Fast wäre Fred aus dem Gebüsch gesprungen, in dem er, Lisa und Tom Vaks sich versteckt hatten, um Bjarne Toft vor den beiden Jungs zu beschützen, aber dann war er doch froh, dass er sich zurückgehalten hatte. Dieser Arzt musste einigen Einfluss in der Kopenhagener Unterwelt haben, wenn er allein mit Worten dafür sorgen konnte, dass diese Hitzköpfe Bjarne Toft unbehelligt gehen ließen.
Im Gegensatz zum Krimiautor hatte Fred kein großes Vertrauen in den Arzt gehabt. Deshalb hatten er und Tom Vaks beschlossen, Bjarne Toft zu beschatten und notfalls einzugreifen, und Lisa hatte darauf bestanden, sie zu begleiten. Sie hatten auf einem weiter östlich gelegenen Weg den See deutlich vor Bjarne erreicht. Aus sicherer Entfernung hatten sie Henrik Jacobson beobachtet, der sich am Ufer im Unterholz verbarg. Dann hatten sie die nähere Umgebung erkundet und dabei auf dem Parkplatz Malte und Rasmus entdeckt, die gerade aus einem Auto stiegen. Lisa, Fred und Tom Vaks versteckten sich und ließen die beiden jungen Männer vorbeigehen. Dann huschte Fred zu deren Wagen und brachte den Peilsender an, den er eigentlich für das Auto des Arztes vorgesehen hatte. Schließlich hatten Vaks und er sich eine Stelle gesucht, von der aus sie mitverfolgen konnten, wie Bjarne Toft und Henrik Jacobson sich unterhielten. Sie hatten beobachtet, wie Rasmus und Malte dazustießen, und hatten zum Glück nicht eingreifen müssen.
Um den Unterschlupf der beiden Burschen ausfindig zu machen, konnten Lisa, Fred und Tom Vaks nun in aller Ruhe zur Motocross-Anlage zurückkehren und dann mit dem Wagen zu dem Standort fahren, den die App auf Freds Handy ihnen anhand des Peilsenders anzeigte. Malte und sein Kumpan würden ihr Auto ja höchstwahrscheinlich neben dem Unterschlupf der kleinen Bande parken.
Die drei machten sich auf den Weg. Nach einer Viertelstunde zeigte die App auf Freds Handy an, dass sich der Peilsender in unmittelbarer Nähe befinden musste. Linker Hand zweigte ein schmaler Weg ab, der auf das Gelände einer Autowerkstatt führte. Dort standen einige Fahrzeuge, darunter auch der Wagen, mit dem Malte und Rasmus unterwegs gewesen waren. Vaks fuhr noch ein kleines Stück, passierte eine Limousine und drei Motorräder und stellte sein Auto zwanzig Meter weiter auf einem freien Parkplatz am Straßenrand ab.
An das Gelände der Autowerkstatt schloss sich ein Pferdehof an. Fred, Lisa und Tom Vaks gingen an den Koppeln des Hofs entlang und blieben dann stehen. Von hier aus sahen sie in einiger Entfernung eine windschiefe Hütte, die am hinteren Ende des Werkstattareals stand.
Gerade wollte Tom Vaks auf die Hütte zugehen, als Fred und Lisa ihn zurückhielten, denn sie hatten auf halbem Weg zwischen ihnen und ihrem Ziel eine Bewegung bemerkt. Die drei duckten sich hinter einen Busch und beobachteten einen Mann im Anzug, der aus dem Schatten einer Baumreihe trat. Auf ein Zeichen hin folgten ihm drei Männer in Rockerkluft. Sie standen eine Weile zusammen, und der Anzugträger schien ihnen irgendwelche Anweisungen zu geben. Er blieb stehen, während die drei Rocker auf die Hütte zugingen und sie auf ein Zeichen von ihm stürmten.
Die drei Beobachter saßen in ihrem Versteck, bis der Mann an ihnen vorbeigegangen war. Dann folgten sie ihm in sicherem Abstand und sahen, wie der Anzugträger in die Limousine stieg, neben der die drei Motorräder standen. Der Mann fuhr recht sportlich los und bog nach rechts in die nächstgrößere Straße ein. Lisa, Fred und Tom Vaks eilten zu ihrem Wagen und nahmen die Verfolgung auf.
Dass der Mann, der gerade drei Rocker in die Hütte von Malte und seinen Leuten geschickt hatte, in die Kopenhagener Innenstadt wollte, war relativ schnell klar gewesen. Als die Limousine, zu der sie immer ausreichend Abstand hielten, aber in die Egilsgade einbog, staunte Tom Vaks nicht schlecht.
»Will der zu mir?«, dachte er laut, und auf Lisas fragenden Blick hin zeigte er auf ein Gebäude, das auf der rechten Straßenseite lag. »Dort habe ich meine Kanzlei und meine Wohnung.«
Doch die Limousine hielt am linken Straßenrand in zweiter Reihe, die Warnblinkanlage wurde eingeschaltet, und dann verließ der Mann im Anzug sein Fahrzeug ohne ersichtliche Eile. Tom Vaks fuhr langsam heran und passierte das Auto, während Fred und Lisa durch das Seitenfenster und schließlich im Rückspiegel sahen, wie der Mann an der Haustür des nächstgelegenen Gebäudes stand und nach kurzem Warten eingelassen wurde. Der Anwalt rangierte den Wagen auf einen freien Parkplatz.
»Und jetzt?«, fragte Lisa.
»Jetzt gehen wir hoch in meine Kanzlei und schauen mal, ob wir von dort aus herausfinden können, in welche Wohnung der Typ mit dem schicken Anzug gegangen ist.«
Die Kanzlei lag im ersten Stock, und Vaks führte seine Begleiter in einen großen hellen Raum mit ausladendem Schreibtisch und gemütlicher Besprechungsecke.
»Warten Sie«, sagte er und lief ins Nebenzimmer, »ich müsste irgendwo ein Fernglas haben.«
Fred und Lisa stellten sich an eins der Fenster. Unter ihnen verlief die Egilsgade, und schräg vis-à-vis stand das Gebäude, in dem der andere verschwunden war. Sie suchten ein Fenster nach dem anderen ab, bis sie in einem Raum im zweiten Stock eine Silhouette entdeckten, die zu dem Gesuchten passen konnte. Es war keine zweite Person zu sehen, aber der stehende Mann schien mit jemandem zu sprechen.
»Hier, ich hab’s gefunden!«, rief Tom Vaks und hielt Lisa ein handliches Fernglas hin. Sie setzte es an. Der Mann gegenüber hatte kein Telefon in der Hand, also musste sich sein Gesprächspartner mit ihm im Raum befinden. Stand der Mann vor einem Sessel oder einer Couch und das Gegenüber saß?
»Wir können auch in meine Wohnung rauf«, schlug Tom Vaks vor, nachdem Lisa ihm das Fernglas gereicht und ihn auf das betreffende Fenster aufmerksam gemacht hatte. »Die ist ebenfalls im zweiten Stock, von dort aus sehen wir vielleicht auch seinen Gesprächspartner.«
Kurz darauf standen sie in einem modern und großzügig eingerichteten Wohnzimmer, und wirklich war von hier aus nicht nur der Anzugträger zu sehen, den sie verfolgt hatten, sondern auch ein Mann, der ihm gegenüber in einem Rollstuhl saß. Er hatte schütteres Haar und trug eine altmodische Brille und hörte dem Bericht seines Besuchers zu, ohne selbst etwas zu sagen. Nach einer Weile nickte der Rollstuhlfahrer bedächtig und reichte dem anderen die Hand. Damit war der Besucher offenbar verabschiedet. Er verließ den Raum und fuhr wenig später mit der Limousine weg. Der Mann im Rollstuhl wendete sein Gefährt und bewegte es direkt ans Fenster. Kurz zuckten Fred, Lisa und Tom Vaks zurück, aber der andere sah nicht zu ihnen her. Stattdessen hob er langsam den Kopf, ließ seinen Blick an dem Haus emporgleiten, das ihm direkt gegenüberstand, und schaute schließlich in den Himmel hinauf.
»Leider kommt mir der Mann überhaupt nicht bekannt vor, aber wir werden schon noch herausfinden, wie er heißt«, sagte Tom Vaks. »Ich habe jetzt jedenfalls Hunger. Was halten Sie davon, wenn ich Sie noch zu meinem Lieblingsitaliener einlade? Sie können danach gern bei mir übernachten, ich habe zwei Gästezimmer, dann müssen Sie nicht mehr mitten in der Nacht nach Nysted fahren.«
Fred und Lisa waren einverstanden. Tom Vaks rief die anderen an und lud sie ebenfalls zum Essen ein, doch Hansen und Larsen hatten keine Lust auf italienisches Essen, sondern wollten sich lieber auf Larsens Kutter Räucherfisch und Aquavit schmecken lassen. Als Bjarne Toft das hörte, hatte der Italiener auch bei ihm keine Chance mehr.
Erst zeigte Tom Vaks seinen beiden Gästen zwei schöne Zimmer, die auf einen großen Innenhof hinausgingen, legte ihnen Bettzeug bereit und erklärte, wo sie sich im Gästebad mit Handtüchern und Zahnbürsten eindecken konnten. Danach führte er sie zur Uferpromenade und schlenderte mit ihnen am Wasser entlang, während er ihnen einige der Gebäude am jenseitigen Ufer erklärte, das gedrungene Kongens Bryghus, die Königliche Bibliothek.
»Dort drüben in der alten Zuckerfabrik«, sagte Vaks und deutete auf einen großen Backsteinbau vor ihnen, »gibt es ein Bistro mit sehr leckerem Kaffee. Und ein Stück weiter hinten liegt die Freistadt Christiana.«
Wenig später gelangten sie in einen kleinen Park, durch den sich Spazierwege schlängelten. Vaks deutete auf die gewundene Uferlinie.
»Das war früher mal Teil der Befestigungsanlage von Christianshavn«, sagte er und lachte. »Dass das heute ein Park sein kann, ist ein gutes Zeichen, finden Sie nicht auch?«
Über einen schmalen Steg ging es schließlich wieder übers Wasser und dann eine Zeit lang auf einem Uferweg entlang, bis sie durch ein steinernes Portal traten, durch das sie einen kleinen Platz erreichten. Hier stand ein Haus, dessen Erdgeschoss stimmungsvoll beleuchtet war. Kaum hatten sie es betreten, war der Trubel einer abendlichen Großstadt verdrängt von der Atmosphäre eines gehobenen italienischen Ristorantes.
»Sie können gern die Speisekarte studieren«, erklärte Vaks. »Aber ich würde Ihnen sehr zu dem Menü raten – fünf Gänge, und einer leckerer als der andere.«
So wurde es gemacht, und als alle drei pappsatt einen Grappa und einen Espresso orderten, war die Aufregung des Tages längst von ihnen abgefallen. Gelöst und etwas angeschickert traten sie den Heimweg an. Als sie das Haus auf der anderen Straßenseite erreichten, in dem sie vorhin den Mann im Rollstuhl beobachtet hatten, bemerkte Vaks:
»Ich hoffe, dass ich bald mehr über diesen Mann im Rollstuhl weiß. Bevor wir losgegangen sind, habe ich Herrn Toft die Fotos aufs Handy geschickt, die wir draußen in Tårnby von dem Mann im Anzug gemacht haben. Vielleicht weiß er etwas über ihn – aber wenn ich das mit dem Aquavit vorhin richtig verstanden habe, wird sich Toft dazu wohl nicht vor morgen zurückmelden.«
Lachend verabschiedete er sich und zog sich in sein Schlafzimmer zurück, und auch Fred ging ins Bett, während Lisa noch lange am Fenster stand und über diesen seltsamen Fall nachdachte, in den sie diesmal geraten waren.
In den umliegenden Häusern gingen nach und nach die Lichter aus. Der Alte im Rollstuhl saß reglos im Zimmer und starrte zum Fenster hinaus. Aus seiner Position konnte er von den Nachbargebäuden nur die oberen Stockwerke sehen, aber meistens schaute er ohnehin über die Dächer hinweg und versuchte, ein Stück vom Himmel zu erspähen. Das Alter brachte mit sich, dass er nur noch wenig Schlaf brauchte. Das kam ihm entgegen, auch wenn er mittlerweile an den Rollstuhl gefesselt war.
Wenn es früher jemand gewagt hatte, sich gegen eine Vereinbarung aufzulehnen, war er in den Mantel geschlüpft und hatte den anderen besucht. Erst wurde argumentiert, dann gedroht, und wenn es anders nicht ging, kam die Pistole zum Einsatz, die er noch immer stets bei sich trug. Mit den knochigen Fingern tastete er nach der rechten Hosentasche, wo die Waffe steckte und gegen seinen dürr gewordenen Oberschenkel drückte – was er seit dem verdammten Unfall vor einigen Jahren allerdings nicht mehr spüren konnte.
Vorhin war Nicklas da gewesen und hatte ihm berichtet, dass die Behandlung des verletzten Jungen geglückt sei. Die Wunde am Oberschenkel würde vollständig ausheilen – auch diesmal hatte der Doc ganze Arbeit geleistet. Die Bande des großmäuligen Malte hatte sich erst überrumpeln lassen, konnte dann aber wenigstens wieder entkommen – und Nicklas’ kleiner Schlägertrupp hatte ihnen inzwischen eingebläut, dass sie besser kein zweites Mal so gründlich versagten.
Ob er über Benny und Kjeld, diese beiden Knallchargen, lachen oder sich über sie ärgern sollte, hatte er noch nicht entschieden. Kjeld war zwar geistesgegenwärtig gewesen, Fotos von den beiden Männern und der Frau zu machen und sie an seinen Kumpel Benny weiterzuleiten, damit der sie auf Refshaleøen überhaupt erkannte – aber auf die Idee, die Bilder auch an Nicklas zu schicken, der sie sofort an ihn weitergeleitet hätte, war keiner der beiden gekommen. Dabei wäre das eine wichtige Information gewesen. So war er später als nötig an diese Fotos gelangt: Auf nicht sehr sanften Druck der Rocker hatte Benny die Bilder an Nicklas übermittelt, und der hatte die Dateien sofort an ihn weitergeschickt.
Er hatte damit gerechnet, dass der Anwalt die beiden Deutschen, die Jens Hoven in einem seiner Ferienhäuser in Nysted einquartiert hatte, nach Kopenhagen holen würde – allerdings hatte er sich darauf verlassen, dass ihm Albert rechtzeitig Bescheid geben würde. Schließlich hatte er ihn beauftragt, Vaks und die Deutschen zu beschatten. Offenbar hatte sein Sohn Besseres zu tun gehabt. Aber warum führte Tom Vaks sie zu den Orten, an denen zuletzt einige größere und kleinere hiesige Gauner ermordet oder tot aufgefunden worden waren? Das untermauerte die Vermutung, dass Vaks einen Zusammenhang zwischen den Morden und Ægir Hovens Erbschaft sah. Das würde wiederum bedeuten, dass sie mehr wüssten als er – und das hatte er noch nie leiden können.
Informationen, Kombinationsgabe und eine geladene Waffe – aus diesen drei Bausteinen hatte er sein kleines Imperium errichtet, und damit wollte er es nun auch erhalten.
Der Alte wählte zum wiederholten Mal die Handynummer seines Sohnes. Albert brauchte mehr Schlaf als sein Vater, und er verbrachte seine Wachzeit obendrein nicht immer mit dem, was den Geschäften zugutekam. Auch er hatte nichts gegen Alkohol und attraktive Frauen einzuwenden gehabt, als er jünger war – aber wenn es das Geschäft erforderte, war es selbstverständlich, dass man die schönen Dinge auf später verschob. Sein Sohn setzte leider andere Prioritäten.
»Ja?«
Die Stimme seines Sohnes klang rau und schleppend, im Hintergrund waren Gläserklirren und das Kichern zweier Frauen zu hören.
»Schick die Bande nach Hause«, schnarrte der Alte. »Oder geh wenigstens kurz vor die Tür, während du auf den Weg bringst, was ich dir gleich sagen werde.«
Ein Ächzen erklang, sein Sohn schien sich mühsam zu erheben. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen, nun war im Hintergrund nur noch ein leichtes Rauschen zu hören, vielleicht vom Meer.
»Was ist?«
»Schick deinen Schleicher los. Die beiden Deutschen sind hier in Kopenhagen. Das hättest eigentlich du mir mitteilen sollen, nicht ich dir. Es wäre schön, wenn du mich irgendwann einmal damit überraschen könntest, dass etwas geklappt hat, was du für mich tun solltest. Wie auch immer: Dein Schleicher kann sich jetzt in aller Ruhe im Ferienhaus umsehen, und falls du noch halbwegs auf deinen Beinen stehen kannst, begleitest du ihn. Verstanden?«
Der Alte konnte sich gut vorstellen, wie sein Sohn die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste, aber er wagte nicht zu widersprechen.
»Verstanden?«, wiederholte der Alte deshalb, und ein leichtes Grinsen umspielte seinen faltigen Mund.
»Ja, Vater.«
Das Gespräch wurde weggedrückt, und wieder einmal verwünschte der Alte das Schicksal, das ihm seinen Erstgeborenen durch denselben Autounfall genommen hatte, der ihn selbst in den Rollstuhl brachte. Danach war ihm nur noch sein jüngerer Sohn Albert geblieben, der sich zwar gern »Al« nennen ließ, von einem Al Capone aber herzlich wenig hatte.
Der Alte seufzte und sah hinüber zum Gebäude, in dem Tom Vaks seine Kanzlei und seine Wohnung hatte. Auch dort brannte inzwischen kein Licht mehr, und ob die Deutschen mit Vaks ins Haus gegangen waren, hatte er nicht mitbekommen. Aber letztlich war es gleichgültig, ob die beiden in den Gästezimmern des Anwalts untergekommen waren oder ob sie sich ein Zimmer in einem Hotel genommen hatten. Diese Nacht würden sie höchstwahrscheinlich hier in der Stadt verbringen, und Al und sein Handlanger konnten das Ferienhaus nach Unterlagen durchsuchen.
Harald Schenstrøm hatte schlecht geträumt. Irgendwann in der Nacht schreckte der alte Fischer hoch, rang um Atem und spürte, dass er dringend austreten musste. Er rollte aus dem Bett, rieb sich Augen und Schläfen und horchte.
Knuds lautes Schnarchen verriet ihm, dass er nicht wie sonst allein war in seiner Bleibe. Die Nebel in seinem Kopf lichteten sich ein wenig, und ihm fiel ein, dass sie gestern gezecht hatten und schon am frühen Nachmittag am Tisch eingeschlafen waren, direkt zwischen Gläsern und Flaschen, Brot und Käse. Als Harald wegen der ungemütlichen Position nach einer Weile wieder aufwachte, rüttelte er auch seinen Zechkumpan wach. Für Knud richtete er ein Lager aus Decken, das ihm in seinem Zustand genügen sollte, und er selbst kroch ins Bett.
Nun war es mitten in der Nacht, und als er sich am Ufer erleichtert hatte, war er so wach, dass er innerhalb der nächsten ein, zwei Stunden sicher nicht wieder einschlafen würde. Auch Knud warf sich inzwischen auf den Decken hin und her und blinzelte schließlich ins Licht der Deckenlampe, die Harald eingeschaltet hatte.
»Na, Knud, soll ich dich nach Hause bringen?«
Der andere dachte einen Moment lang nach, dann zuckte er mit den Schultern, schlug die auf ihm liegende Wolldecke zurück und zog seine Jacke über. Wortlos tappten sie durch die Dunkelheit zum Boot des Fischers, kletterten hinein und nahmen Kurs auf die andere Seite der schmalen Zufahrt zum Hafen von Nysted. Schließlich waren sie am Steg angekommen, der am Ende des Campingplatzes ins Wasser ragte. Knud hatte einige Mühe, vom schaukelnden Boot auf den Steg zu klettern, aber Harald half ihm. Gemeinsam wankten sie zu Knud Aalstrups Wellblechhalle. Weil Schenstrøm die Sauferei besser vertrug, hatte er sich längst angewöhnt, seinen Kumpel in solchen Nächten nach Hause zu begleiten – denn sonst konnte es passieren, dass Knud unterwegs auf die Idee kam, mitten in der Nacht seine wütenden Schreie auszustoßen. Und auch wenn die Polizei und die meisten Nachbarn die Augen zudrückten und dem armen Knud das Herumbrüllen am Abend nicht verbieten wollten, so war es mitten in der Nacht doch etwas anderes. Ab und zu hatte sich Knud dadurch einen ernsten Verweis von Søren Christensen oder einem seiner Kollegen eingehandelt. Der alte Fischer wusste aber: Wenn Knud einmal daheim im Bett lag, gab er für den Rest der Nacht verlässlich Ruhe.
Aus alter Gewohnheit nahmen sie nicht die kürzeste Route, sondern folgten zunächst dem Rand der Ferienhaussiedlung. Harald ließ seinen Blick über die Häuschen schweifen. Überall war es dunkel, nur in dem Ferienhaus, in dem die beiden Deutschen untergebracht waren, die ihn besucht hatten, brannte Licht. Doch noch bevor Knud und er nah genug herangekommen waren, um erkennen zu können, wer da noch wach war, wurde das Licht auch schon gelöscht. Harald dachte sich nichts dabei. Es war spät und höchste Zeit, ins Bett zu gehen – vielleicht hatte ja einer der Bewohner mitten in der Nacht ins Bad gemusst.
Schließlich standen sie vor der rostigen Wellblechhalle, die eigentlich zum benachbarten Bauernhof gehörte, heute aber nur noch zum Unterstellen von Geräten genutzt wurde, die niemand mehr brauchte. Der vordere Bereich war vor Jahren von Knud und einigen Helfern freigeräumt worden – darunter auch Honoratioren des Ortes, die Knuds Schicksal kannten, sowie Søren Christensen und natürlich Harald Schenstrøm. Den beiseitegeschafften Krempel hatten sie einfach auf die ausrangierten Hänger und Fahrzeuge geworfen, die im hinteren Teil der Halle standen. Und so hatte sich Knud vorne auf etwa zehn mal zehn Meter einigermaßen gemütlich eingerichtet, mit gespendeten Möbeln, Decken und Hausrat, während sich direkt hinter seinem Wohnbereich der Krimskrams bis unter die Decke der Halle türmte.
Knud kroch sofort ins Bett, Harald zog die Stahltür hinter sich zu und machte sich auf den Heimweg. Mehr als eine halbe Stunde hatten sie für den Weg gebraucht, vor allem, weil Knud doch recht wacklig auf den Beinen gewesen war. Der alte Fischer war noch nicht müde. Er betrat den Friedhof, der nur wenige Meter von Knuds Behausung entfernt lag und den der andere mindestens einmal am Tag aufsuchte. Das sorgsam gepflegte Grab von Knuds Eltern lag unter einem mächtigen Baum. Die beiden hatten hart gearbeitet, um ihrem Sohn einen florierenden Hof zu hinterlassen, und es zerriss Knud ganz sicher jedes Mal, wenn er vor dem Grab der Eltern stand und wieder und wieder daran dachte, wie er alles verloren hatte.
Eine kühle Brise fuhr Harald unter die Jacke. Er verließ den Friedhof und spazierte über Wiesen und Felder zur Küste. Als er schließlich auf dem Uferweg stand und auf die Ostsee hinausschaute, wo die Gegend um Rostock und die Insel Fehmarn mit einzelnen Lichtern sein nächtliches Blickfeld begrenzten, konnte er Knud verstehen. Angesichts des Meeres konnte einen schon das Elend packen, konnte man sich schon klein und allein fühlen, vor allem wenn man wie Knud keine Zukunft mehr für sich sah – und das Wasser nur als endlose Weite und kalte Tiefe.
Zum Glück war der alte Fischer vor solchen Gedanken gefeit. Noch immer empfand er das Gewässer vor Lolland als seinen Arbeitsplatz, seine berufliche Heimat, obwohl er schon lange nur noch für den Hausgebrauch fischte. Wenn er hungrig aufs Wasser hinausblickte, dachte er an leckeren Dorsch mit Senfsoße, an Brathering und Smørrebrød mit geräucherten Sprotten, Gurken und Radieschen. Wenn er keinen Hunger hatte, gingen ihm eher wehmütige Gedanken durch den Kopf: an seine Zeit als junger Mann, der seine Netze auswarf und vom Fang einigermaßen leben konnte, damals, als es noch Dorsch und Hering in großer Zahl gab und nicht überall nur Sprotten schwammen.
Harald Schenstrøm streckte die Glieder und machte sich langsam auf den Heimweg. Mal schaute er aufs Meer hinaus, mal ließ er den Blick über Land schweifen, und als er auf dem Uferweg fast an der Ferienhaussiedlung vorüber war, kam es ihm so vor, als sehe er wieder Licht im Ferienhaus der Deutschen. Er blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Die Räume waren dunkel, aber die Lichtkegel von Taschenlampen huschten an Wänden und Decken entlang, und einmal zeichnete sich eine Silhouette vor dem Licht ab. Harald bog in den schmalen Pfad ein, der vom Uferweg aus ins hohe Gras gemäht war. Kurz bevor er das Haus erreichte, duckte er sich und arbeitete sich auf der ungemähten Wiese weiter vor, bis er so nahe an die Terrasse herangeschlichen war, dass er einigermaßen erkennen konnte, was im Inneren des Gebäudes vor sich ging.
Im Haus befanden sich nicht die beiden Deutschen, sondern zwei Männer in dunkler Kleidung. Sie trugen Handschuhe und schwarze Wollmützen, hatten ihre Gesichter aber nicht vermummt. Es dauerte eine Weile, bis beide Gestalten so durch das Licht der Taschenlampen gehuscht waren, dass er ihre Gesichter ausmachen konnte. Den dämlichen Niels, der sich so viel auf seine Anschleichkünste einbildete, erkannte er als Ersten. Als er das Gesicht des anderen sah, pfiff er ganz leise durch die Zähne und schlich rückwärts in Richtung Uferweg davon. Gut, dass Knud jetzt nicht bei ihm war. Der hätte sich beim Anblick des Mannes nicht zurückhalten können und wäre schreiend und brüllend auf ihn losgestürmt.
Auf der Überfahrt und später in seinem Bett dachte Harald Schenstrøm darüber nach, was Niels und sein windiger Auftraggeber wohl im Ferienhaus der Deutschen zu suchen hatten. Das Paar aus Deutschland hatte ihn nach den Umständen von Ægir Hovens Tod gefragt. Ob der Mann, der Knud um seinen Besitz gebracht hatte, auch in dieser Sache seine Finger im Spiel hatte?