Paar handelt, das vorübergehend einen Dritten mit dazunimmt oder sich vorstellt, dies zu tun«, und dass »diese Art von Dreier eine tolerierte Methode für Paare ist, um ihr Sexualleben wieder in Schwung zu bringen, vorausgesetzt, es wird keine regelmäßige sexuelle Praxis daraus«. Mit anderen Worten: Dreier haben nichts mit Bisexualität zu tun, sondern sind ein Mittel, um die Beziehung eines heterosexuellen Paares zu stärken.
Hinter dem Dreier-Imaginären steckt jedoch noch mehr. Scoats erklärt: »Sowohl für Männer als auch für Frauen gilt ein FFM [feminin-feminin-maskulin] als harmloses Vergnügen, ein MMF [maskulin-maskulin-feminin] hingegen als undenkbar«. Obwohl einiges dafürspricht, dass diese Überzeugung allmählich schwächer wird und sich eine zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz für MMF-Dreier abzeichnet, scheint dies nach wie vor die vorherrschende Annahme zu sein. Interessant finde ich dabei, dass Männer und Frauen unterschiedliche Gründe angeben, warum sie Sex zu dritt für akzeptabel halten oder nicht. Mir sind keine Untersuchungen über nicht-binäre Menschen und Dreier bekannt, vermutlich trifft jedoch vieles von dem, was im Folgenden beschrieben wird, auch dann zu, wenn eine Person als Frau oder Mann gelesen wird.
Wie die Sexualitätsforscherin Breanne Fahs herausgefunden hat, gibt es für Frauen in bestimmten sozialen oder sexuellen Kontexten eine Art obligatorischer Bisexualität. Daran beteiligt, so Fahs, »sind vor allem heterosexuell identifizierte Frauen, die sich, normalerweise vor Männern und in sozialen Umfeldern wie etwa auf Partys von Studentenverbindungen, Bars oder Clubs, homoerotisch gegenüber anderen Frauen verhalten«. Das lässt sich entweder auf ein bisexuelles Interesse zurückführen oder auf den sozialen Druck durch Partner oder Zuschauer. Von Frauen scheint häufig eine gewisse sexuelle Flexibilität erwartet zu werden. Kein ganz und gar queeres Verhalten, sondern eben eines, das heterosexuelle Männer verlockend finden.
Diese Vorstellungen hat auch Katy Perry mit ihrem Hit I kissed a girl aus dem Jahr 2008 bedient. Sie hat uns gezeigt, dass wir in Ländern wie dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten, Kanada und Deutschland dazu neigen, bestimmte Formen eines verspielten Sexualverhaltens junger Frauen zu normalisieren. Der Text ist aus meiner Sicht ein überraschend gutes Fallbeispiel der öffentlichen Wahrnehmung bisexuellen weiblichen Verhaltens. Nicht, dass ich damals, als der Song herauskamen, solche Gedanken gehabt hätte. Da war ich bloß total erstaunt, dass ein Song über Bi-Verhalten überhaupt Sendezeit bekam, und es veranlasste mich definitiv dazu, loszuziehen und mir Cherry ChapStick (Kirsch-Labello) zu kaufen. Aber inzwischen bin ich kein bonbonfarbenes junges Bi-Mädchen mehr, sondern eine in die Jahre gekommene queere Nörglerin und als solche fest entschlossen, uns allen dieses Lied madig zu machen.
Katy Perrys Song normalisiert einerseits weibliche sexuelle Experimente, macht andererseits aber auch deutlich, dass weibliches homosexuelles Verhalten keine Bedrohung der Heterosexualität sein muss. Sie erinnert uns daran, dass sie einen Freund hat, und erwähnt nebenbei, dass es ihm wahrscheinlich nichts ausmacht, wenn sie mit einem Mädchen herumknutscht. Obwohl sie erklärt, es habe sich »so richtig angefühlt« (it felt so right), versäumt sie es nicht, uns mit der Zeile »das heißt nicht, dass ich mich heute Abend verliebt habe« (don’t mean I’m in love tonight) darauf hinzuweisen, dass sie keineswegs queer ist. Diese eifrigen heterosexuellen Glaubensbekenntnisse muten noch toxischer an, wenn sie in der nächsten Strophe klarstellt, dass die Frau ihr nichts bedeutet, sondern lediglich eine Figur in Katys »experimentellem Spiel« (experimental game) ist.
Aus der weiblichen Perspektive sind die populären Vorstellungen, die dieser Song transportiert, ein Grund dafür, dass ein FFM-Dreier häufig als eine verspielte sexuelle Interaktion betrachtet wird. Das gilt jedoch nicht für eine Frau in einem MMF-Dreier: Hier wird sofort befürchtet, sie sei dazu gezwungen worden oder habe eine falsche Entscheidung getroffen. Dementsprechend, so Scoats, neigt man eher dazu, sie »als Opfer oder als Schlampe abzustempeln«. In einer Studie mit Frauen, die Sex zu dritt hatten, fand Scoats heraus, dass einige Frauen zwar Interesse an MMF-Dreiern hatten und durchaus positiv eingestellt waren, dass es jedoch »nach wie vor Vorbehalte gegenüber MMF-Dreiern gibt; sie werden mit Objektifizierung, Frauenfeindlichkeit und Gefahr in Verbindung gebracht — insbesondere wenn keine männliche Interaktion stattfindet.«10 Sind die beteiligten Männer also nicht sexuell aneinander interessiert, sondern ausschließlich an Sex mit der Frau, besteht Anlass zu der Sorge, der Dreier könnte eher zum wahr gewordenen pornografischen Fiebertraum des Mannes werden als zu einer positiven sexuellen Erfahrung für alle Beteiligten.
Und was ist mit den Männern? Ein Dreier mit zwei Frauen wird häufig als ein Punkt auf der Wunschliste gesehen, den man unbedingt abhaken sollte: eine sexuelle Trophäe der Virilität. Eine Goldmedaille der Männlichkeit. Das liegt am Narrativ des FFM-Dreiers: Folglich bringt ein Mann es nicht nur fertig, simultan zwei Frauen für sich zu interessieren, sondern ist auch potent genug, beide sexuell zu bedienen. Ein MMF-Dreier wirft dagegen eher Fragen nach der Sexualität des Mannes auf. Die Annahme, jeder Mann, der gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen hat, müsse auch schwul sein, spielt bei dieser Konstellation, zumindest von außen betrachtet, mit hinein.
Bei Männern, die tatsächlich MMF-Dreier hatten, ist das jedoch nicht unbedingt der Fall. In einer Studie von Scoats und Kolleg*innen über heterosexuelle männliche Studenten wurde festgestellt, dass es eine »kulturelle Bereitschaft heterosexueller Männer gibt, sich nicht nur auf FFM-, sondern auch auf MMF-Dreier einzulassen«. Scoats fand auch heraus, dass sich die kulturellen Grenzziehungen der Heterosexualität offenbar erweitern und »mehr gleichgeschlechtliche Sexualkontakte zulassen, ohne sofort die Ein-Mal-Regel zu triggern«. Diese Ein-Mal-Regel besagt, dass Männer ein Mal schwule Sachen ausprobieren dürfen, um sicherzugehen, dass sie nicht schwul sind. Diese »Regel«, so Scoats, werde jedoch in MMF-Dreier-Situationen gelegentlich ignoriert.11
Das mag auch daran liegen, dass, wie wir bereits festgestellt haben, Männer in MMFs manchmal gar keine schwulen Sachen machen. Es sei denn, natürlich, man denkt an einen Mann, der einem anderen Mann beim Masturbieren, Orgasmus und Sex zuschaut und ihn möglicherweise berührt, während er nackt ist … was sich, zugegebenermaßen, schon alles irgendwie ziemlich schwul anhört. Viele Männer, die ihre hundertprozentige Hetero-Fassade aufrechterhalten wollen, sehen das jedoch nicht so. Das betrifft natürlich nicht nur Männer. Viele Frauen, die Sex zu dritt haben, sind in einer ähnlichen Lage: Auch sie betrachten es nicht als eine Bedrohung ihrer Heterosexualität, wenn sie auf verschiedene Weisen mit einer anderen Frau intim waren.
Generell führen diese Konstellationen zur Erotisierung des bisexuellen Verhaltens von Frauen, während männliches Sexualverhalten stigmatisiert wird. Ähnliche Regeln und Vorstellungen gelten auch für andere Varianten von Gruppensex, eingeschlossen Orgien und Partnertausch. Wie beim Dreier wird auch bei anderen Formen des Gruppensexes häufig erwartet, dass Frauen auf eine sexuell spielerische Art interagieren und Männer nicht. Das steht im Einklang mit Ansichten über weibliche und männliche Bisexualität im Allgemeinen, die praktischen Folgen werden jedoch erst in Gesprächen über Sex zu dritt und Gruppensex deutlich.
Im nächsten Abschnitt stoßen wir nun zum Kern dieses Kapitels vor und untersuchen die Auswirkungen dieser sexuellen Konstellationen. Packen Sie also Ihre Kosmetiktasche ein, tragen Sie ein bisschen Cherry ChapStick auf und lassen Sie uns gemeinsam einigen brennenden Fragen, die Sie wahrscheinlich haben, nachgehen, etwa: Wie viele Menschen hatten schon Sex zu dritt? Wer tut es? Warum? Und ist es wirklich so gut, wie es klingt?
Wie der Sexualforscher Alfred Kinsey schon vor Jahrzehnten feststellen musste, äußert sich nicht jede*r ehrlich über sein oder ihr Sexualleben. Aber wir sind Kinsey gegenüber im Vorteil: Wir haben das Internet. Bei Online-Studien entfallen die situativen Bedingungen, die Menschen im wirklichen Leben dazu veranlassen, sexuelle Erfahrungen zu übertreiben oder sie zu verharmlosen. Einer der Hauptgründe, weswegen Menschen in Bezug auf ihr Sexualleben zu Lügen neigen — der Wunsch, eine Person dahingehend zu beeinflussen, dass sie einen auf eine bestimmte Art und Weise wahrnimmt —, entfällt in Online-Befragungen. So könnte jemand, wenn es um Gruppensex und Dreier geht, beispielsweise lügen, um abenteuerlicher, LEGENDÄRER zu wirken. Natürlich kann es auch eine Lüge sein, wenn Menschen behaupten, sie hätten keine Erfahrungen. Sie befürchten dann möglicherweise, verurteilt zu werden. Wenn es aber keinen Gesprächspartner gibt, weil es sich nur um anonyme Online-Daten handelt, entfällt auch der Anreiz zum Lügen.
Was ergibt sich aus den Online-Umfragen? Wie ein Journalist in einem Artikel über Sex zu dritt feststellte, sind diesbezügliche Erfahrungen »ungefähr so verbreitet wie der Besitz einer Katze«.12 Eine 2017 veröffentlichte, repräsentative Online-Umfrage unter etwas mehr als 2000 Erwachsenen in den Vereinigten Staaten ergab folgende Antworten auf die Frage, ob die Teilnehmenden bereits verschiedene Arten von Sex hatten:13 10,3 Prozent der Frauen und 17,8 Prozent der Männer hatten Sex zu dritt, 6,3 Prozent der Frauen und 11,5 Prozent der Männer hatten Gruppensex, 5,2 Prozent der Frauen und 6,3 Prozent der Männer hatten schon einmal eine Sex- oder Swingerparty besucht.
In den wenigen anderen Studien zu diesem Thema wurden ähnliche Werte ermittelt. Beachten Sie, dass die Befragten mehr als eine Option zur Auswahl hatten und es vermutlich Überschneidungen gab. Möglicherweise bezogen sich einige der Befragten in ihren Antworten auf ein und dasselbe Erlebnis: Wer auf eine Sexparty geht und zuerst Gruppensex und anschließend Sex zu dritt hat, gibt bei allen drei Optionen Ja an.
Es bedeutet auch nicht, dass die betreffenden Personen diese Aktivitäten in ihr reguläres Sexualleben integriert hätten, wie aus anderen Antworten in der amerikanischen Umfrage hervorgeht. Nur ein bis zwei Prozent der Frauen und zwei bis drei Prozent der Männer hatten im vorangegangenen Jahr eine dieser drei sexuellen Praktiken ausgeübt. Wobei man berücksichtigen sollte, dass es sich dabei entweder um eine freiwillige Entscheidung oder um eine Frage der Logistik und der Möglichkeiten handeln könnte. Die meisten Menschen können nicht einfach eine Orgie organisieren, wenn ihnen gerade danach ist.
Geben queere Menschen eher an, Gruppensex gehabt zu haben? Ja. Aber lassen Sie uns das relativieren. Im Jahr 2020 wurde eine amerikanische Studie veröffentlicht, die eine breitere Altersspanne umfasste, außerhalb eines universitären Rahmens durchgeführt wurde und an der mehr queere Menschen teilnahmen als an anderen Stichproben (907 Heterosexuelle und 666 LGBT+-Personen).14 30 Prozent der Personen gaben an, an einem gemischtgeschlechtlichen Dreier beteiligt gewesen zu sein. In Übereinstimmung mit den Erwartungen der Forscher*innen war der Wert derjenigen, die sich als Teil einer sexuellen Minderheit identifizierten, hierbei doppelt so hoch: Während er für queere Befragte bei 43 Prozent lag, betrug er nur 21 Prozent für die heterosexuellen Befragten in der Stichprobe. Interessant finde ich auch, dass, entgegen den Erwartungen der Forscher*innen, die männlichen Teilnehmer innerhalb der Stichprobe nicht häufiger als Frauen angaben, an einem Dreier beteiligt gewesen zu sein.
Die Arbeiten von Scoats zeigen, dass unter den Personen, die Sex zu dritt hatten, sexuelle Minderheiten überrepräsentiert sind. In einer seiner Studien mit über 200 Teilnehmenden aus vielen verschiedenen Ländern bezeichneten sich nur 16 Prozent der Frauen, die Sex zu dritt hatten, als ausschließlich heterosexuell und die Mehrheit (52 Prozent) als bi.15 Bei den Männern war es umgekehrt: 45 Prozent von ihnen bezeichneten sich als ausschließlich heterosexuell und nur 16 Prozent als bisexuell. Die anderen bezeichneten sich als überwiegend heterosexuell oder überwiegend homosexuell und einige wenige als ausschließlich homosexuell. Dennoch waren sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen die bisexuellen Personen überrepräsentiert.
Sich nicht als ausschließlich heterosexuell zu identifizieren scheint, insbesondere bei Frauen, die Wahrscheinlichkeit, an Sex zu dritt oder Gruppensex beteiligt zu sein, deutlich zu erhöhen. Aus den Daten geht jedoch nicht hervor, ob sich die Betreffenden bereits vor dem Gruppensex als bisexuell identifizierten oder ob sie diese Erfahrung dazu veranlasste. Was kommt zuerst — die Identität oder der Sex? Wer eine angenehme sexuelle Erfahrung mit einer Person des gleichen Geschlechts gemacht hat, wird sich wahrscheinlich Fragen in Bezug auf die eigene Sexualität stellen — oder sie beantworten. Diese neuen sexuellen Erfahrungen ermutigen vielleicht manche dazu, ihre Identität zu hinterfragen oder zu wechseln. Einen ganzen Abend lang mit einem oder mehreren bisexuellen Menschen zusammen zu sein beeinflusst doch sicherlich die sexuelle Selbstreflexion. Oder?
Allerdings gehen die meisten Menschen nicht so weit: Fantasien über Sex zu dritt sind weitaus häufiger als die tatsächlichen Erfahrungen. In der repräsentativen Stichprobe aus dem Jahr 2020 gaben 81 Prozent der Teilnehmenden an, sie hätten gegenwärtig zumindest ein gewisses Interesse an Sex zu dritt. In einer anderen Studie mit über 4000 Erwachsenen hatten 93 Prozent der Männer und 84 Prozent der Frauen mindestens einmal von Sex zu dritt geträumt, und etwa jeder dritte Teilnehmende gab an, diese Konstellation sei ein regelmäßiger Bestandteil seiner sexuellen Fantasien.16 Ich muss Ihnen vermutlich nicht erst erklären, warum die beiden Spielarten so beliebt sind … wir wissen schließlich alle, wie aufregend sie sich anhören.
Scoats zufolge sind die Unterschiede zwischen Menschen, die sich auf sexuelle Fantasien beschränken, und denjenigen, die aktiv Sex zu dritt haben, breit gestreut. Aus seinen Stichproben gingen gleichwohl einige der Gründe hervor, aus denen Menschen Sex zu dritt haben. Dazu gehört das »Sammeln sexueller Erfahrungen«: Sex zu dritt als ein Punkt auf einer verinnerlichten Liste, der irgendwann abgehakt wird, bevor man zu alt ist oder das Leben in geregelten Bahnen verläuft. Andere Forscher*innen stellten jedoch gerade bei etwas länger Verheirateten fest, dass sie neue sexuelle Erfahrungen zu schätzen wussten und in diesem Punkt aktiv waren. Es dürfte demnach noch andere Lebensphasen geben, in denen ein experimentierfreudiges Verhalten wahrscheinlich ist.
Zweitens fand Scoats heraus, dass die Beteiligung an Sex zu dritt manchmal durch »sexuellen Altruismus« motiviert ist. Er definiert dies als den Versuch, andere glücklich zu machen, oder als ein Zeichen von Freundschaft: dem Wunsch des anderen nachkommen, ohne ihn zu teilen. Drittens und vielleicht am vorhersehbarsten wird Sex zu dritt einfach als Möglichkeit gesehen, Spaß zu haben. Am Schluss fügte Scoats seinen Erkenntnissen hinzu: »Vielleicht spielt auch die — wie könnte man sagen, ja die Alltäglichkeit eine Rolle. Für viele der Teilnehmenden war es einfach keine große Sache.«
Ich gehe hier nicht etwa deshalb so ausführlich auf das Thema Sex zu dritt ein, weil es spannend und aufregend ist, sondern weil ich überzeugt bin, dass es uns zu interessanten Erkenntnissen über Bisexualität verhilft. Sex zu dritt ist für viele eine Möglichkeit, vielleicht zum ersten Mal verschiedene Varianten gleichgeschlechtlichen sexuellen Verhaltens zu erleben, ohne deswegen gleich ihre Sexualität infrage stellen zu müssen. Einerseits ist das wunderbar, andererseits ist es auch eine verpasste Gelegenheit. Meiner Meinung nach ist der Dialog über Erfahrungen mit Sex zu dritt und diesbezügliche Wünsche ein guter Einstieg für tiefer gehende Gespräche über bisexuelle Wünsche und bisexuelles Verhalten und darüber, wie diese mit bisexuellen Identitäten zusammenhängen könnten.
Das soll nicht heißen, jeder, der Erfahrungen mit Dreiern oder Gruppensex gehabt hat, sei queer. Absolut nicht. Dennoch glaube ich, dass diese Wünsche und Erfahrungen der Auftakt für ein neues sexuelles Leben sein könnten, das, gründlich erforscht, zu einer Bereicherung werden kann.
Bevor wir zum Ende dieses Abschnitts kommen und uns dem nächsten Thema zuwenden — wie Dreier und Bisexualität mit Beziehungsstrukturen zusammenhängen —, möchte ich noch eine Frage ansprechen: Macht Sex zu dritt eigentlich Spaß? Einige Ergebnisse weisen darauf hin, dass Dreier im Großen und Ganzen die Erwartungen erfüllen und als positiv und angenehm empfunden werden, vor allem für diejenigen, die zu einer sexuellen Minderheit gehören. Natürlich gilt auch für Dreier, wie für alle sexuellen Begegnungen, dass hier eine große Variabilität dessen, was als angenehm empfunden wird, vorliegt. Auf letzteren Punkt und den Umstand, dass wahre Erlebnisse nicht immer unseren Fantasievorstellungen entsprechen, geht der Sexualforscher Justin Lehmiller ein: »Die meisten Menschen haben kein Skript dafür, wie Sex zu dritt ablaufen sollte.« Er fährt fort: »Man denkt schnell ›das klingt nach einer tollen Idee‹ … aber die Realität stimmt häufig nicht mit unseren Wunschvorstellungen überein.«17
Nicht-Monogamie ist bekanntlich ein Tabuthema, und gute, gesunde Repräsentationen davon sind eher Mangelware. Daher ist unsere Vorstellungskraft deutlich unterentwickelt. Wenn wir an Menschen denken, die mit einer anderen Person als ihrem*r festen heterosexuellen Partner*in schlafen, denken wir an Betrug und die vielen damit verbundenen negativen Gefühle, wie Eifersucht und Wut. Die Angst vor Eifersucht und der Entwertung ihrer monogamen gemischtgeschlechtlichen Beziehung ist daher auch der ausschlaggebende Faktor, warum sich Menschen, die Fantasien über Sex zu dritt haben, nicht darauf einlassen.
Ich finde es geradezu tragisch, dass so viele Menschen nicht-monogame Beziehungen von vorneherein als Option ausschließen. Wer Sex zu dritt hat oder in einer offenen Partnerschaft lebt, führt deswegen keine minderwertige Beziehung. Viele nehmen das sehr zu Unrecht an und tappen damit in die Falle der obligatorischen Monogamie und des gesellschaftlichen Dogmas, dass die einzig wahre, gute und stabile Beziehung eine monogame sein müsse.
Um diese Realität zu hinterfragen, sollten wir uns zunächst mit zwei damit verbundenen Konzepten befassen. Der Begriff der obligatorischen Heterosexualität tauchte zum ersten Mal während des Internationalen Tribunals über Verbrechen gegen Frauen (International Tribunal on Crimes against Women) auf, das 1976 stattfand; obligatorische Heterosexualität wurde dort als eines der »Verbrechen gegen Frauen« bezeichnet, insbesondere in Bezug auf Lesben und den auf sie ausgeübten Zwang zu heterosexuellem Sex und heterosexuellen Beziehungen. Als Adrienne Rich 1980 einen Artikel veröffentlichte, in dem sie Verbindungen zwischen obligatorischer Heterosexualität, Feminismus und obligatorischer Monogamie herstellte, wurde das Thema auch im akademischen Kontext diskutiert.18 Laut der Gender-Studies-Wissenschaftlerin Angela Willey hat der Begriff der obligatorischen Monogamie seither an Bedeutung gewonnen und »wird herangezogen, um den zutiefst normalisierten Status der monogamen Partnerschaft zu beschreiben, insbesondere in Bezug auf Frauen«.19
Willey erläutert: »Wer von obligatorischer Monogamie redet, lenkt damit die Aufmerksamkeit auf unsere eingeschränkten Fähigkeiten, uns Alternativen vorzustellen. Die Sichtbarkeit alternativer Beziehungsmodelle kann unsere Vorstellungskraft aus der Umklammerung der Monogamie befreien, aber zugleich auch deren Status verstärken.« Anders ausgedrückt ist es wichtig, andere Beziehungsformen zu sehen, um sie überhaupt als Optionen wahrzunehmen, und wir sollten Nicht-Monogamie keinesfalls als eine abweichende Alternative behandeln, über die wir uns lustig machen. Willey fährt fort: »Das Paar bleibt die primäre rechtliche Einheit … und bildet das Fundament der zeitgenössischen Kultur.« Das lässt sich auch an der Tatsache erkennen, dass in den meisten Ländern Partnerschaften mit mehr als zwei Partnern rechtlich nicht anerkannt werden.
Die meisten Menschen sehen sich heute als monogame Heterosexuelle oder, wie sie das wahrscheinlich ausdrücken würden, als »normal«. Ich beobachte, wie meine Freund*innen heiraten und bei ihrer Hochzeit ewige Liebe und Treue schwören. Gesetze und Gepflogenheiten in Bezug auf die Ehe sind weltweit und zwischen den einzelnen Kulturen und Religionen sehr unterschiedlich, aber fast alle betrachten Monogamie als zentrale Bedingung einer romantischen Bindung. Menschen, die heiraten, gehen daher oft davon aus, dass sie nur dann miteinander glücklich sind und rechtlich und gesellschaftlich akzeptiert werden, wenn sie sexuelle Beziehungen ausschließlich miteinander haben.
Es überrascht, dass so viele Menschen dieses Versprechen exklusiver Sexualität abgeben — vor den Augen Gottes und des Gesetzes — und sich dennoch auf etwas einlassen, das wir als nicht-einvernehmliche Nicht-Monogamie oder auch als Untreue bezeichnen könnten. Man nennt es auch das Monogamie-Paradox: »Das Paradox zwischen monogamen Absichten und hohen Untreuewerten.«20
Menschen können sich erstaunlich schlecht daran erinnern, ob und wie oft sie im Lauf ihres Lebens fremdgegangen sind; sie erinnern sich dagegen sehr zuverlässig an Seitensprünge, die noch nicht lange zurückliegen. Viele Studien erfragen daher nur das jüngste Sexualverhalten oder das Verhalten, das sich auf die aktuelle Beziehung bezieht. Adrian Blow, Vorsitzender des Fachbereichs für menschliche Entwicklung und Familienforschung an der Michigan State University, hat in diesem Bereich geforscht. 2005 legte er mit einem Kollegen eine Übersicht über die Literatur zum Thema Untreue vor, in der es hieß: »Wir können den Schluss ziehen, dass im Verlauf verheirateter heterosexueller Beziehungen in den Vereinigten Staaten außerehelicher Sex in weniger als 25 Prozent der festen Beziehungen vorkommt.«21
Doch die Untreuequoten schwanken, je nachdem, welche Studie man heranzieht; die Ergebnisse werden von der Fragestellung und dem Zeitraum, in dem die Teilnehmenden befragt werden, beeinflusst. Zu beachten ist auch, dass sich die Untersuchungen in der Regel auf aktuelle Partner*innen beziehen. Demnach wäre es denkbar, dass einige der verbleibenden 75 Prozent der Teilnehmenden mit früheren Partner*innen fremdgegangen sind. In einem Punkt herrschte in allen gesichteten Beiträgen jedoch Übereinstimmung: Obwohl die meisten Menschen wahrscheinlich in ihrer aktuellen Beziehung treu sind, ist die Anzahl derjenigen, die irgendwann untreu waren, überwältigend hoch.
Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass Personen, die untreu waren, dies in ihrer Beziehung verschwiegen haben, ein Verhalten, das Forscher als »Sexuelle Lüge« bezeichnen.22 Wer seine*n Partner*in belügt, wenn es um Treue geht, fühlt sich wahrscheinlich nicht nur schlecht und fördert die Spannung und Geheimniskrämerei in einer Beziehung. Daneben stören solche Verhaltensmuster die sexuelle Kommunikation und Bindung nachhaltig.23 Fremdgehen und Lügen über das Fremdgehen sind schlechte Strategien in einer Beziehung, so viel dürfte klar sein. Wir sollten uns also Gedanken machen, warum Fremdgehen als etwas so Schreckliches angesehen wird und gleichzeitig so weit verbreitet ist. Was wäre die Alternative, abgesehen von einem gelegentlichen Dreier?
Eine der bekanntesten Befürworterinnen der Nicht-Monogamie ist die Musikerin und Schauspielerin Willow Smith, Tochter des berühmten Schauspielerpaares Will Smith und Jada Pinkett.
Willow outete sich 2020 öffentlich und innerhalb ihrer Familie als bisexuell und an Nicht-Monogamie interessiert. Willow — mit Septum-Piercing, in legerem Outfit aus T-Shirt und Jeans und einer richtigen Dreadlocks-Mähne — sprach mit ihrer Mutter und Großmutter in einer Facebook-Serie namens Red Table Talk24 über ihre Ansichten und äußerte:
»Für mich ist vor allem die emotionale Bindung wichtig. Ich glaube, wenn ich zwei Menschen unterschiedlicher Gender finden würde, mit denen ich mich wirklich verbunden fühlte und eine romantische und sexuelle Bindung mit ihnen hätte, denke ich, dass ich nicht nach weiteren Partner*innen suchen würde … «
2021 formuliert sie in ihrer Instagram-Biografie stolz: »Studentin der menschlichen Erfahrung. Ethische Nicht-Monogame«. Willows Mutter, ihre Großmutter und der Rest der Welt haben die Neuigkeit offenbar gut aufgenommen. Bedenkt man jedoch, wie sich die Table Talk-Gespräche immer wieder um den Punkt drehten, dies bedeute, dass Willow einfach nur mit mehr Leuten Sex haben wolle, haben sie dann wirklich verstanden, was sie meinte?
In ihrer Untersuchung nicht-monogamer Beziehungsformen schrieben Jes Matsick und Kolleg*innen 2013:
»Einvernehmliche Nicht-Monogamie bezieht sich auf romantische Beziehungen, in denen alle Beteiligten damit einverstanden sind, sexuelle, romantische und/oder emotionale Beziehungen mit anderen einzugehen. Innerhalb des allgemeinen Rahmens der einvernehmlichen Nicht-Monogamie unterscheiden sich die jeweiligen Formen von Beziehungen darin, inwieweit die Partner*innen beabsichtigen, dass Liebe und emotionale Bindung Teil ihrer multiplen Beziehungen sind.«25
Statt »einvernehmlich« sind auch andere Begriffe üblich: Nicht-Monogamie wird als intentional, nicht-geheim, ausgehandelt, verantwortungsvoll und ethisch bezeichnet. Alle Begriffe spiegeln den Stellenwert der Ethik und Übereinstimmung. Die Beziehungsform soll von der häufigeren, nicht-einvernehmlichen Nicht-Monogamie, also der Untreue, abgegrenzt werden. Und genau deswegen hat Willow Smith auch darauf hingewiesen, dass sie mit Polyfidelität ganz zufrieden wäre. Polyfidelität ist eine Form der Nicht-Monogamie, bei der alle Mitglieder einer Beziehung als gleichberechtigt betrachtet werden und sich darauf einigen, ausschließlich miteinander Sex zu haben. Dazu kann auch eine Dreierbeziehung gehören, ein sogenanntes Throuple (three + couple), wie die Konstellation mitunter auch spaßeshalber im englischen Sprachraum genannt wird, also drei Personen, die ein feste Beziehung miteinander eingehen. Der Begriff der einvernehmlichen Nicht-Monogamie signalisiert außerdem eine Abgrenzung von den vielen Varianten erzwungener oder unerwünschter Nicht-Monogamie, zu denen auch die Polygamie gehören kann. Unter Polygamie versteht man die Praxis, mehr als eine*n Ehepartner*in gleichzeitig zu haben.
Kritik am Konzept der einvernehmlichen Nicht-Monogamie ist oft Teil eines sogenannten Slippery-Slope- oder Dammbruchargumentes, das gelegentlich auch gegen die Homo-Ehe angeführt wird: Und was kommt danach? Die Ehe zwischen Mensch und Hund? Die Polygamie? Christian Klesse, ein renommierter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Nicht-Monogamie, bemängelt: »In der Rhetorik der Opponenten vom rechten Flügel gilt die rechtliche Gleichstellung von Homo-Ehen häufig als erster Schritt auf einer langen Abwärtsspirale, die zum moralischen Verfall führt und mit der Zeit eine Reihe problematischer und ›unerwünschter‹ Praktiken normalisieren wird.«26
Menschen in nicht-traditionellen Beziehungen genießen zurzeit noch nicht denselben rechtlichen Schutz wie homo- und heterosexuelle Paare in vielen Teilen der Welt, was die betreffenden Gesetze als inhärent diskriminierend ausweist. Doch bevor man aus Protest ein Zelt vor dem Rathaus aufschlägt und ein selbst gemaltes Schild mit der Aufschrift »Gleiche Rechte für Nicht-Monogame« hochhält, sollte man die juristische Seite ins Auge fassen. Polyamorie ist häufig sehr sexistisch und hat viel mit religiöser Pflicht und wenig mit freier Entscheidung zu tun. Sie wird von Männern als Waffe eingesetzt, um Frauen auszubeuten und sich über ihre Beziehungswünsche hinwegzusetzen. Diese Argumente lassen sich natürlich auch gegen die Ehe zwischen zwei Personen einwenden, aber bei Polyamorie sind besondere Faktoren zu berücksichtigen. Eine rechtliche Anerkennung ist möglich, erfordert aber, wie alle legalen Bindungen, wirksame Schutzmaßnahmen.
Wenn wir, vor diesem Hintergrund, auf das Thema Bisexualität zurückkommen, sollten wir uns fragen, welche Überschneidungen zwischen Bisexualität und einvernehmlicher Nicht-Monogamie bestehen. Wollen alle bisexuellen Menschen, entweder ausdrücklich oder insgeheim, in einer Dreierbeziehung leben? Suchen alle bisexuellen Menschen, wie Willow Smith, nach einer ganz besonderen Dreierbeziehung? Und inwiefern ist die angenommene Verbindung zwischen Bisexualität und Nicht-Monogamie problematisch?
Monogamie und Bisexualität sind nicht unvereinbar.27 Die meisten Menschen fühlen sich zu mehr als einer Person hingezogen, doch das macht sie keineswegs unfähig, monogam zu leben. Vielleicht mögen Sie kleine und große Frauen (oder Männer) und Ihr Traum wäre es, mit beiden zusammen zu sein. Für Bisexuelle können sich diese Vorlieben einfach auf Personen multipler Gender erstrecken. Und so wie viele heterosexuelle Menschen in monogamen Beziehungen leben, ist das auch bei Bisexuellen der Fall.
Bisexuelle erfahren eine monogame Beziehung jedoch völlig anders, weil sie im Allgemeinen mit dem Löschen eines großen Teils ihrer Bi-Identität einhergeht. Bisexuelle, die langjährige Beziehungen mit einer Person eingehen, werden häufig nicht mehr als bisexuell gelesen. Das liegt an der unausgesprochenen Überzeugung, bei verheirateten Menschen sei das Gender ihres*r gewählten Partner*in ein eindeutiger Indikator ihrer tatsächlichen Sexualität. Darüber habe ich bereits im Abschnitt über Eltern, die sich ihren Kindern gegenüber outen, geschrieben. Wenn Menschen jedoch weder mehr als eine Person heiraten können noch es wahrscheinlich wollen, wie sollen sie dann als bisexuell gelesen werden? Um dieses Problem zu lösen, schlage ich vor, dass Sie einen neuen Begriff in Ihr Lexikon aufnehmen: die gemischt-orientierte Beziehung.
Die Anerkennung gemischt-orientierter Beziehungen führt zu einer verbesserten Repräsentation und Sichtbarkeit Bisexueller, und der Begriff erlaubt es uns, die Terminologie der »homosexuellen« oder »heterosexuellen« Beziehungen zu überwinden.28
Für monogame Bisexuelle selbst gibt es ebenfalls Möglichkeiten, sich persönlich stärker bi zu fühlen. Julie Hartman-Linck hat in einer Studie über die Sichtbarkeit von Bisexualität in monogamen Beziehungen herausgefunden, dass einige bisexuelle Frauen eine »bisexuelle Zurschaustellung« betreiben, sich bisexuell zu fühlen, selbst wenn sie nicht verhaltensmäßig bisexuell sind. Die Teilnehmenden berichteten beispielsweise davon, wie sie einen bisexuellen Raum in der Wohnung schaffen, eingeschlossen einer Auswahl an queeren Bildern.
Als bisexuelle Person, die selbst in einer Partnerschaft mit einem Mann lebt, kann ich das gut nachvollziehen. Ich sehne mich nach einer bejahenden Bildsprache. Wahrscheinlich gibt es deswegen in unserer Wohnung viele Kunstwerke mit nackten Frauen, eine neonfarbene Pussy-Power-Lithografie aus der queeren Buchhandlung Dog Eared Books und ein Regal mit Werken queerer Autor*innen. Ich möchte nicht nur andere, sondern auch mich selbst daran erinnern, dass ich meine Sexualität nicht gelöscht habe, weil ich eine Langzeitbeziehung mit einem Mann führe. Ähnlich wie den Teilnehmenden der Studie von Hartman-Linck ging es mir nie darum, einen Partner zu finden. Entscheidend war vielmehr, »als bisexuelle Frau sichtbar zu sein, und zwar nicht im Hinblick darauf, von potenziellen Sexualpartner*innen als solche erkannt zu werden, sondern um gesehen zu werden, wie sie ›ist‹ und was ihr authentisches Selbst ausmacht«.29
Behalten Sie das im Hinterkopf, während wir uns behutsam dem nächsten Abschnitt zuwenden.
Eine 2014 veröffentlichte Studie über die Einstellungen zur Monogamie befand, dass die Mehrzahl der bisexuellen Teilnehmenden ihre »eigene Beziehung als monogam und traditionell« bezeichnete.30 Dennoch »war die Einstellung Bisexueller zur Monogamie weniger positiv als die anderer sexueller Identitätsgruppen«. Bisexuelle Menschen empfanden Monogamie weniger bereichernd als diejenigen, die sich als schwul, lesbisch oder heterosexuell identifizierten. Im Vergleich zu Monosexuellen empfanden bisexuelle Menschen Monogamie eher als ein Opfer. Das bedeutet nicht, dass Bisexuelle gegen die Monogamie sind, sondern nur, dass sie von Bisexuellen weniger als der Heilige Gral der Beziehungen angesehen wird und ihr Interesse an monogamen Partnerschaften insgesamt geringer ausfällt.
Die Ergebnisse einer aussagekräftigen und beeindruckend großen, 2017 veröffentlichten US-Studie mit über 8000 Teilnehmenden zeigen, dass »mehr als ein Drittel der bisexuellen Männer und Frauen angaben, mindestens eine offene Beziehung gehabt zu haben«. Dieser Anteil blieb über alle Altersgruppen, Bildungsniveaus, Einkommensgruppen, Religionen, politische Einstellungen und ethnische Zugehörigkeiten hinweg konstant.31 Eine genauere Betrachtung ergab, dass 45 Prozent der bisexuellen Männer irgendwann in ihrem Leben einvernehmliche Nicht-Monogamie praktiziert hatten, verglichen mit 32 Prozent der schwulen und 25 Prozent der heterosexuellen Männer. Außerdem gaben 35 Prozent der bisexuellen Frauen an, einvernehmlich nicht-monogame Beziehungen geführt zu haben, verglichen mit 21 Prozent der lesbischen und 16 Prozent der heterosexuellen Frauen.
Obwohl bisexuelle Menschen mit höherer Wahrscheinlichkeit einvernehmlich nicht-monogame Beziehungen hatten, erinnern uns die Autor*innen der Studie daran, dass der überwiegende Anteil derjenigen, die solche Beziehungen führten, heterosexuell ist: »In der gesamten Stichprobe war die große Mehrheit (78,7 bis 80 Prozent) derjenigen, die eine offene Beziehung hatten, heterosexuell; der Wert stimmt mit der heterosexuellen Prävalenz innerhalb der Gesamtbevölkerung überein.«
Meine bevorzugte Erklärung dafür, warum Bisexuelle sich relativ häufig auf einvernehmlich nicht-monogame Beziehungen einlassen, lautet, dass die Identifizierung als bisexuell eine Kettenreaktion auslöst, in der Annahmen über Sex und Beziehungen unweigerlich infrage gestellt werden. Und wenn man schon dabei ist, veraltete und schädliche sexuelle Binaritäten aufzubrechen, warum sollte man dann an diesem Punkt aufhören? Da kann man genauso gut den Presslufthammer nehmen und die Monogamie in Stücke zerschlagen.
Obendrein werden bisexuelle Menschen ständig gefragt, ob eine Person überhaupt genug für sie sei. Das führt zwangsläufig zu Gesprächen und kritischen Auseinandersetzungen, mit denen Monosexuelle nicht konfrontiert sind. Ähnlich äußerte sich Alison Moss, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen als eine an Bisexualität interessierte Forscherin beschreibt:
»Mir ist aufgefallen, dass Diskussionen über Monogamie meist auch zu Diskussionen über Heteronormativität führen. Es hat den Anschein, als könne beides nicht unabhängig voneinander diskutiert werden. Für mich liegt daher folgender Schluss nahe: Da Monogamie bisexuellen Menschen derart vehement strittig gemacht wird (sind Bisexuelle wirklich in der Lage, sich an ein Gender zu binden? Oder werden sie sich immer nach jemandem des anderen Gender sehnen?), wirft die bloße Tatsache, dass sie sich als bisexuell bezeichnen, bereits andere Fragen der sexuellen Identität auf.«
Jeder Mensch kann, unabhängig von seiner sexuellen Identifizierung, promiskuitiv oder untreu sein oder niemals den Wunsch nach einer langfristigen Beziehung verspüren … aber er kann auch ebenso gut sexuell konservativ und treu sein oder sich nach der Ehe und dem Häuschen im Grünen sehnen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass man als bisexuelle Person ständig nach den Beweggründen gefragt wird. Warum willst du das alles? Warum hast du Sex mit diesen Personen? Bist du sicher, dass du das wirklich willst? Wie kannst du dir sicher sein? Was ist, wenn du deine Meinung änderst?
Ich jedenfalls träume von einer Welt, in der Menschen aufhören, bisexuellen Personen diese Fragen zu stellen, und sie stattdessen an sich selbst richten.
Im Jahr 2019 rief die Society for the Psychology of Sexual Orientation and Gender Diversity (ein Zweig der American Psychological Association) eine Projektgruppe ins Leben, die sich mit einvernehmlicher Nicht-Monogamie befasste. Der Verband war der Ansicht, es sei an der Zeit, Diversität in Beziehungen anzuerkennen und die Überschneidungen zwischen dieser Diversität und sexuellen und Genderidentitäten in den Blick zu nehmen.32 Sie schreiben, es habe »wichtige gesellschaftliche Veränderungen gegeben, die sich darauf auswirken, wie Menschen intime Beziehungen und Familienbildung wahrnehmen und gestalten«. Diese Entwicklung müsse daher gerade von Therapeuten und Gesundheitsdienstleistern besser verstanden werden.
Offenbar stoßen alternative Beziehungsformen zur Monogamie nicht nur bei der Generation aus den Swinging Sixties oder der Generation Z, sondern auch in wissenschaftlichen Zirkeln und der Öffentlichkeit auf breites Interesse. Im Jahr 2020 stellten die Wissenschaftlerin Annelise Murphy und ihr Team in einer Studie über die Veränderungen in langfristigen Beziehungen fest, dass »einvernehmliche Nicht-Monogamie eine zunehmend beliebte Beziehungsoption ist«.33 Das Konzept ist nicht neu. Sogar der Sexualforscher Havelock Ellis führte bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine offene Ehe. In den Briefen, die Ellis an seine Frau schrieb, fällt dem*r Leser*in vor allem seine glühende Bewunderung und Liebe auf, die eher zu wachsen als abzunehmen scheint, je offener die beiden über ihre romantischen Gefühle für andere sprechen.
In einer Längsschnittstudie aus dem Jahr 2021 stellten die Forscher*innen 233 Personen, die beabsichtigten, eine einvernehmliche nicht-monogame Beziehung einzugehen, dies aber noch nicht umgesetzt hatten, eine Reihe von Fragen. Anschließend verglichen sie das beziehungsbezogene, sexuelle und persönliche Wohlbefinden der Teilnehmenden vor und nach Beginn der offenen Beziehung. Diejenigen, die sich auf eine nicht-monogame Beziehung einließen, »berichteten von einer signifikanten Steigerung der sexuellen Zufriedenheit, insbesondere im Hinblick auf sexuelle Unvereinbarkeiten innerhalb der Beziehung«.34 Zu diesem Schluss kommt auch ein Bericht zur Erforschung einvernehmlicher nicht-monogamer Beziehungen. Sie ergibt, dass »die Beteiligung an einvernehmlichen nicht-monogamen Beziehungen mit positiven Aspekten der sexuellen Gesundheit in Verbindung gebracht wird, wie beispielsweise offene Gespräche über sexuelle Bedürfnisse und Risiken sowie einer häufigeren Verwendung von Kondomen«.35
Für alle, die noch nicht bereit sind, ihre Beziehungsform zu ändern, gleichwohl aber ein bisschen experimentieren möchten, hat die Forschung auch gute Nachrichten über Sex zu dritt. Laut Ryan Scoats »stellt Sex zu dritt die Monogamie nicht infrage, sondern kann vielmehr eine positive Wirkung ausüben, insbesondere bei Liebespaaren. Dreier können Paare zu einer neuen sexuellen ›Befreiung‹ führen … und den Vorrang ihrer festen Beziehung bestätigen.« Sie schlagen also zwei Fliegen mit einer Klappe, oder anders ausgedrückt: Sex zu dritt macht Spaß und ist gut für eine Beziehung.
So wie die »automatischen Filter«, die Google setzt, werden auch unsere Gehirne neu verdrahtet, und es kommt hoffentlich nicht mehr zu jenen ewig gleichen Fragen, die Bisexuellen immer wieder gestellt werden. Stattdessen werfen die Fragesteller vielleicht einen Blick in den Spiegel und stellen sich diese Fragen selbst.
Ein Zitat des berühmten Forschers der Geschichte der Homosexualität, Jeffrey Weeks, ist der passende Schlusspunkt für dieses Kapitel: »Es gibt viele Beweise dafür, dass ein Wandel der Intimität im Gange ist und eine Revolution an der Basis stattfindet.«36 Mögen wir alle im Laufe unseres Lebens noch viele Wandlungen der Intimität erleben.