Die Polizeistation befand sich im Norden von Rødby. Dass dort jemand zwei deutsche Besucher empfangen würde, um ihnen etwas über den Tod von Ægir Hoven zu erzählen, hatte Lisa der dänischen Reisejournalistin Anne Syderborg zu verdanken, mit der sie vor einigen Jahren bei einer Reportage über die amerikanischen Jungferninseln zusammengearbeitet hatte. Die beiden Frauen standen seitdem in lockerem telefonischem Kontakt, und nun hatte Lisa sie um Rat gebeten.
Dabei hatte sich herausgestellt, dass ein Cousin von Anne Polizist in Rødby war. Sofort hatte er sich bereit erklärt, Lisa mit einem Kollegen bekannt zu machen, der von Anfang an in die Ermittlungen zum Tod von Ægir Hoven involviert gewesen war.
Annes Cousin erwartete sie vor dem Polizeigebäude, er bat sie aber nicht herein, sondern deutete auf eine kleine Grünfläche auf der anderen Straßenseite.
»Der Mann, mit dem Sie sprechen sollten, sitzt dort drüben unter einem der Bäume. Falls er eingenickt sein sollte, wecken Sie ihn lieber nicht – das mag er nicht so gern, aber keine Sorge, er hat einen leichten Schlaf.« Der Polizist grinste gutmütig und zwinkerte den beiden Besuchern zu.
Damit wandte er sich ab und kehrte ins Gebäude zurück. Lisa und Fred überquerten die Straße. Die Sonne schien kräftig vom blauen Himmel, doch im Schatten der Bäume war es angenehm kühl. Unter der ausladenden Krone einer alten Buche saß ein Mann in Uniform. Er hatte den Rücken gemütlich an den Stamm gelehnt, die Augen geschlossen und die Arme ganz entspannt auf den Oberschenkeln abgelegt. Der Brustkorb des Mannes hob und senkte sich in tiefen Atemzügen, auch als Lisa und Fred schon eine Weile direkt vor ihm gestanden hatten. Gerade als sie überlegten, ob sie ihn nicht doch wecken sollten, schlug dieser lächelnd die Augen auf.
»Ich sehe schon, der Kollege hat Sie instruiert«, sagte er und musterte seine beiden Besucher. »Hat er gesagt, dass Sie mich auf keinen Fall wecken sollen?«
Lisa nickte und erwiderte sein Lächeln. Überraschend behände kam der Polizist auf die Beine und gab ihnen beiden die Hand. Er stellte sich als Søren Christensen vor und lud sie zu einem kleinen Spaziergang ein. Unterwegs wollte er von Lisa hören, warum sie sich für den Tod von Ægir Hoven interessierte. Da sie ihm schlecht von den Drohungen und kriminellen Machenschaften erzählen konnte, die Jens Hoven ja unter der Decke halten wollte, hatte sie sich gemeinsam mit Fred folgende Geschichte zurechtgelegt: Der Neffe und Erbe des Toten habe sie mit ergänzenden Recherchen beauftragt, weil er vermute, dass sein Onkel mehr Vermögen besessen habe als die Gelder, Immobilien und Firmenanteile, die im Nachlassverzeichnis aufgeführt seien.
»Kann schon sein«, brummte Søren Christensen. »Ægir Hoven hatte seine Finger überall mit drin – und dass sein Neffe da finanziell auf Nummer sicher gehen will, glaube ich gern. Vielleicht stoßen Sie wirklich noch auf ein paar Millionen mehr, wer weiß? Und der junge Hoven scheint dringend Geld zu brauchen, so sehr, wie er uns wegen dieser Geschichte genervt hat. Aber die Polizei muss nun mal ihre Arbeit machen, nicht wahr, und zwar gründlich, was manchmal seine Zeit braucht.«
Unterdessen erreichten sie nach etwa hundertfünfzig Metern einen asphaltierten Parkplatz, von dem ein schmaler Weg in einen dichten Wald führte. Christensen ging ihnen auf dem Pfad voraus, bis sie eine etwa kreisrunde Lichtung erreichten. Er trat in die Sonne hinaus, schloss die Augen und hielt sein Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen. Lisa und Fred bauten sich ihm gegenüber auf und warteten darauf, dass er weiterredete. Es dauerte eine Weile, bis er den Blick senkte und wieder Lisa und Fred ansah.
»Schön hier, nicht wahr? Wissen Sie, man achtet viel zu wenig auf die Schönheit, die einen umgibt. Ich für meinen Teil habe mir vorgenommen, das zu ändern – und seit ich mehr im Hier und Jetzt lebe, seit ich Kleinigkeiten zu schätzen weiß und dem Leben nicht mehr jede krumme Wendung übel nehme, bin ich schon viel ausgeglichener geworden.«
Fred hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben und offenbar eingesehen, dass dieser Mann nicht schneller auf den Punkt kommen würde, wenn man ihn drängte. Lisa aber konnte ihre Ungeduld nicht verbergen. Christensen grinste.
»Bleiben Sie doch ein paar Tage auf Lolland, und lassen Sie sich auf den Rhythmus hier ein. Nicht jeder Däne ist entspannt, aber in Rødby, Nysted und den Dörfern drum herum geht es schon eher gemütlich zu. Deswegen habe ich mich vor ein paar Jahren von Kopenhagen hierherversetzen lassen – oder besser gesagt zurückversetzen lassen, denn hier in Rødby habe ich schon Dienst getan, bevor es in die Hauptstadt ging.«
Lisa wollte ihn schon unterbrechen, da fing sie einen kurzen Blick von Fred auf, der nur leicht den Kopf schüttelte.
»Ægir Hoven wurde östlich von Rødby ans Ufer geschwemmt«, fuhr Christensen fort, »und er sah aus, wie Wasserleichen leider aussehen: nicht schön. Die Rechtsmedizinerin hat ihn eingehend untersucht, und wir als Polizei sind zu dem Schluss gelangt, dass es unglückliche Umstände waren, die Ægir Hoven das Leben gekostet haben.«
Christensen schaute Lisa prüfend an.
»Und wenn Sie über diesen Todesfall mit mir reden wollen, schließe ich daraus, dass Sie anderer Meinung sind, stimmt das?«
»Wir haben eigentlich noch gar keine Meinung. Wir wollen nur allem nachgehen.«
»Und was versprechen Sie sich davon mit Blick auf Ihren Auftrag, weiteres Vermögen aufzuspüren?«
»Sagen Sie und Ihre Kollegen nicht immer, dass Sie zu Beginn in alle Richtungen ermitteln?«, versetzte Lisa lächelnd.
»Sie sollten weniger Krimis schauen«, brummte Christensen.
»Haben Sie den toten Ægir Hoven eigentlich aufgefunden?«
»Gott bewahre! Das hätte mir noch gefehlt! Es war blöd genug, dass der Tote ausgerechnet zu einer Zeit ans Ufer geschwemmt wurde, als ich in der Nähe war. Ich war mit dem Boot draußen, wollte eigentlich die Angel auswerfen und endlich mal ein paar ruhige Stunden haben, doch da kam der Anruf, und vorbei war’s mit der Ruhe!«
»Und dort wurde der Leichnam entdeckt?«
»Ja, an einem Sonntagmorgen, das muss man sich mal vorstellen!« Søren Christensen schüttelte den Kopf, seine Empörung wirkte echt. »Also habe ich die Angel wieder eingeholt und bin mit dem Boot zu der Stelle gefahren, die mir beschrieben worden war. Und da lag der Tote, mit dem Gesicht nach unten, am Strand …«
Er verstummte und schüttelte sich, bevor er fortfuhr.
»Sie wollen natürlich vor allem wissen, wer ihn gefunden hat, stimmt’s? Der alte Harald war’s, der jeden Tag seine Runden an der Küste dreht. Dem hat’s die Leiche vor die Füße geschwemmt.«
Christensen unterbrach sich und sah Lisa an.
»Harald Schenstrøm, ein pensionierter Fischer.«
»Haben Sie auch seine Adresse?«
»Der hat keine richtige Adresse, sondern haust in einer windschiefen Kate in der Nähe von Schloss Aalholm, mit Blick auf die Ostsee. Der Vater des heutigen Schlossbesitzers hat wohl eine gewisse Sympathie für den armen Schlucker gehegt und ihm daher Wohnrecht in der alten Kate gewährt. Dem Hörensagen nach muss er keine Miete zahlen. Außerdem wird ihm wohl vom Schloss zu essen und zu trinken gegeben. Als Fischer wird Harald keine allzu üppige Rente beziehen.«
»Frag ihn doch, ob es während der Ermittlungen irgendetwas gab, was auf einen gewaltsamen Tod hingedeutet hätte«, sagte Fred zu Lisa, und sie übersetzte für ihn.
»Wir sind allen Hinweisen nachgegangen – viele waren es nicht –, aber am Ende war für uns die Sache klar: Ægir Hoven ist mit einem Boot hinausgefahren und ausgerutscht, hat sich den Schädel am Bootsrand aufgeschlagen und ist bewusstlos oder vielleicht auch schon tot über Bord gegangen.«
Das weitere Gespräch mit dem Polizisten brachte nichts Neues. Christensen schien heilfroh zu sein, dass Ægir Hoven offenbar nicht durch Mord oder Totschlag ums Leben gekommen war – und vermutlich ging es seinen Kollegen nicht anders.
Sie tauschten Visitenkarten, Christensen nannte ihnen sogar sein Stammlokal in Nysted, Dines gamle knejpe, wo man sich gern mal auf ein Bier und einen Aquavit zusammensetzen könne, aber das sagte er wohl eher aus Höflichkeit. Als Fred und Lisa davonfuhren, sahen sie im Rückspiegel den Polizisten, der ihnen nachschaute, die Mundwinkel gesenkt und die Hände tief in den Taschen vergraben.
Was sie nicht sahen, war die Limousine, die in einiger Entfernung am Straßenrand stand. Hinter dem Steuer saß ein Mann im eleganten Anzug, die verrutschten Manschetten seines Hemdes gaben den Blick frei auf eine teure Uhr. Neben ihm hockte ein alter Mann. Er beobachtete konzentriert den wegfahrenden SUV und den Polizisten, der sich gemächlich auf dem Weg zum Polizeigebäude machte.
»Sollen wir dem Wagen folgen?«, fragte der Mann am Steuer.
»Sie werden vermutlich zu ihrem Ferienhäuschen zurückfahren. Bring mich lieber zu Albert, der soll sich um die beiden kümmern und sie ein bisschen im Auge behalten.«
Über das Gesicht des Jüngeren huschte ein Schatten, und der Alte seufzte.
»Er ist halt mein Sohn, sei nicht so streng mit ihm«, schnarrte er und wedelte mit der linken Hand. »Und jetzt fahr los.«
Auf dem Handy studierte Lisa während der Fahrt nach Nysted, ob es zur Kate des alten Fischers wohl einen Weg gab, der nicht über die offizielle Zufahrt zum Schloss führte.
»Schau mal hier, Fred«, sagte sie schließlich und hielt ihm das Smartphone hin. »Wenn wir ein Stück vor Nysted nach Stubberup abbiegen, könnten wir das Auto am Ufer parken und von dort zu Fuß zum Häuschen des Fischers gehen.«
Nachdem Fred wenig später den SUV am Rand eines kleinen Hafens zwischen zwei Wohnmobilen abgestellt hatte, machten sie sich auf den Weg. Erst ging es am Rand eines Feldes entlang, dann über das steinige Ufer und durch ein Waldstück, bis sie zu einer Wiese gelangten, von der aus man nach Westen, Süden und Osten hin freien Blick auf die Ostsee hatte. Unter einem seltsam verwachsenen Baum mit schrundiger Rinde duckte sich ein kleines Holzhäuschen, auf dessen Dach schwarze Teerpappe genagelt war. Vor der Hütte befand sich eine Feuerstelle, über der an einem metallenen Dreibein ein zerbeulter Topf hing. Darunter, in der Asche, stand eine ebenso zerbeulte Metallkanne. Die Feuerstelle war von einigen alten Bänken umgeben. Vor dem baufälligen Häuschen lagen ein altes Ruderboot und allerlei Krimskrams, und an einem morsch wirkenden Holzpfosten war ein zweites Boot mit eingeholtem Außenbordmotor im seichten Uferwasser vertäut.
Lisa trat an das Häuschen heran und bückte sich, um durch eines der niedrig angebrachten Fenster ins Innere zu blicken, da sah sie aus dem Augenwinkel, wie Fred blitzschnell herumfuhr. Nun drehte auch sie sich um – und sah einen alten Mann, der sie aus funkelnden Augen anstarrte und etwas knurrte, was Lisa trotz ihrer Dänischkenntnisse nicht recht verstand, weil er zum Reden kaum den Mund öffnete. Dass es nichts Freundliches gewesen war, begriff sie aber durchaus.
»Wie bitte? Ich habe Sie nicht verstanden«, entgegnete sie.
Nun bequemte sich der Alte, etwas lauter und deutlicher zu werden.
»Was suchen Sie hier? Und was fällt Ihnen ein, einfach in mein Haus reinzuglotzen?«
»Ich wollte nur schauen, ob Sie vielleicht drin sind. Aber so weit kam ich gar nicht, weil Sie plötzlich hinter mir standen. Sie sind doch Harald Schenstrøm?«
»Klar bin ich das. Und ich werd hier wohl stehen dürfen, wann und wo ich will!«
Sein Tonfall klang feindselig, aber auf Lisa wirkte der Alte eher nervös, beinahe ängstlich, und sie fragte sich, was er mit seinem aggressiven Auftreten wohl überspielen wollte.
»Also«, schob er nach und reckte das Kinn, so gut es eben ging. Dabei sah er nicht sehr bedrohlich aus, insbesondere nicht neben einem muskelbepackten Hünen wie Fred Hamann.
»Wir würden gern mit Ihnen reden.«
»Mit mir?« Er klang überrascht.
Lisa sah sich noch einmal um, aber außer ihnen war niemand auf der Lichtung zu sehen. Sie warf einen forschenden Blick in den Wald hinein, auch der war menschenleer. Und als sie erneut das Häuschen musterte, um hinter den Fensterscheiben etwas zu erkennen, trat der alte Fischer an sie heran und zupfte sie heftig am Ärmel.
»Sie sind Deutsche, richtig?«
»Ja. Ist mein Dänisch so schlecht?«
»Nein, das nicht, aber ich habe ein Auge drauf, was in meinem Städtchen vor sich geht. Und ich hab Sie gestern in einem Wagen mit deutschen Kennzeichen gesehen.«
»Aha.«
»Sie wohnen drüben in einem der Ferienhäuser, stimmt’s?«
»Auch das ist richtig, warum?«
»Und Sie wollen wirklich mit mir reden?«
Als Lisa nickte, ließ sich der Fischer erleichtert auf einer der Holzbänke nieder.
»Setzen Sie sich«, sagte er, nun deutlich freundlicher, und wies auf die Bank ihm gegenüber. »Bitte.«
Bevor sie Platz nahm, sah sich Lisa unauffällig um und erspähte dabei einen Schlafsack, der seitlich hinter der Hütte halb von einem Gebüsch verdeckt war. Sie tat so, als hätte sie nichts gesehen, und setzte sich neben Fred auf die morsche Bank.
»Und was wollen Sie nun von mir wissen?«, fragte der Alte. »Wenn Sie mit mir reden wollen, geht es bestimmt um den toten Hoven.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sie waren mit Ihrem Wagen bei Jens Hoven – und der kennt derzeit kein anderes Thema als seinen toten Onkel, oder genauer: das Vermögen seines toten Onkels, das er jetzt endlich in die Hände bekommen will. Also hat er Sie vermutlich hergeholt, damit Sie für ihn ein bisschen in der Sache herumstochern.«
Lisa nickte und sah den alten Fischer anerkennend an.
»Gut kombiniert, Herr Schenstrøm.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Sie haben ihn gefunden«, fuhr Lisa fort. »Das hat uns Søren Christensen erzählt, der Polizist.«
»Ich weiß, wer Søren ist«, versetzte Schenstrøm ungnädig.
»In welchem Zustand haben Sie die Leiche denn vorgefunden?«
»Sah nicht schön aus, nach der ganzen Zeit im Wasser. Sein Schädel hatte ein Loch, hier hinten.« Schenstrøm deutete auf eine Stelle an seinem Hinterkopf. »Und an den Armen und am Rücken war die Haut beschädigt, aber wenn er nur lange genug im Wasser gelegen hat, kann das auch draußen auf See passiert sein.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er kann angeknabbert worden sein, oder sein Leichnam ist irgendwo entlanggeschrammt, was weiß ich.«
Lisa fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, den alten Fischer zu besuchen. Er schien nicht mehr zu wissen, als der Polizist in Rødby ihnen erzählt hatte.
Da fiel ihr auf, dass Schenstrøm ganz kurz an ihr vorbei zu seiner Kate schaute, bevor er sich gleich darauf wieder ganz auf sie konzentrierte. Auch Fred hatte es bemerkt. Beide drehten sich zur Hütte des Fischers um. Vor der nun geöffneten Eingangstür stand eine zerlumpte Gestalt, die sich die Hand als Sonnenschutz vor die Augen hielt, als vertrage sie das grelle Licht nicht. Lisa kramte in ihrer Erinnerung, aber ihr fiel beim besten Willen nicht ein, wo sie den Mann, der so mitleiderregend dort stand, schon einmal gesehen hatte. Als sie sich wieder dem alten Fischer zuwandte, sah der sie forschend an.
»Wer ist das?«, fragte sie schließlich.
»Sie kennen ihn nicht?« Schenstrøm wirkte überrascht. »Um ehrlich zu sein, hatte ich vorhin gedacht, Sie seien seinetwegen hier.«
»Wieso? Was sollten wir von ihm wollen?«
»Sie erkennen ihn nicht wieder?«
»Habe ich ihn denn schon einmal gesehen?«
»Gehört, vor allem.«
Sie nahm den Mann vor der Kate genauer in Augenschein. Meinte Schenstrøm den Mann, der gestern Abend schreiend und fluchend am Ufer entlanggegangen war? Da war es schon zu dunkel gewesen, um mehr als eine vage Kontur von ihm zu erkennen.
»War er gestern Abend in der Nähe unseres Ferienhauses am Wasser und hat herumgeschrien?«, fragte sie den Fischer, der mit einem bedächtigen Nicken antwortete. »Und warum sollten wir extra herkommen, um mit ihm zu reden?«
»Sie wären nicht die ersten Feriengäste, die sich an seinem Geschrei gestört hätten.«
»Er hat mir eher ein wenig Angst gemacht.«
»Angst müssen Sie nicht vor ihm haben. Knud Aalstrup ist ein armes Schwein und tut keiner Fliege was zuleide. Außer …«
»Außer was?«
»Na ja, solange Sie ihn nicht anschreien, haben Sie nichts zu befürchten.«
»Warum sollte ich ihn anschreien?«
»Es gab mal einen Fall, da hat sich ein Feriengast von ihm gestört gefühlt. Er hat sich aufgeregt, weil seine Kinder wegen des lauten Geschreis nicht schlafen konnten. Also ist er rausgegangen und hat Knud zugerufen, dass er doch endlich mal die Klappe halten soll.«
»Und was ist passiert?«
»Knud und der Mann haben sich eine Zeit lang angeschrien, und dann hat Knud seine Runde fortgesetzt.«
»Mehr nicht?«
»Der Arzt, zu dem der Feriengast am nächsten Morgen ging, hat ein paar blaue Flecke festgestellt, zwei Blutergüsse im Gesicht und einen ausgeschlagenen Schneidezahn.«
»Na toll! Und das hätten Sie mir verschwiegen? Damit ich womöglich auch wegen Knud zum Arzt muss?«
Schenstrøm zuckte mit den Schultern.
»Dem Gast hat es übrigens nichts gebracht, dass er sich ein Attest vom Arzt geholt hat. Die Polizei hat einen Bericht geschrieben, mehr kam nicht dabei heraus. Der Feriengast kannte ja Knuds Namen nicht, und die Polizei hat so getan, als wisse sie nicht, um wen es sich handelte. Im Übrigen hat Knud kein Geld, von dem er den Schadenersatz zahlen könnte. Bei dem ist nichts zu holen – das ist ja letztendlich auch der Grund dafür, dass er seine Runde dreht.«
»Wollen Sie damit sagen, dass er regelmäßig am Uferweg herumstrolcht und aufs Meer hinausschreit?«
»Jeden Abend, wenn es dunkel wird. Der Feriengast hatte schon bald die Nase voll. Am Abend nach dem … Zusammenstoß mit Knud hat er sich nicht mehr rausgetraut, und er hat ihm auch nichts mehr zugerufen. Und am nächsten Tag ist er mit seiner Familie abgereist.«
»Und was für ein Problem hat Ihr Freund?«
»Lange Geschichte.«
»Das macht nichts.«
»Glauben Sie mir, Knud hat seine Gründe, jeden Abend fluchend und schreiend am Meer entlangzulaufen. Und wie gesagt: Hören Sie am besten weg, kümmern Sie sich nicht um ihn, und dann haben Sie auch nichts zu befürchten. Es ist so schön hier in Nysted und so entspannt – da werden Sie die paar Minuten Geschrei doch verschmerzen können!«
Knud hatte sich während der ganzen Unterhaltung keinen Millimeter fortbewegt. Er stand reglos vor der Tür der Kate und starrte den alten Fischer und seine beiden Besucher unverwandt an. Er wirkte verwirrt, vielleicht auch etwas betrunken oder verkatert, aber nicht gefährlich.
»Wohnt er hier bei Ihnen?«, fragte Fred in gebrochenem Dänisch.
»Nein, er haust in einer alten Wellblechhalle mit Blick auf den Friedhof. Manchmal treffen wir uns, wenn er seine Runde dreht. Ich bin am frühen Abend gern draußen mit dem Boot, und auf dem Wasser ist er ja nicht zu überhören. Dann fahre ich rüber zum Anleger beim Campingplatz …« Er deutete auf eine Halbinsel gegenüber. »… und setze mich mit ihm auf eine Dose Bier zusammen. Gestern hat er auf mich den Eindruck gemacht, als würde eine Dose nicht reichen, also habe ich ihn mit hierhergenommen. Und danach war nicht mehr daran zu denken, dass er im Dunkeln noch nach Hause marschiert.«
Schenstrøm warf Knud einen traurigen Blick zu.
»Wie gesagt: Er ist ein armer Kerl, dem übel mitgespielt wurde. Für den räume ich schon mal meine Hütte und kriech in den Schlafsack statt ins Bett.«
Knud Aalstrup hatte den alten Fischer wohl verstanden. Er nickte ihm zu, wischte sich mit dem Ärmel seiner eingerissenen Jacke die Nase und trottete dann an der Kate vorbei in den Wald hinein.
»Wenn er jeden Abend am Ufer unterwegs ist«, sagte Lisa zu Schenstrøm, »könnte er doch etwas mitbekommen haben, was mit Ægir Hovens Tod zu tun hat, glauben Sie nicht auch?«
Der Alte sah sie lange an.
»Erzählen Sie Knud bloß nicht, dass Ægir tot ist! Erwähnen Sie ihm gegenüber niemals den Namen Hoven!«
Die Stimme des Fischers klang nun bedrohlich, und aus seinen Augen war alle Freundlichkeit verschwunden.
»Kannte er ihn denn?«
»Wie gesagt, eine lange Geschichte, die ich jetzt nicht erzählen will. Im Moment muss Ihnen reichen, dass Knud nichts von der Familie Hoven hören sollte. Lassen Sie, um Himmels willen, den armen Kerl damit in Ruhe!«