Tom Vaks hatte ganz geheimnisvoll getan, als er Lisa am Nachmittag anrief und für den Abend neue Informationen versprach. Auf ihre neugierige Nachfrage hatte er nur gemeint, eine der Informationen habe ihn ziemlich wütend gemacht.
Entsprechend gespannt warteten sie und Fred abends auf das Eintreffen des Anwalt. Fred hatte eine Kleinigkeit gekocht, und Vaks erwies sich als zu hungrig, um ihnen noch vor dem Essen alles zu erzählen. Aber kaum waren die Teller geleert, berichtete er.
»Sie sollten morgen unbedingt meine Mitarbeiterin in Kopenhagen treffen. Sie ist auf einige Informationen gestoßen, die den Tod von Ægir Hoven möglicherweise in einem anderen Licht erscheinen lassen. Würde es Ihnen morgen Vormittag passen?«
»Ja, klar. Worum geht’s denn?«
»Das meiste wird Ihnen meine Mitarbeiterin erzählen. Warten Sie, ich schreib ihr nur kurz eine Nachricht.«
Er zückte sein Handy.
»Ginge es um elf Uhr?«
Lisa nickte, Vaks tippte und steckte das Smartphone wieder weg.
»Was ich Ihnen jetzt schon sagen kann: Dass Ægir Hoven ermordet wurde, ist nun sehr viel wahrscheinlicher – und sein Tod hat möglicherweise mit Ereignissen zu tun, die derzeit ganz Kopenhagen in Aufruhr versetzen. Vielleicht haben Sie schon davon gelesen. In der Hauptstadt soll ein regelrechter Bandenkrieg im Gange sein.«
Lisa seufzte. »Ich habe auf unserer Anreise tatsächlich in der Zeitung etwas darüber gelesen, und da waren Fred Hamann und ich noch heilfroh, dass wir in Lolland recherchieren sollen und nichts mit den Morden in Kopenhagen zu tun haben werden.«
Vaks grinste. »Zu früh gefreut, Frau Langer. Ist Ihnen die Sache nun zu heiß?«
»Vernünftiger wäre es ganz sicher, wenn ich von der Sache mit Herrn Hovens Erbe jetzt die Finger lassen würde – aber ich fürchte, so vernünftig bin ich nicht.«
»Gut«, warf Fred ein.
»Mir wird es hier allmählich etwas zu hyggelig«, fuhr Lisa fort und kam auf die Bemerkung des Anwalts am Telefon zu sprechen: »Aber was an der Sache macht Sie so wütend?«
»Da muss ich allerdings kurz ausholen. Wir haben uns doch gestern Vormittag über diesen Knud Aalstrup unterhalten, der mit seinem Geschrei die Abendruhe stört. Inzwischen weiß ich, dass ihm vor einigen Jahren übel mitgespielt wurde. Seine Eltern hatten einen gut gehenden Bauernhof etwas außerhalb von Kettinge, einem Dorf ganz in der Nähe. Der Familie gehörten Wiesen und Felder bis rüber nach Errindlev. Die Eltern übergaben den Hof ihrem einzigen Sohn Knud, der sich als Bauer in allen praktischen Dingen recht geschickt anstellte. Er kam mit den Maschinen zurecht und verstand sich gut auf Pflege und Nutzung seines Bodens. Nur war er wohl nicht die hellste Kerze auf dem Geburtstagskuchen, wenn ich es mal so ausdrücken darf. Eine Firma von außerhalb hat ihn über den Tisch gezogen – leider weiß ich noch nichts Näheres darüber, nur so viel, dass er auf diese Firma reingefallen ist und am Ende den Hof verloren hat. Danach hat er angefangen zu saufen. Das hat er inzwischen wieder im Griff, heißt es – außer, wenn er zusammen mit dem alten Fischer versumpft, wie vorgestern.«
Aus großer Entfernung wehte der Abendwind nun wieder einen Schrei heran, und Vaks verstummte. Fred löschte das Licht im Ferienhaus, und schweigend beobachteten sie Knud, wie er seine Runde drehte und schließlich nach gut zwanzig Minuten in dem Wäldchen verschwand, das sich an die Ferienhausanlage anschloss.
»Armer Kerl«, brummte Vaks. »Ich hätte gute Lust, ihn als Anwalt zu vertreten, wenn ich irgendetwas herausfinde, wogegen sich heute noch rechtlich etwas unternehmen lässt …«
»Sie sind gut als Anwalt, oder?«
Vaks lächelte.
»Falls ich das selbst von mir sagen darf: Ja. Das führt dazu, dass ich mir meine Mandanten mehr oder weniger frei auswählen kann.« Seine Miene verfinsterte sich. »Und manchmal treffe ich dabei offenbar nicht die beste Entscheidung.«
»Beziehen Sie das auf Jens Hoven?«
»Ja. Ich konnte bisher nicht in Erfahrung bringen, wie die Firma hieß, die Knud Aalstrup übers Ohr gehauen hat, aber das finde ich noch heraus. Damals hat vor allem Ægir Hoven Land im Süden von Lolland aufgekauft, und ich könnte mir gut vorstellen, dass er dafür nicht immer die Firma HovInvest genutzt hat, sondern das manchmal auch über Strohmänner laufen ließ oder über Firmen, an denen er eher verdeckt beteiligt war. Das würde auch zu meinem Verdacht passen, dass er Geld gewaschen hat. Ich bin also nach Hovenborg gefahren, um meinen Mandanten direkt darauf anzusprechen, ob er vielleicht doch etwas über das Schicksal von Aalstrup wisse – und ob darin vielleicht auch sein Onkel verwickelt war. Immerhin könnten die Drohungen gegen Herrn Hoven auch aus dieser Richtung kommen. Aber er war leider nicht zu Hause.«
»Und was hat Sie daran so wütend gemacht?«
»Sein Butler öffnete mir und erklärte, dass der Hausherr leider nicht anwesend sei. Also nutzte ich die Gelegenheit, um mich bei Richard über die Vergangenheit von Knud Aalstrup zu erkundigen. Man weiß ja nie. Und stellen Sie sich vor, er hat mir erzählt, dass er Knud seit Jahren kennt. Er kommt ursprünglich aus Kettinge und hat dort zu einer Zeit gelebt, in der Knud noch den Bauernhof seiner Eltern bewirtschaftete. Als ich ihn fragte, ob er mehr über die Ereignisse wisse, durch die Aalstrup mittellos wurde, zögerte er erst und meinte dann, dass ich dazu lieber Herrn Hoven selbst befragen solle.«
»Der aber Ihnen gegenüber behauptet hat, Knud gar nicht zu kennen.«
»Genau. Das habe ich so auch dem Butler gesagt, worauf der erst einmal sprachlos war – und dann, das war jedenfalls mein Eindruck, offenbar so zornig wurde, dass es ihn erkennbar Mühe kostete, seine Haltung zu wahren. Er bat mich, einen Moment zu warten, und verschwand im Haus. Keine fünf Minuten später stand er wieder vor mir und drückte mir einen USB-Stick in die Hand. ›Den haben Sie natürlich nicht von mir‹, sagte er noch und verabschiedete mich.«
»Und was befindet sich auf dem Stick?«
»Eine einzige Datei, ein Video – das kann ich Ihnen zeigen. Ich hab’s gleich in meine Cloud hochgeladen, für alle Fälle.«
Vaks zückte wieder sein Handy und startete einen kleinen Film. Es war dieselbe Szenerie, die ihnen Jens Hoven auf einem USB-Stick mitgegeben hatte, aber es waren nicht dieselben Bilder. Auch hier war Hoven zu sehen, wie er in seiner Bibliothek zwei Schlägertypen gegenüberstand, aber hier hatte einer der beiden Muskelprotze einige Unterlagen in der Hand, die er Hoven so hinhielt, als solle der sie lesen. Vaks stoppte das Video an einer Stelle, an der das Dokument leidlich gut zu erkennen war, und zoomte es heran.
Zu sehen war ein Deckblatt, das mit weiteren Seiten zusammengeheftet war. Durch das Vergrößern wurde das Bild etwas unscharf, aber trotzdem war die Überschrift des Deckblatts gut zu lesen: Testamente stand dort.
Soweit man den Text entziffern konnte, handelte es sich um das Vermächtnis von Ægir Hoven. Der Name des Erben war mit einem Post-it-Zettel überklebt, aber die letzte Adresszeile war lesbar, sie lautete 2300 København.
»Ægir Hoven hat in seinem Testament offenbar jemanden bedacht, der im Postleitzahlenbereich 2300 gemeldet ist«, erklärte Vaks. »Und da die beiden Schläger dieses Testament dabeihaben und es meinem Mandanten zeigen, soll es vermutlich die Ansprüche ihres Auftraggebers untermauern.«
»Das Testament könnte eine Fälschung sein«, gab Lisa zu bedenken.
»Natürlich, und das lässt sich allein anhand des Videos nicht feststellen, aber ich hätte von Herrn Hoven schon erwartet, dass er mir von einem solchen Testament erzählt, ob gefälscht oder echt. Ich muss und will loyal zu meinen Mandanten stehen – aber das muss selbstverständlich auch im Gegenzug gelten.«
»Nehmen wir mal an, das Testament ist echt: Warum schickt der Erbe dann seine Handlanger und versucht, das Geld von Jens Hoven zu erpressen – anstatt das Testament einfach dem Nachlassverwalter vorzulegen?«
»Das könnte dafür sprechen, dass es gefälscht ist. Oder die Person, die hier bedacht wird, hat Dreck am Stecken und möchte nicht offiziell mit dem Erbe von Ægir Hoven in Verbindung gebracht werden. Falls sich mein Mandant darauf einlässt, das geforderte Geld zu bezahlen, ginge das natürlich etwas diskreter vor sich. Vermutlich stellen die achtundzwanzig Millionen, die der Chef dieser Schläger verlangt, nur einen Teil des Vermögens dar, das Ægir Hoven hinterlassen hat – vielleicht wurde die Erbschaftssteuer schon abgezogen, vielleicht wurde auch ein Anteil für meinen Mandanten mit eingepreist.«
»Wollen Sie Herrn Hoven auf das Testament ansprechen?«
»Das ist schwierig. Von wem außer von Richard sollte ich diesen Film zugespielt bekommen haben? Ich lass mir mal von einem Computerfreak, den ich kenne, erklären, ob man sich irgendwie in die Videoanlage von Hovenborg reinhacken kann. Oder besser in den dortigen Netzwerkserver, denn vermutlich bleiben die Videos nicht allzu lange im Videosystem, sondern werden auf eine Festplatte überspielt. Oder mir fällt etwas anderes ein, wie ich an den Stick mit dem Film gelangt sein kann. Den Butler will ich jedenfalls nicht verraten – vielleicht hat er noch mehr Informationen zu bieten.«
»Den Stick mit dem brisanten Filmausschnitt hat er Ihnen vermutlich zugesteckt, weil er vom Verhalten seines Chefs so enttäuscht war, dass er sich in diesem Punkt nicht mehr an seine Loyalität Herrn Hoven gegenüber gebunden fühlte«, sagte Fred. »Aber ich frage mich, warum der Butler diese Szene kannte und auf einen Datenstick kopiert hat. Und warum hat Ihnen Jens Hoven nicht von sich aus von dem Testament erzählt?«
Der Anwalt nickte. »Das wüsste ich auch gern.«
Der Rollstuhl stand im Dunkeln am Wegesrand, und der alte Mann musste sich recken, so gut es ging, um beobachten zu können, wie der Anwalt das Ferienhaus der beiden Deutschen verließ und auf ein anderes Häuschen zuhielt, in dem er schließlich verschwand. Eine Zeit lang blieb er noch reglos sitzen, dann wandte er sich zu dem elegant gekleideten Mann, der neben ihm stand.
»Vaks mischt also auch mit. Meinst du, wir sollen ihn im Blick behalten?«
Der andere zuckte mit den Schultern.
»Ich würde gern wissen, wie viel der Anwalt weiß«, fuhr der Alte fort. »Ich habe gehört, dass er seine kleine Schnüfflerin in Kopenhagen hat herumfragen lassen. Er scheint zu glauben, dass einige der jüngsten Morde mit der Erbschaft von Ægir Hoven zu tun haben.«
»Dann wird er die beiden Deutschen nach Kopenhagen mitnehmen, oder, Chef?«
»Das ist anzunehmen.«
Der Alte packte die Metallringe an den Rädern des Rollstuhls, schwang das Gefährt so weit herum, dass er den anderen vor sich hatte.
»Sag Albert, dass er sich um Vaks und die Deutschen kümmern soll«, wies er den Mann an. »Und sobald die in Kopenhagen aufkreuzen, sollen diese kleinen Schläger sich um sie kümmern.«
»Aber …«
»Mach’s einfach. Ich weiß, dass du von Albert nicht viel hältst, aber das wird er ja wohl noch hinbekommen.«
»Und diese Kids …«
»Ja, auch denen traust du nicht viel zu, ich weiß. Aber mit einem geschniegelten Anwalt und zwei Touristen werden sie doch fertig werden, oder?«
Das zweifelnde Gesicht des Jüngeren quittierte der Alte mit einem breiten Grinsen.
»Jetzt ruf Albert an, ich bleib noch kurz hier.«
Der Jüngere hatte noch keine drei Schritte gemacht, als ihn der Alte noch einmal ansprach: »Und versuch mal was rauszubekommen über diesen Kerl, der da am Uferweg entlangläuft und in die Nacht hinausschreit.«
Tom Vaks war am frühen Freitagmorgen nach Kopenhagen aufgebrochen. Lisa und Fred folgten ihm gegen neun Uhr und erreichten ihr Ziel trotz des dichten Verkehrs um kurz vor elf. Vaks hatte ihnen die Adresse eines Lokals in der Nähe von Schloss Rosenborg geschickt, in dem er einen Tisch für vier Personen reserviert hatte. Fred fand sogar einen Parkplatz direkt in der Straße, wo sich das Lokal befand, und nach wenigen Schritten standen sie an der angegebenen Adresse vor einer steilen Steintreppe, die ins Untergeschoss hinunterführte. Café & Øl-Halle 1892, stand über dem niedrigen Eingang, und als sie die braune Holztür aufdrückten, sahen sie einen gemütlich eingerichteten Gastraum. An einem Tisch in der Ecke saß Tom Vaks mit einer Frau, die selbst im Sitzen sportlich wirkte. Als sich der Anwalt erhob, um seine Gäste zu begrüßen, stand auch sie auf und musterte die beiden Neuankömmlinge aufmerksam, aber nicht unfreundlich. Lisa schätzte sie auf Ende dreißig.
»Darf ich vorstellen: Mette Bødtger, Privatdetektivin, meine beste Mitarbeiterin. Und das sind Lisa Langer und Fred Hamann.«
Mette Bødtger hatte einen festen Händedruck. Ihr sympathisches Gesicht wurde von raspelkurzen hellblonden Haaren eingerahmt, und die Unterarme, die das Dreiviertelshirt freigab, waren mit Tätowierungen bedeckt.
Vaks deutete auf einen Teller mit üppig belegten Sandwiches, der in der Mitte des Tisches stand.
»Ich habe mir erlaubt, eine kleine Auswahl zusammenstellen zu lassen. Nehmen Sie, bitte! In meinen Augen ist das hier die beste Adresse für Smørrebrød in ganz Kopenhagen. Sie können sich natürlich auch gern selbst am Büfett bedienen. Schmeckt alles sensationell!«
Vaks deutete auf einen langen Tisch am anderen Ende des Gastraums, auf dem sich zahlreiche kleine Teller mit den unterschiedlichsten Variationen der dänischen Spezialität reihten. Das sah wirklich sehr lecker aus.
»Außerdem gibt es ganz wunderbares Bier«, fuhr der Anwalt fort. »Wenn ich Ihnen eines empfehlen darf?«
Er durfte, und wenig später standen vier volle Gläser vor ihnen. Sie stießen miteinander an und griffen tüchtig zu.
»Gut, dann will ich Ihnen mal schildern, worauf ich gestoßen bin«, ergriff Mette Bødtger das Wort. »Herr Vaks hat Ihnen sicher schon angedeutet, dass ich gewisse Verbindungen zwischen Ægir Hoven und einigen Todesfällen entdeckt habe, die in letzter Zeit die Hauptstadt erschütterte haben. Hoven war mit seinen Geschäften vielseitig engagiert. Wenn er nicht gerade in Roskilde oder Nysted war, lebte er in einem schicken Penthouse in Teglholmen hier in Kopenhagen. Seine Nachbarn haben ihn praktisch nie zu Gesicht bekommen, er ist mit dem Wagen in die Tiefgarage gefahren und danach mit dem Lift ins Apartment. Vielleicht hat er sich auch deshalb keines der hübschen Häuschen in Nyhavn gekauft, das er sich ganz sicher hätte leisten können. In Teglholmen kann man nämlich anonymer leben, wenn man darauf Wert legt. Zum Beispiel, um diskret irgendwelche Geschäftspartner zu empfangen.«
Lisa war gespannt, ob das nur so dahingesagt war oder ob die Privatdetektivin ihre Bemerkung würde untermauern können. Tatsächlich zog sie vier Fotos aus der Innentasche ihrer Jacke, die über der Stuhllehne hing. Zu sehen war auf jedem Foto ein Mann, keiner von ihnen sah besonders vertrauenerweckend aus, und das Alter der Personen schien von Ende dreißig bis Anfang siebzig zu reichen. Mette Bødtger deutete auf das erste Gesicht.
»Anders Jensen war zweiundfünfzig Jahre alt, als er eines Nachts Ende April vor einer Bar in der Fußgängerzone Strøget nur siebenhundert Meter Luftlinie von hier niedergestochen wurde und noch am Tatort starb. Die Polizei hatte ihn als Hehler und Drogenhändler im Visier, konnte ihm aber nie etwas anhängen.«
Der Mann auf dem zweiten Foto hieß Finn Thonning.
»Er wurde Anfang Mai von einem Van überfahren, als er drüben in Christianshavn eine Straße überqueren wollte. Thonning war sofort tot, der Van fuhr einfach weiter, und keiner der Passanten hatte sich das Kennzeichen gemerkt oder konnte der Polizei mehr über den Wagen sagen, als dass er groß und schwarz war und getönte Scheiben hatte. Thonning stand unter dem Verdacht, in halb Kopenhagen Schutzgelder von Ladeninhabern zu kassieren – auch ihm konnte nie etwas nachgewiesen werden.«
Der dritte Mann wurde von allen »Speedy« Olsen genannt.
»Er machte zeitlebens ein großes Geheimnis um seinen richtigen Vornamen, und jetzt muss das auch keiner mehr wissen. Olsen wurde Mitte Mai auf dem Gelände eines Bootsverleihs auf der Insel Refshaleøen gefunden. Er lag an Deck eines Motorboots, irgendjemand hatte ihm eine Kugel durch die Stirn gejagt. Er starb mit vierundvierzig Jahren und war bis dahin einer der gefragtesten Fahrer der Kopenhagener Unterwelt.«
Komplettiert wurde das Quartett durch Henrik Halsman, einen honorig wirkenden Herrn von zweiundsiebzig Jahren.
»Das war einer der Paten in Kopenhagen«, erklärte Mette Bødtger. »Nach außen gab er den ehrlichen Geschäftsmann, einen Patriarchen, der sich noch für den geringsten seiner Mitarbeiter einsetzte, wenn der es nötig hatte. In Wirklichkeit hatte er bei vielen illegalen Dingen seine Finger im Spiel – vorausgesetzt, die Geschichte lohnte sich für ihn. Er kümmerte sich besonders um die Mitarbeiter, die seiner Meinung nach sein Vertrauen missbraucht hatten. Sein Markenzeichen waren Verletzungen am Hals − wahrscheinlich gefiel ihm der Bezug zu seinem Namen. Entweder wurde seinen Opfern die Kehle durchgeschnitten, oder sie wurden mit einer Drahtschlinge erwürgt. Das machte er natürlich in den seltensten Fällen selbst, sondern schickte seine engsten Handlanger los. Die nannten sich übrigens nicht ohne Stolz ›Halsmændene‹, also die Halsmänner. Halsman ist bisher das prominenteste Opfer des Bandenkriegs. Seine Leiche wurde vor vierzehn Tagen nahe der Anlegestelle in Nyhavn im Wasser entdeckt. Wo er getötet wurde, weiß die Polizei noch nicht, aber er starb stilecht: Ihm wurde die Kehle durchgeschnitten.«
Mette Bødtger lehnte sich zurück.
»Vom fünften Opfer, das eine Verbindung zu Ægir Hoven hatte, habe ich kein Foto, aber vielleicht haben Sie von seinem Tod in der Zeitung gelesen. Steen Egeberg war Ende vierzig und lag erstochen auf der Zufahrt zu einer Motocross-Anlage im Süden der Stadt. Er war in der hiesigen Unterwelt ein kleines Licht, saß ab und zu wegen Messerstechereien, Drogenhandel und Körperverletzung hinter Gittern. Und er wird einer Bande zugerechnet, die mit den Halsmännern konkurrierte.«
»Und was sind die jeweiligen Beziehungen zu Ægir Hoven?«
»Beginnen wir mit Halsman. Eine von seinen Firmen war an einem Unternehmen namens FremTids ApS in Roskilde beteiligt, die mehrheitlich Ægir Hovens Firma HovInvest gehört. FremTids hat in ganz Dänemark alte Hotels und Gasthöfe aufgekauft, umgebaut und unter neuer Leitung weiterbetrieben – rund um die größeren Städte oft als Pensionen für Monteure, anderswo im Land vorübergehend auch als Flüchtlingsunterkünfte. Speedy Olsen hat vor einigen Jahren als persönlicher Fahrer von Halsman gearbeitet, sich dann aber selbstständig gemacht – aber er hatte auch danach noch Aufträge von Halsman und möglicherweise auch von Hoven. Jedenfalls wurde er einmal auf der Landstraße von Nysted nach Rødby geblitzt. Und von einem alten Bekannten habe ich erfahren, dass sein Wagen, ein schwarzer BMW X7, ab und zu in der Nähe von Ægir Hovens Haus in Nysted im Parkverbot stand, dass die Knöllchen, die er manchmal dafür bekam, aber stets von einem Firmenkonto bezahlt wurden – mal von der HovInvest, mal von FremTids.«
»Dann haben wir also einen Strippenzieher, der mit Ægir Hoven Geschäfte machte, und einen Fahrer, der vermutlich auch für Hoven unterwegs war«, fasste Fred auf Deutsch zusammen. »Wie passen der Schutzgelderpresser, der Hehler und der Kleinkriminelle von der Motocross-Anlage in dieses Bild?«
Lisa übersetzte für die beiden anderen.
»Thonning hat zwar Schutzgelder eingetrieben«, antwortete Vaks, »aber das hat er angeblich nicht auf eigene Rechnung gemacht. So ganz sicher war man sich nicht, für wen er kassiert hat. Manche vermuteten Halsman als seinen Boss, andere tippten eher auf einen Typen namens Vito – über den ich aber bisher so gut wie nichts in Erfahrung bringen konnte. Thonning war allerdings nicht ganz blöd. Es wäre also auch möglich, dass er die Schutzgelder selbst eingesteckt und diesen Vito als Hintermann nur erfunden hat, um sich in der Szene kleiner und unwichtiger zu machen, als er war. Es kann manchmal nicht schaden, wenn man unter dem Radar der richtig gefährlichen Typen bleibt.«
»Und die Verbindung zu Hoven?«, fragte Lisa.
»Wenn er das Geld für Halsman eintrieb, ist der ein Bindeglied. Außerdem wollte Thonning auch mal in einem Bistro in Teglholmen kassieren, in dem Hoven verkehrte – das Bistro befindet sich im selben Häuserblock wie Hovens Penthouse. Es gibt Augenzeugen, die gesehen haben wollen, wie Thonning eines Tages im Bistro stand und der Wirtin einen Umschlag mit Geld überreicht hat. Dabei soll er sich entschuldigt haben. Für mich klingt das eher so, als hätte er Schutzgeld abkassiert und später erfahren, dass er das besser hätte bleiben lassen. Kann natürlich alles auch Zufall gewesen sein.«
Die Privatdetektivin grinste. Es war klar, für wie wahrscheinlich sie das hielt.
»Anders Jensen war mal in einen Drogendeal involviert, bei dem auch ein Frachtschiff eine Rolle spielte, das zu diesem Zeitpunkt HovInvest gehörte. Jensen konnte sich, wie ich mir sagen ließ, wohl gerade noch rechtzeitig aus der Geschichte zurückziehen, um nicht belangt zu werden. Unter den vier Ganoven, die zu blöd waren, um rechtzeitig auszusteigen, war auch Steen Egeberg, der Tote von der Motocross-Anlage.«
»Gibt es irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen diesen Morden?«, fragte Fred, und Lisa übersetzte wieder. »Könnte es derselbe Täter gewesen sein? Gibt es Übereinstimmungen in Details – Tatzeiten, Indizien, irgendwelche Symbole, die am Tatort zurückgelassen wurden?«
»Bis auf den Van, der Thonning totfuhr, war die Tatwaffe jedes Mal ein Messer – aber es scheint kein besonders auffälliges Messer zu sein, das etwa in mehreren Morden eingesetzt worden wäre. Halsman wurde die Kehle aufgeschlitzt, so, wie er es immer bei seinen Opfern in Auftrag gab – aber überfahren wurde der Schutzgelderpresser und nicht der Chauffeur. Es wurden durch die Morde also auch nicht durchgängig Symbole gesetzt.«
Lisa nickte anerkennend. »Sie sprachen vorhin von einem regelrechten Bandenkrieg, der zurzeit in Kopenhagen tobt. Kann es auch sein, dass die Toten einfach Opfer diverser rivalisierender Gangs geworden sind und dass die Bezüge zu Ægir Hoven letztlich gar nichts zu bedeuten haben?«
»Auch das ist möglich. Außerdem könnte es sein, dass einer oder mehrere der Mörder auch unter den Opfern sind – wenn zum Beispiel Speedy Olsen in seinem schwarzen BMW-Van Finn Thonning überfahren hätte und später etwa das Opfer von Steen Egeberg geworden wäre. Genauso gut könnte es sein, dass der zweite Mord den ersten rächen sollte, und so weiter. Das geht seit einiger Zeit hin und her hier in der Stadt – und ich habe Ihnen nur Infos zu den fünf Toten gegeben, für die ich Verbindungen zu Ægir Hoven nachweisen kann. Es gab einige Opfer mehr, und die Polizei tappt immer noch im Dunkeln, was es mit diesem Bandenkrieg auf sich hat und was ihn ausgelöst haben könnte.«
Nach dem Gespräch hatte sich jeder Nachschub vom Büfett geholt, Vaks spendierte allen noch einen Espresso, und dann brachen sie auf. Mette Bødtger schwang sich elegant auf ihr Fahrrad und winkte den anderen noch einmal zu, bevor sie davonfuhr.
»Ich nehme Sie mit und zeige Ihnen, wo die Leichen der Männer gefunden wurden, von denen Mette erzählt hat«, sagte Vaks und deutete auf eine noble Limousine, die nur ein paar Meter entfernt geparkt war. »Es kann nicht schaden, wenn wir möglichst viel über diese Todesfälle wissen.«
Er schloss den Wagen auf.
»Und wenn Sie häufiger in die Stadt kommen, kann ich Ihnen gern zwei Fahrräder bereitstellen. Damit kommt man vor allem in der Innenstadt am schnellsten durch.«
Er stieg ins Auto, Fred schob sich auf den Rücksitz und überließ Lisa den Beifahrerplatz. Vaks kurvte geschickt und zügig mit ihnen durch Kopenhagen. Er stellte seinen Wagen in der Nähe der Fußgängerzone ab und ging mit ihnen zu der Bar, vor der Anders Jensen niedergestochen wurde. Er zeigte ihnen die Straßenecke, an der ein schwarzer Van Finn Thonning überfahren hatte. Im Süden Kopenhagens sahen sie sich die Motocross-Anlage an, wo Steen Egeberg erstochen aufgefunden worden war. Schließlich fuhr Vaks wieder in die Innenstadt und stellte seinen Wagen in einer Tiefgarage am Hafen ab. Kurz darauf standen sie an einem Seitenkanal, der von schmalen, in verschiedenen Farben getünchten Häusern gesäumt war. Lisa kannte das Motiv: Nyhavn war Kopenhagener Idylle pur. Überall standen Touristen und machten Fotos, auf dem Wasser des Kanals schaukelten Kutter und Segelboote, und unter den Markisen der Restaurants war kaum noch ein Sitzplatz frei.
»So schön hatte es der Leichnam von Henrik Halsman«, bemerkte Vaks trocken und deutete zwischen zwei nebeneinander vertäuten Segelbooten aufs Wasser. »Dort wurde er gefunden. Die Polizei hat sich große Mühe gegeben, die Leiche so unauffällig wie möglich zu bergen.«
Vaks schwieg einen Moment, dann klatschte er in die Hände, sah Lisa und Fred auffordernd an und sagte: »Und nun unternehmen wir eine kleine Bootsfahrt.«
Er führte sie am Kanal entlang bis zum Fähranleger, wo die »Havnebusser« hielten, und bestieg mit ihnen das nächste Schiff in Richtung Norden. Ihr Ziel war die Insel Refshaleøen, wo Speedy Olsen tot in einem Motorboot gelegen hatte. Außerdem wollte Vaks ihnen den Streetfood-Markt Reffen zeigen.
Der smarte Anwalt, den der untersetzte Mann mit den langen rotblonden Haaren vom Parkhaus hierher verfolgt hatte, sprach laut, damit ihn die schlanke Frau und der groß gewachsene Mann, die ihn begleiteten, trotz des Gewimmels verstanden. Das machte es dem Rotblonden leicht, ihr nächstes Ziel zu erfahren, ohne ihnen allzu sehr auf die Pelle rücken zu müssen. Und weil sie sich um nichts in ihrer Umgebung gekümmert hatten, war es ihm sogar möglich gewesen, alle drei unauffällig mit dem Smartphone zu fotografieren.
Er hatte mitbekommen, dass die drei mit dem Hafenbus zur Insel Refshaleøen fahren wollten. Ein Stück von der Anlegestelle entfernt blieb er stehen, wartete, bis sich die drei in die Schlange der Wartenden eingereiht hatten, und rief auf dem Handy einen gespeicherten Kontakt auf.
»Ja, die kommen jetzt«, sagte er mit einer überraschend hohen Stimme. »Wo bist du? Am Jacht-Center? Das ist gut. Die schauen sich die Stelle an, wo Speedy gelegen hat, genau, wie wir es uns gedacht haben. Ich schick dir Fotos, damit du sie auch erkennst. Und danach wollen Sie zum Reffen. Was? Ja, ich hab auch Hunger, aber wenn der Chef sagt, dass wir … Was? Ach, mach doch, was du willst!«
Er drückte das Gespräch weg und stapfte wütend davon.
Auf einem der alten Segelboote, die dicht nebeneinander am Kai von Nyhavn vertäut waren, hatte sich inzwischen ein älterer Mann erhoben. Er hatte im Heck des Bootes gelegen und auf Außenstehende gewirkt wie ein alter Fischer, der ein Nickerchen in der Mittagssonne genießt – doch unterhalb der zerschlissenen Schirmmütze hatten zwei wache Augen alles verfolgt, was der smarte Typ im maßgeschneiderten Anzug seinen beiden Begleitern erzählt hatte. Er hatte ihnen gezeigt, wo der tote Halsman gefunden worden war. Danach war von einer »Bootstour« die Rede gewesen – ob es wohl zur Refshaleøen gehen würde, wo die Leiche von Speedy Olsen gelegen hatte?
Den Mann im Anzug hatte er schon ein paarmal gesehen, auch wenn er nicht mehr wusste, wie er hieß. Aber er wusste, wen er nach dem Namen des Mannes fragen musste.
Nach dem Namen des rothaarigen Halunken, der die drei beobachtet hatte und ihnen zur Anlegestelle gefolgt war, musste er nicht fragen. Kjeld Pedersen hatte er schon seit Jahren im Blick, und wenn der untersetzte Kerl an der Anlegestelle sein Handy gezückt hatte, was vom Boot aus nicht zu erkennen war, dann hatte sich am anderen Ende der Leitung ziemlich sicher Benny gemeldet. Es war klar, wo Benny auf das Trio warten würde. Nur: Was hatte er dort mit ihnen vor? Wollte er sie nur weiter beobachten – oder hatte er anderes im Sinn?
Doch darüber konnte er sich noch den Kopf zerbrechen, wenn er zur Insel unterwegs war. Der Alte tauchte den Außenbordmotor ins Wasser, löste die Taue, tuckerte den Kanal entlang und nahm Kurs auf die Insel, die Speedy Olsen nicht mehr lebend verlassen hatte. Als der Weg nach Refshaleøen frei vor ihm lag, holte er das Handy aus der Tasche und wählte eine gespeicherte Nummer. Eine Frauenstimme meldete sich.
»Mette«, sagte der Alte, »du solltest schnell zu Speedys Fundort fahren.«