Es war Samstagmittag. Tom Vaks saß in seiner Kanzlei und grübelte. Seit der Abreise von Lisa und Fred hatte er das Gefühl, einen wichtigen Hinweis übersehen zu haben. Er schaute sich noch einmal das Video an, das Jens Hovens Butler ihm zugespielt hatte. Als er zu der Stelle kam, an der Ægir Hovens Testament zu sehen war, fiel ihm ein, dass es sich bei dem rätselhaften Erben, der im selben Postleitzahlenbereich wie Vaks wohnte, auch um den Alten im Rollstuhl handeln konnte, der schräg gegenüber wohnte und offenbar sehr interessiert an allem war, was Lisa, Fred und er selbst gerade in Kopenhagen unternahmen.
Vaks arbeitete noch einmal die Unterlagen durch, die ihm sein Mandant Jens Hoven für seine Recherchen in der Erbschaftssache übergeben hatte. Unter anderem waren dort einige Firmen aufgeführt, an denen Ægir Hoven Anteile besessen hatte. Er recherchierte im Zentralen Unternehmensregister Virk, in dem Informationen über alle in Dänemark ansässigen Firmen für jedermann frei zugänglich waren. Dabei fiel ihm eine Gesellschaft namens VS Invest ApS auf, für die eine Adresse in der Egilsgade angegeben war. Die Hausnummer schien zu dem Gebäude zu passen, in dem der Mann im Rollstuhl wohnte.
Nach und nach ging er die Unternehmen durch, an denen die Firma in der Egilsgade beteiligt war, und stieß dabei auf die Provenus ApS, die zur Hälfte der VS Invest gehörte – und zur Hälfte der HovInvest in Roskilde. Also waren der verstorbene Onkel seines Mandanten und der Mann im Rollstuhl Geschäftspartner gewesen. Und wenn der Alte in dem Testament bedacht war, das Vaks bisher nur aus dem Video kannte, konnte das bedeuten, dass die Provenus ausschließlich zum Waschen illegaler Gelder der VS Invest gegründet worden war – und dass all diese Gelder nach dem Tod von Hoven vollständig an den Alten zurückfallen sollten. Das würde zu allem passen, was sich Lisa, Fred und er bisher zusammengereimt hatten.
Die Homepage von Provenus wies einen Nicklas Balling als Geschäftsführer aus, sogar ein Foto des Mannes war abgebildet – es war der Mann in der Limousine, der dem Alten gestern Abend Bericht erstattet hatte. Die Puzzleteile fügten sich allmählich zu einem Bild.
Es war ein sonniger Tag, und so fiel es nicht auf, dass Fred direkt nach der Abfahrt alle Autofenster herunterließ. Fischer Schenstrøm nahm auf dem Beifahrersitz Platz, um Fred zu Knud Aalstrups Behausung zu lotsen, und im Nu war das Innere des Wagens mit seinem Geruch erfüllt. Nach kurzer Fahrt erreichten sie zum Glück ihr Ziel, und Harald Schenstrøm ließ Fred am Straßenrand vor dem Friedhof halten.
»Ich geh schon mal voraus und red mit Knud. Wenn ich euch ein Zeichen geb, könnt ihr kommen«, sagte er und trottete davon.
Die anderen stiegen aus, ließen die Fenster und nun auch die Türen geöffnet, und schauten dem alten Fischer hinterher, der nach einer Weile nach rechts aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Lisas Handy klingelte. Es war Tom Vaks. Sie stellte ihr Smartphone auf laut, damit Christensen und Fred mithören konnten, was seine Recherchen ergeben hatten. Besonders stolz war er, als er ihnen den Namen des Alten im Rollstuhl liefern konnte, den er in einem Zeitungsartikel gefunden hatte. Doch Lisa musste seiner Euphorie einen kleinen Dämpfer verpassen.
»Auf den Namen Villads Kvist sind wir auch schon gestoßen. Herr Christensen von der hiesigen Polizei hat uns von ihm erzählt.«
Sie berichtete vom Einbruch ins Ferienhäuschen und von ihren neuesten Erkenntnissen.
»Aber dass Kvist mit Ægir Hoven eine gemeinsame Firma betrieb, wussten wir bisher nicht«, schob sie nach. »Erinnern Sie sich eigentlich an den Mann, der allabendlich an der Ostsee entlangwandert und Unverständliches vor sich hin brüllt?«
»Ja, wieso?«
»Wir werden gleich mit ihm reden. Offenbar ist der Sohn von Villads Kvist der Grund für sein Geschrei. Albert Kvist muss ihm vor einigen Jahren übel mitgespielt haben.«
In diesem Moment trat der alte Fischer wieder in ihr Blickfeld und winkte ihnen zu.
»Wir müssen los«, erklärte Lisa am Telefon. »Bis später, wir melden uns!«
In Knud Aalstrups seltsamer Behausung fiel die Duftwolke, die Harald Schenstrøm umgab, nicht weiter auf. Eine seltsame Mischung von Aromen lag in der staubigen Luft. Es roch nach altem Öl, verrostetem Metall, ungewaschenen Kleidern, halb geleerten Konservendosen und billigem Fusel – Lisa mochte sich gar nicht vorstellen, was ihre Nase hier auszuhalten hätte, wenn es nicht so spürbar durch die Ritzen des Wellblechbaus gezogen hätte.
Auf einem dreibeinigen Hocker kauerte Knud Aalstrup, dessen Rufe sie abends aufgeschreckt hatten, wie ein Häuflein Elend.
»Knud, das sind die Leute, von denen ich dir erzählt hab«, sprach der alte Fischer seinen Freund an, der zunächst nicht reagierte, sondern weiterhin den Kopf zwischen hängenden Schultern gesenkt hielt. »Sie wollen Albert ans Leder, und du kannst ihnen helfen.«
Nun hob sich der Kopf des Mannes, und aus blutunterlaufenen Augen sah er sie trübe an.
»Du wirst ihnen doch helfen, Knud?«
Es dauerte eine Weile, aber dann kam etwas Leben in den Blick des Mannes, und schließlich nickte er bedächtig.
»Dürfen deine Gäste sich setzen?«, fragte Harald nun.
»Aber natürlich«, krächzte Knud mit einer Stimme, die an diesem Tag wohl noch nicht benutzt worden war, und dazu machte er eine vage einladende Geste, die das Sammelsurium der vor ihm stehenden Sitzmöbel umfasste und beinahe galant wirkte. Alle nahmen Platz und machten es sich auf einer durchgesessenen Couch und auf wackligen Stühlen leidlich bequem.
»Und jetzt erzähl den Leuten, was Albert Kvist dir angetan hat«, sagte Harald.
Schulterzucken, dann ein langsamer Blick in die Runde.
»Was er dir genommen hat«, schob der alte Fischer hinterher, als müsse er dem Gedächtnis seines Freundes auf die Sprünge helfen.
Knud sah ihn lange an, seine Miene drückte Verzweiflung aus, vielleicht auch ein bisschen Hoffnung.
»Werden sie mir helfen können, alles wiederzubekommen?«, fragte er schließlich.
»Ich glaub nicht«, brummte Harald Schenstrøm. »Du hast damals unterschrieben, der Vertrag gilt, und wie Albert dich zum Unterschreiben gebracht hat, kann niemand außer euch beiden bezeugen. Und dass er lügen wird, wenn es hart auf hart kommt, davon kannst du ausgehen.«
Knuds Kopf ging wieder nach unten.
»Aber die Leute können Albert vielleicht das Handwerk legen«, fuhr Schenstrøm fort. »Sie können vielleicht dafür sorgen, dass er so etwas nicht noch einmal machen kann. Und Søren glaubt sogar, dass er diesem Drecksack mit viel Glück etwas nachweisen kann, was ihn ins Gefängnis bringt.«
Knud hob den Blick und sah Søren Christensen an. Der Polizist nickte ihm zu.
»Ja, das glaube ich«, bestätigte er. »Und du kannst mir vielleicht helfen, Albert Kvist so in die Enge zu treiben, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt, als sich zu verquatschen.«
»Harald hat gesagt, dass Sie aus Deutschland sind. Verstehen Sie mich überhaupt?«
Beide nickten, und Lisa fügte hinzu: »Was Sie abends immer auf die Ostsee hinausrufen, haben wir aber nicht verstanden.«
Nun verzog sich Knuds Mund doch zu einem breiten Grinsen.
»Das kann ich Ihnen sagen: ›Albert!‹, rufe ich, und dann verfluche ich ihn: ›Din svinepels, din løgnhals, din ågerkarl!‹«
Er sah Lisa an, als warte er auf ihre Reaktion, und wirkte in diesem Moment geradezu verschmitzt.
»Du Saukerl, du Lügner, du Halsabschneider«, sprach sie nach kurzem Nachdenken halblaut die deutsche Übersetzung aus.
»Genau«, sagte Knud. »Saukerl, Lügner, Halsabschneider!« Er war für diese Worte in ein verwaschenes Deutsch verfallen, wechselte aber gleich wieder in seine Muttersprache zurück. »Das alles und noch viel mehr ist Albert Kvist.«
Er lachte heiser, es klang wie das letzte Husten eines Lungenkranken. Dann erzählte er weitschweifig, was sie von seiner Vorgeschichte schon wussten: vom Bauernhof der Eltern außerhalb von Kettinge, vom Tod der Eltern und davon, wie sehr er es genossen hatte, den Hof, die Felder, die Wiesen zu bewirtschaften.
»Nur mit dem Geld hatte ich es nicht so«, gab er zu, »Immer wieder hat mich jemand mit dem Preis für meine Ernte runtergehandelt, und ich glaube fast, es hat sich irgendwann herumgesprochen, dass man den dummen Knud wunderbar über den Tisch ziehen kann. Jedenfalls habe ich für mein Getreide, mein Gemüse oder mein Obst nie denselben Preis bekommen wie meine Nachbarn. Das hat mir damals natürlich niemand erzählt, die haben sich einfach nur ins Fäustchen gelacht und sich abends in der Kneipe über mich lustig gemacht. Erst hinterher, als alles verloren war, ist der eine oder andere kleinlaut zu mir gekommen und hat zugegeben, dass man mich damals übers Ohr gehauen hatte. Aber da war es schon zu spät, da war ich den Hof schon los. Den Hof meiner Eltern und Großeltern und …«
Er wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und räusperte sich dann.
»Ist ja auch egal. Jedenfalls ist das Geld irgendwann knapp geworden. Für meine Ernte habe ich zu wenig Geld gekriegt, aber die Kosten waren natürlich dieselben. Zwei Jahre nacheinander hatte ich Pech: Im ersten Jahr hatte ich Schädlinge an den Kartoffeln, und im zweiten Jahr hat ein Pilz meinen Weizen erwischt. Irgendwann waren meine Geldreserven aufgebraucht. Gerade als ich ganz verzweifelt war und nicht mehr weiterwusste, ist mir ein Angebot für mein Land ins Haus geflattert. Der Preis, der mir pro Quadratmeter geboten wurde, lag deutlich über dem, was sonst so im Süden von Lolland bezahlt wird. Ich habe erst noch gezögert, weil ich den Bauernhof meiner Eltern ja eigentlich erhalten wollte. Aber genau in dieser Zeit hat sich das Finanzamt gemeldet, dass eine Steuerprüfung und hinterher vielleicht eine Nachzahlung ansteht, und die Bank hat Druck gemacht, weil sie von meinen Schwierigkeiten erfahren hat. Ich hielt das damals für Zufall, heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.«
Knud schnaubte und machte eine kurze Pause.
»Ich habe mir das Angebot noch einmal angesehen, wollte aber mit niemandem drüber reden. Es war mir peinlich vor den Nachbarn, dass ich daran dachte, mein Erbe zu verkaufen, den Aalstrup-Hof, der seit Generationen im Besitz meiner Familie war. Und so habe ich mir aus dem Schreiben irgendwas zusammengereimt, was gar nicht drinstand. Ich habe überschlagen, wie viel von meinem Land ich verkaufen musste, damit ich genug Geld hätte, um den Hof wieder flottzubekommen. Und dann habe ich bei dieser Firma angerufen.«
»Was war das für eine Firma?«, fragte Lisa.
»Provenus hieß die, auf dem Briefpapier stand eine Kopenhagener Adresse.«
Lisa, Fred und Søren Christensen tauschten schnelle Blicke. Knud redete weiter, ohne es zu bemerken.
»Dem Anschreiben lagen Prospekte und Infoblätter bei – offenbar hatte diese Firma in den Jahren davor schon jede Menge Grund auf Lolland gekauft. Am Telefon hat man mir versichert, dass mich gleich jemand zurückruft. Kurz danach klingelt mein Telefon, und es meldet sich ein Mann namens Albert Kvist. Er hat sich als einer der Geschäftsführer dieser Firma vorgestellt und gleich für den nächsten Tag einen Termin mit mir vereinbart. Wir haben in meiner Wohnküche gesessen, und er hatte auf jede meiner Fragen eine einleuchtende Antwort. Und als ich ihm erklärt habe, dass ich auf keinen Fall meinen gesamten Hof mit allem Grund und Boden verkaufen will, sondern nur so viele Felder und Wiesen, dass ich genug Geld zum Weitermachen zusammenkriege, wirkte er auch damit einverstanden. Wenn ich gewusst hätte …«
Knud Aalstrup unterbrach sich und schwieg eine ganze Weile. Dann redete er weiter.
»Wir haben den ersten Vertrag miteinander abgeschlossen, und Albert Kvist ist wieder gegangen. Ein paar Tage später ruft mich jemand von der Firma an, dass es mit dem Vertrag ein Problem gibt und dass deshalb die Auszahlung des Kaufpreises erst mal auf Eis gelegt wird. Als ich nachfrage, was für ein Problem das sei, hat man mir Alberts nächsten Besuch für die kommende Woche angekündigt. Als er kam, gab er sich untröstlich und hat gemeint, er hätte einen dummen Fehler gemacht und dass es ihm sehr leidtue, wenn ich nun länger auf mein Geld warten müsse als gedacht. Außerdem hat er mich auf eine Klausel im Vertrag hingewiesen, die mir bis dahin nicht aufgefallen war. Da stand, dass Provenus mir nur dann den angebotenen Quadratmeterpreis bezahlen kann, wenn ich den gesamten Grundbesitz an Provenus verkaufe. Andernfalls würde ich pro Quadratmeter nur den Bruchteil des Preises kriegen. Dann wäre der Erlös natürlich viel zu gering gewesen, um den Rest des Hofes zu retten. Ich fühlte mich reingelegt und wollte vom Kaufvertrag zurücktreten, aber Albert hat gemeint, dass das nicht geht, schließlich hätte ich ja unterschrieben, wenn auch nur für einen Teil meines Landes. Er hat gesagt, er hätte eine Lösung parat, denn schließlich wäre der Fehler im Vertrag ja seine Schuld. Dann hat er mir einen neuen Vertrag vorgelegt, in dem es hieß, dass nun der Quadratmeterpreis doch in voller Höhe an mich zu zahlen sei. Ich war erleichtert, wollte aber noch nicht unterschreiben, sondern mir das Ganze noch durch den Kopf gehen lassen. Albert hat mich noch für meine Umsicht gelobt und mir geraten, gründlich über alles nachzudenken und mir ruhig Zeit zu lassen. Sein Angebot sei nicht an eine Frist gebunden. Zum Abschied hat er mir sein Kärtchen mit seiner Handynummer gegeben und ist weggefahren. Am nächsten Morgen hat die Bank angerufen und mich noch für denselben Nachmittag zu einem Gespräch nach Nysted einbestellt. Die haben ordentlich Druck gemacht und gesagt, dass ich innerhalb von zwei Wochen frisches Geld auftreiben muss, sonst kündigen sie mir die Kredite und versteigern meinen Hof. Und noch einen Tag später hat sich das Finanzamt gemeldet und für zwei Wochen drauf eine Steuerprüfung angekündigt.«
»Hatte da auch Albert Kvist seine Hände im Spiel?«, fragte Lisa.
»Keine Ahnung, ich kann es mir aber gut vorstellen. Natürlich habe ich mir den Kopf zerbrochen, wen ich zum Vertrag befragen könnte. Da ist mir Richard eingefallen. Mit seinem älteren Bruder war ich zur Schule gegangen, und ich wusste, dass Richard als Butler für Jens Hoven arbeitet, diesen Verleger mit dem protzigen Schlossnachbau. Ich habe mir gedacht, dass Richards Chef bestimmt einen Anwalt hat, der sich mal den Vertrag anschauen kann.«
»Wie hieß der Anwalt? Tom Vaks vielleicht?«
»Wenn ich das wüsste. Ich habe auch nie direkt mit dem Anwalt gesprochen, aber Richards Chef hat mich angerufen und mir von seinem Anwalt ausrichten lassen, dass der Vertrag in Ordnung ist und außerdem sehr vorteilhaft für mich, weil niemand sonst in dieser Gegend so einen hohen Preis für Land bezahlen würde. Also habe ich Albert Kvist angerufen, und der hat gleich am nächsten Tag den unterzeichneten Vertrag abgeholt. Danach ist alles ganz schnell gegangen: Erst hat sich eine Bank aus Kopenhagen gemeldet, von der ich noch nie gehört hatte. Die haben gesagt, dass sie meiner Hausbank die Darlehensverträge abgekauft haben, die auf meinen Namen laufen, und dass ich das Geld nun der Kopenhagener Bank schulde. Dabei habe ich mir erst mal nichts gedacht, aber dann haben sie gesagt, dass sie meine Kredite wegen meiner schwierigen wirtschaftlichen Lage umgehend kündigen müssen. Und wenn ich nicht binnen einer bestimmten Frist alle Schulden bezahlen kann, muss mein Hof versteigert werden. Sofort habe ich Albert Kvist angerufen, wann ich denn mit der Auszahlung des Kaufpreises rechnen kann, und er hat mich erst mal beruhigt. Mit dem Geld von seiner Firma könne ich meine Schulden problemlos ausgleichen. Er hat mir eine Summe genannt, die viel höher war als die, mit der ich gerechnet hatte, und auf meine Nachfrage hat mich Albert darauf hingewiesen, dass ich doch im neuen Vertrag dem Verkauf meines gesamten Grundbesitzes zugestimmt habe. Er hat mir sogar den entsprechenden Paragrafen genannt, und als ich meinen Bekannten Richard angerufen und ihn gefragt habe, warum mich der Anwalt seines Chefs nicht vor dieser Klausel gewarnt hat, da war er ganz entsetzt und hat versprochen, sich gleich darum zu kümmern. Doch noch bevor ich wieder etwas von Richard gehört habe, kommt auch schon ein Telegramm von Provenus. Darin steht, dass die Firma fristgerecht vom Kauf meines Bauernhofs zurücktritt – und als Entschädigung liegt ein Scheck über ein Prozent des vereinbarten Kaufpreises bei. Das entspricht dem, was nach einem Rücktritt als Schadenersatz gesetzlich vorgeschrieben ist. Wenig später war mir nur noch dieser Scheck geblieben, den ich natürlich eingelöst habe – aber der Hof wurde versteigert. An wen, habe ich nie erfahren, ich musste ausziehen, und wie zum Hohn wurde mir dann noch ein Schreiben der Kopenhagener Bank zugestellt, in der mir die freudige Nachricht überbracht wurde, dass meine Darlehen vollständig getilgt sind.«
Knud atmete ein paarmal tief ein und aus. Die ausführliche Schilderung schien ihn völlig erschöpft zu haben. Vermutlich war er es nicht gewöhnt, so lange am Stück zu reden.
»Haben Sie jemals erfahren, warum der Anwalt von Richards Chef Sie ins offene Messer laufen ließ?«
»Nein, Richard hat sich seitdem nicht mehr gemeldet. Ab und zu bringt er Wein oder was zu essen vorbei, er stellt es aber nur vor die Tür und haut gleich wieder ab, ich habe ihn ein paarmal beobachtet.«
Lisa dachte nach. Hatte sie sich so sehr in Tom Vaks getäuscht? Konnte er wirklich tatenlos zusehen, wie Knud Aalstrup, dieser arme Kerl, über den Tisch gezogen wurde?
Knud griff hinter sich und hatte eine Flasche Aquavit an die Lippen gesetzt, noch bevor ihn jemand daran hindern konnte. Er trank in großen Schlucken fast die halbe Flasche leer, erst dann konnte ihm Søren Christensen die Pulle entwinden.
»Sag mal, Knud, spinnst du?«, herrschte er ihn an. »Wir wollen dir helfen, aber dazu musst du klar im Kopf sein, verstehst du das? Wir haben was vor, und da musst auch du mitmachen. Und das geht nicht, wenn du strunzbesoffen bist, ist das klar?«
Knud zuckte mit den Schultern. Den anderen war klar, dass sie die Ausführung von Søren Christensens Plan ein wenig verschieben mussten, wenn auch Knud seine Rolle darin spielen sollte. Der Polizist disponierte ein wenig um und erklärte den anderen, was er vorhatte.
Wenig später hakten Fred und der alte Fischer Knud unter und bugsierten ihn aus der Wellblechhalle. Sie schafften ihn in Freds Wagen und brachten ihn in Dines Kneipe. Lisa mochte sich gar nicht vorstellen, wie es in Freds SUV nun dank zweier nicht sehr reinlicher Mitfahrer riechen mochte, und sie war froh, dass sie den Weg zu Dines Lokal zu Fuß zurücklegen konnte. Søren Christensen rief die Wirtin an, um sie vorzuwarnen, damit sie schon mal einen starken Kaffee kochte. Sie bat ihn, auf dem Weg zur Kneipe bei der Metzgerei am Marktplatz vorbeizuschauen und eine kleine Auswahl an Smørrebrød mitzubringen. Der Laden war samstags um diese Zeit zwar längst geschlossen, aber sie versprach, die Metzgerin, eine Freundin von ihr, gleich anzurufen, damit sie etwas vorbereiten konnte.
»Kleine Auswahl« war etwas untertrieben, denn das Paket, das sie in der Metzgerei in Empfang nehmen durften, fiel recht stattlich aus.
Søren Christensen führte unterwegs ein paar Telefonate. Dass er als Ersten Bjarne Toft anrief, bekam Lisa noch mit, aber da er ein Stück hinter ihr ging, hörte sie nicht, was er mit dem Krimiautor besprach, und sie erfuhr auch nicht, wen er noch anrief. Als er wieder zu ihr stieß, war er guter Dinge.
Knud leerte gerade schlürfend den zweiten großen Becher Kaffee und wirkte schon wieder halbwegs ansprechbar, als Christensen und Lisa in Dines gamle knejpe eintrafen.
Sie setzten sich hin und ließen sich das Essen schmecken. Um diese Zeit war es in dem Lokal noch immer recht leer, sodass sie sich ungestört unterhalten konnten.
Nach einer guten Stunde klingelte Søren Christensens Handy. Er nahm das Gespräch entgegen, hörte zu und sagte selbst nur: »Ja«, und: »Prima, bis gleich«, danach drückte er das Gespräch weg, wählte eine andere Nummer und gab durch: »Fünfzehn Minuten, vielleicht zwanzig, okay?«
Dann legte er auf und klatschte in die Hände.
»So, Leute, es geht los!«
Sie hatten genug Zeit gehabt, an Dines Tresen zu besprechen, wer was zu tun hatte. Jeder kannte seine Rolle, und dem leidlich nüchternen Knud wurde für alle Fälle der alte Fischer zur Seite gestellt, damit er auch wirklich keinen Blödsinn machte und erst im passenden Moment in Erscheinung trat.
Die Fahrt zu Albert Kvists Anwesen dauerte zum Glück nur wenige Minuten, denn so dicht beieinandersitzend halfen nicht einmal mehr geöffnete Fenster gegen die Ausdünstungen von Aalstrup und Schenstrøm. Das protzige Gebäude mit Doppelgarage, Wintergarten, Pool und einer breiten Treppe, die zwischen kitschigen Gipsfiguren hindurch zum Eingangsportal führte, lag etwas außerhalb des Dorfs Stubberup. Fred hatte den Wagen ein Stück entfernt abgestellt, damit er von Kvist nicht bemerkt wurde. Und während Søren Christensen die Treppe zur Haustür hinaufging, bezogen Lisa und Fred Posten hinter einer dichten Hecke. Von hier aus konnten sie beobachten, was am Eingang des Gebäudes vor sich ging, und notfalls eingreifen, ohne dass sie selbst gesehen wurden. Knud und Harald warteten hinter der Hausecke. Fred würde ihnen ein Zeichen geben, sobald er Christensens Wink für Knuds Auftritt bekam.
Die Türglocke hallte schwer und melodiös durch das Haus, und es dauerte etwas, bis die Haustür geöffnet wurde. Vor Søren Christensen stand Albert Kvist selbst. Er wirkte zerzaust und hielt ein Glas Cognac in der Hand. Christensen stellte sich vor und zeigte seinen Dienstausweis.
»Und was will die Polizei von mir?«
»Einstweilen habe ich nur ein paar Fragen«, versetzte Christensen und tat so, als wolle er am Hausherrn vorbei in die Empfangshalle schauen. Kvist stellte sich ihm in den Weg und zog die Tür zu, bis nur ein schmaler Spalt offen blieb.
»Sie haben also keinen Durchsuchungsbeschluss?«
»Nein. Würde sich denn einer lohnen?«
»Natürlich nicht, aber wenn ich Sie nicht hereinlassen muss, würde ich lieber hier in der Tür mit Ihnen reden. Man weiß ja nie, woraus einem die Polizei einen Strick dreht.«
»Sie haben Erfahrung mit so etwas?«
»Kommen Sie bitte auf den Punkt, ich habe zu tun. Meine Haushälterin hat kurzfristig gekündigt, also muss ich mich gerade um alles selbst kümmern. Also, was wollen Sie?«
»Sie waren heute Nacht mit einem … wie soll ich es ausdrücken … mit einem Ihrer freien Mitarbeiter unterwegs, einem gewissen Niels Baghold.«
Kvist blinzelte.
»Zusammen mit Herrn Baghold sind Sie in ein Häuschen der Ferienhausanlage östlich des Campingplatzes eingedrungen.«
Kvist räusperte sich.
»Wie kommen Sie denn auf so etwas?«
»Es gibt Zeugen Ihres Einbruchs.«
»Einbruch? Ich muss schon bitten!«
»Ich halte die Zeugen für glaubwürdig, und ich schätze die Sache so ein, dass Sie eine Menge Ärger bekommen können, falls ermittelt wird.«
Ärger spiegelte sich auf Albert Kvists Miene wider, dann stutzte er.
»Falls ermittelt wird?«
Christensen lächelte entschuldigend.
»Wie Sie sehen, bin ich ohne Begleitung zu Ihnen gekommen.«
Kvist schaute sich um. Hinter seiner Stirn arbeitete es.
»Ich dachte mir«, fuhr Søren Christensen fort, »dass ich zuerst einmal mit Ihnen rede, bevor … nun ja, bevor alles seinen offiziellen Gang geht, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Soll das ein Trick sein? Sie bieten mir an, über einen Einbruch Stillschweigen zu bewahren, der nie stattgefunden hat – und wenn ich auf Ihr Angebot eingehe, nehmen Sie das als Eingeständnis? Also bitte!«
»Sie wissen so gut wie ich, dass der Einbruch stattgefunden hat. Und mit den Dokumenten, die entwendet wurden, können Sie auch am ehesten etwas anfangen.«
Nun war Kvist doch verunsichert.
»Welche Dokumente?«
»Unterlagen zur Erbschaftssache Ægir Hoven«, versetzte Christensen, und er gönnte sich dazu ein boshaftes Grinsen. »Und zu den Todesumständen dieses Mannes gibt es so viele Ungereimtheiten, dass sich meine Kollegen das vielleicht noch etwas genauer anschauen sollten.«
Kvist sah sich noch einmal um, als wolle er sich vergewissern, dass der Mann wirklich allein gekommen war.
»Gerade jetzt, wo diese Dokumente ausgerechnet von Ihnen gestohlen wurden«, schob Christensen nach.
Albert Kvist dachte nach, dann stieß er hervor: »Was wollen Sie von mir?«
»Sie wohnen schön hier. So etwas kann sich unsereins von seinem Gehalt leider nicht leisten. Wissen Sie, ich bin auch zufrieden mit meinem Häuschen, aber gelegentlich einen Urlaub, eine Flugreise in den Süden, das wäre schon schön.«
Kvists Blick wurde stechend.
»Wie viel?«, zischte er.
»Nicht viel, vielleicht hunderttausend Kronen, oder nein, lieber zweihunderttausend.«
»Ach, und morgen wollen Sie dreihunderttausend?«
»Nein, so gierig bin ich nicht. Zweihunderttausend – und ich vergesse alles, was ich über Ihren Einbruch weiß!«
»Sie spinnen doch! Keiner hat mich heute Nacht in diesem Ferienhaus gesehen – und dass ich das eben gesagt habe, streite ich natürlich ab. Verschwinden Sie, und lassen Sie sich bestechen, von wem Sie wollen!«
Christensen wedelte hinter seinem Rücken mit der linken Hand, und Fred gab den beiden Männern das vereinbarte Zeichen.
»Das würde ich mir an Ihrer Stelle noch einmal überlegen«, raunte Christensen und trat zur Seite, um den Blick auf Knud freizugeben, der gerade auf das Haus losmarschierte. Albert Kvist stutzte und schaute nun deutlich weniger selbstsicher zwischen Knud und dem Polizisten hin und her.
»Wie Sie sehen«, sagte Christensen und grinste breit, »wird es in Ermittlungen gegen Sie nicht nur um Einbruch gehen und um Ungereimtheiten in einem Todesfall, sondern man wird auch Ihr eigenwilliges Geschäftsgebaren beim Kauf von Grundstücken auf Lolland untersuchen.«
Kvist lachte, aber es klang aufgesetzt.
»Ach, jetzt kommen Sie mit diesem Trottel, der Verträge unterschreibt, die er nicht versteht? Das ist alles sauber abgelaufen, Herr Aalstrup hat freiwillig unterschrieben, und wenn er zu blöd war, die Sache vorteilhafter auszuhandeln, kann ich ihm auch nicht helfen!«
Christensen versuchte einen Schuss ins Blaue.
»Was werden wohl meine Kollegen dazu sagen, wenn Sie herausfinden, dass Sie mit Ihren Kontakten zu Knud Aalstrups Hausbank und zum Finanzamt dafür gesorgt haben, dass seine finanzielle Notlage verschärft wurde? Und dass Sie am Ende sogar das Kaufangebot zurückgezogen haben, um am Ende noch deutlich billiger an Aalstrups Hof zu kommen?«
Knud hatte inzwischen die unterste Stufe der Treppe erreicht. Er murmelte etwas vor sich hin, und je näher er kam, desto lauter wurde er und desto deutlicher waren seine Worte zu verstehen: »Svinepels«, »Løgner«, »Ågerkarl«.
»Denn ich nehme an«, fuhr Christensen fort, »dass es eine Ihrer Firmen war, die den Aalstrup-Hof von der Kopenhagener Bank ersteigert hat und …«
Knud war inzwischen in leichten Trab verfallen und nahm nun zwei Stufen auf einmal. Er hatte die Arme erhoben und sah aus, als wollte er nach Kvist greifen, sobald er ihn in Reichweite hatte. Dazu brüllte er immer lauter seine Flüche. Kvist wirkte unsicher und gehetzt. Doch gerade als Christensen ihn packen und abführen wollte, sprang Kvist ins Haus zurück und schlug krachend die Tür hinter sich zu. Christensen und Knud standen da und starrten völlig perplex die geschlossene Haustür an.
Von drinnen waren Schritte zu hören, die sich schnell entfernten, dann einige Geräusche, die Christensen nicht zuordnen konnte, unterdrückte Rufe, ein Schmerzensschrei und ein seltsames Schnarren und Schleifen. Und schließlich schwang die Haustür wieder auf.
Albert Kvist stand vor ihnen – doch diesmal im eisernen Griff eines Mannes, der keine allzu große Mühe zu haben schien, ihn im Zaum zu halten. Der Mann war elegant gekleidet, und der linke Ärmel seines Maßanzugs war ein wenig nach oben gerutscht und gab den Blick frei auf eine teuer wirkende Uhr.
Fred, der sich aus seinem Versteck erhoben hatte, erkannte selbst auf diese Entfernung den Mann aus der Limousine, der dem Alten im Rollstuhl Bericht erstattet hatte. Wie auf ein Stichwort rollte nun auch ebendieser Alte vor Albert Kvists Doppelgarage und blieb mitten in der Einfahrt stehen, ohne sich um die anderen zu kümmern – weder um Fred und Lisa noch um den alten Fischer, der nun ebenfalls sein Versteck verlassen hatte.
»Albert!«, rief Villads Kvist zur Haustür hinauf. Das Gesicht seines Sohns wurde noch ein wenig bleicher, als es ohnehin schon gewesen war. »Komm her! Nicklas, lass ihn los.«
Der Anzugträger löste seinen Griff, und Albert trottete zu dem Rollstuhl hinunter wie ein Schüler, der sich vom Klassenlehrer eine Standpauke abholen muss. Søren Christensen und der Mann im Maßanzug folgten ihm. Knud dagegen blieb stehen, wo er war, und beobachtete alles aus sicherer Distanz.
Christensen nickte dem Alten zu, bevor er ihn den anderen präsentierte: »Das ist Villads Kvist, genannt Vito, der Vater von Albert Kvist. Und das hier …« Er deutete auf Lisa, um sie vorzustellen, aber der Alte winkte ab.
»Ich weiß, wer sie ist. Ich kenne alle Anwesenden bis auf diese beiden Männer.«
Vito Kvist deutete auf den alten Fischer und auf Knud.
»Das ist Harald Schenstrøm«, erklärte Christensen, »und oben an der Tür steht sein Freund Knud Aalstrup.«
Ein Schatten legte sich auf das Gesicht des Alten.
»Das ist Aalstrup?«
Christensen nickte. Vito Kvist betrachtete Knud eine Weile, bevor er den Mann im Maßanzug als Nicklas Balling vorstellte.
»Er ist Geschäftsführer meiner Firma Provenus ApS«, fügte er hinzu, bevor er sich an seinen Sohn wandte und mit schneidender Stimme hinzufüge: »Der einzige Geschäftsführer von Provenus!«
»Aber, Vater, du hast doch …«
»Schweig! Dort oben steht der lebende Beweis dafür, dass du es nicht wert bist, die Geschäfte dieser Firma zu führen. Du hast diesen armen Kerl übers Ohr gehauen, hast gelogen und betrogen, hast Beziehungen spielen lassen, um ihn in die Enge zu treiben. Und diese ganzen Spielchen hast du nicht etwa mit einem Rivalen getrieben, der dir ebenbürtig war, sondern mit diesem armen Wicht, der vermutlich gar nicht gemerkt hat, wie ihm geschah! Pfui Teufel!«
»Du hast mir den Auftrag gegeben, auf Lolland Grundstücke zu kaufen!«
»Ja, aber die Preise hier sind so niedrig, dass wir alle anständig bezahlen können und trotzdem unseren Schnitt machen! Gier ist der letzte Schritt vor dem Absturz, Albert! Maßhalten, nicht auffallen, in Ruhe kaufen und verkaufen – so kommt man am besten voran. Das hättest du im Lauf der Jahre eigentlich von mir lernen können.«
»Im Lauf der Jahre! Pah! Wo gibt es das sonst noch, dass ein Vater seinen einzigen Sohn so lange kleinhält und im eigenen Unternehmen nicht groß werden lässt!«
»Einziger Sohn?«
Die Stimme des Alten hatte einen gefährlichen Unterton angenommen.
»Ja, ich bin dein einziger Sohn! Micky ist tot, seit bald zehn Jahren, begreif das endlich!«
»Das weiß ich, daran musst du mich nicht erinnern! Niemand muss mich daran erinnern!«
Vater und Sohn starrten sich feindselig an, und es dauerte ein wenig, bis wieder einer der beiden das Wort ergriff.
»Du lässt mich nichts werden in der Firma, Vater – und das, obwohl ich dir mehrmals den Arsch gerettet habe!«
»Ach? Das wüsste ich aber!«
»Nimm doch nur diesen Ægir! Wie lange hast du auf ihn eingeredet, hast ihm gesagt, er soll die Grundstücke wieder abstoßen, weil dieser verdammte Fehmarnbelt-Tunnel noch immer nicht gebaut worden ist. Dabei sollte er die ganzen Grundstücke, die ihr zusammengekauft habt, so viel wertvoller machen, er sollte Lolland mehr Touristen und euch Geschäfte ohne Ende bringen! Hat er auf dich gehört? Nein, hat er nicht! Aber jetzt ist er tot, und du hast ein Testament von ihm, das dich als Alleinerben einsetzt. Da hast du dein Land und dein Geld, und du kannst endlich alle Grundstücke wieder verkaufen.«
»Ægir ist tot, aber das war ein Unfall, sagt die Polizei.«
Nur ganz kurz zog ein höhnisches Grinsen über Kvists Gesicht, doch Christensen hatte es bemerkt und trat neben Vito Kvist.
»Sie sind nicht besonders stolz auf Ihren Sohn, nehme ich an.«
»Das ist nichts, was ich mit Ihnen erörtern werde«, beschied ihm der Alte kühl.
»Sie verurteilen, was er Knud Aalstrup angetan hat.«
»Ich bin ein knallharter Geschäftsmann, aber wenn mir jemand so unterlegen ist wie dieser Knud …«
Vito Kvists Miene drückte deutlich aus, dass er jetzt am liebsten vor seinem Sohn ausgespuckt hätte.
»Und deshalb wollten Sie und Ihr Sohn Micky vor fast zehn Jahren auch hierher fahren, stimmt’s?«
Der Alte sah Christensen an, und sein erstarrtes Gesicht bestätigte dem Polizisten, dass er richtiglag.
»Ihr Sohn Albert hat geahnt, dass er Ärger bekommen würde«, fuhr er fort, »und er kam zu dem Schluss, dass es vielleicht besser wäre, wenn Sie und Micky erst gar nicht auf Lolland ankommen würden.«
Vito Kvist wurde blass.
»Das hat ja auch geklappt«, sagte Christensen. »Nach Mickys Tod hatten Sie sicher andere Sorgen, als Albert wegen seiner fragwürdigen Geschäftspraktiken zur Ordnung zu rufen. So verlief die Sache im Sand, und obendrein war nun auch für Albert der Weg frei, eines Tages Ihre Nachfolge anzutreten. Wobei ich ja glaube, dass er diese Nachfolge am liebsten direkt nach dem Unfall auf der Autobahn angetreten hätte.«
Vito Kvists bleiches Gesicht hatte inzwischen wieder Farbe angenommen, Wut loderte in seinen Augen, und die Finger umklammerten die Lehnen des Rollstuhls so fest, dass die Haut über den Knöcheln ganz weiß wurde. Albert schluckte, er spürte, dass sich die Situation nicht gut für ihn entwickelte.
»Du wirst doch diesem korrupten Bullen nicht glauben«, rief er aus und sah seinen Vater fast flehend an. »Der spinnt sich da was zusammen – wieso sollte ich denn einen Unfall inszenieren? Denk doch nur, wer mir da alles als Mitwisser hätte gefährlich werden können! Allein die beiden Lastwagenfahrer!«
»Von denen einer durch den Unfall starb«, knurrte Vito Kvist, »und der andere sich noch am selben Tag die Pulsadern aufschnitt.«
»Aber das ist doch Blödsinn, Vater! Lass dir da nichts einreden, bitte!«
»Ich wette, wenn ich mich ein bisschen umhöre, werde ich jemanden finden, der mehr über diesen Unfall weiß, als gut für dich ist.«
»Das traust du mir zu? Mir, deinem Sohn?«
Vito Kvist seufzte.
»Ja, leider.«
Er sah seinen Sohn lange mit traurigem Blick an. Schließlich gab er Nicklas Balling einen Wink.
»Nicklas, bitte.«
Balling zögerte einen Moment lang, dann holte er eine kleine Pistole aus der Jacketttasche und hielt sie Albert hin.
»Was soll ich damit?«, fragte der.
»Du bist es nicht wert, meinen Platz einzunehmen«, erklärte Vito Kvist. »Deshalb gebe ich dir jetzt die Chance, das Ganze sauber zu Ende zu bringen. Mach Schluss wie ein Mann, Albert, und beweise dieses eine Mal, dass du wirklich mein Sohn bist.«
Er warf Albert noch einen Blick zu, dann griff er in die Räder seines Rollstuhls und wendete sein Gefährt. Er war noch keinen Meter vorangekommen, als hinter ihm die Stimme seines Sohnes donnerte.
»Bleib hier, alter Mann! Ich bringe das Ganze jetzt wirklich sauber zu Ende, darauf kannst du dich verlassen! Wenn du mit einem Waschlappen wie diesem Knud Mitleid hast, wird es höchste Zeit, dass du Platz machst für einen, der deinen Laden besser führt und sich nicht mit solchen Skrupeln herumschlägt!«
Vito Kvist drehte seinen Rollstuhl wieder um und sah ruhig auf seinen Sohn, der mit der Pistole auf ihn zielte.
»Sei doch froh, dass ich Ægir Hoven für dich weggeräumt habe!«, rief Albert. »Es war ein Versehen. Wir haben uns gestritten, weil er nicht auf dich hören wollte und weil er mich nicht als gleichwertigen Partner akzeptiert hat. Mir ist die Sicherung durchgebrannt, und dann lag er auch schon tot vor mir auf dem Boden. Dass seine Leiche an Land geschwemmt wurde, obwohl ich ihn draußen in der Ostsee versenkt hatte – mein Gott, man kann auch mal Pech haben, oder? Es ist ja nichts weiter passiert, die Polizei hat einen Abschlussbericht geschrieben, und darin ist von einem Unfall die Rede.«
»Genauso wie nach dem Unfall, der mich in diesen verdammten Rollstuhl gebracht hat und Micky ins Grab.«
»Ja, genauso«, sagte Albert und grinste siegessicher. »Aber das bringe ich jetzt zu Ende, Vater.«
Und nach diesen Worten drückte er ab.
Søren Christensen hatte bemerkt, wie sich Alberts Körper anspannte, und er hatte sofort reagiert. Auch Fred hatte es kommen sehen und sprang nach vorn. Doch beide hatten keine Chance, den Mann zu entwaffnen, bevor er abdrückte, und Nicklas, der direkt neben ihm stand, rührte sich nicht.
Alberts Zeigefinger zog durch bis zum Anschlag, aber es war kein Schuss zu hören, sondern nur ein metallisches Klicken. Die Pistole war nicht geladen. Albert Kvists Grinsen erstarb, und auf ein knappes Nicken seines Vaters hin schlug Nicklas ihm die Faust gegen die Schläfe. Albert knickten die Beine weg, er ließ die Pistole fallen und schlug hart auf dem Boden der Einfahrt auf.
Von der Straße her waren zwei Autos zu hören, die sich in hoher Geschwindigkeit näherten. Bremsen quietschten, Türen wurden zugeschlagen, und dann rannten vier uniformierte Polizeibeamte herbei. Nicklas bückte sich und ließ die Pistole mit einer schnellen Bewegung in seiner Jacketttasche verschwinden.
Einer der Polizisten war der Cousin von Lisas Kollegin, der ihr den Kontakt zu Christensen vermittelt hatte – er nickte ihr grüßend zu. Ein anderer sah Christensen tadelnd an.
»Mensch, Søren«, schimpfte er, »hättest du doch was gesagt, dann hätten wir Martinshorn und Blaulicht eingeschaltet und wären schneller hier gewesen!«
»Alles gut«, sagte Christensen, und er hoffte, dass ihm der Kollege die gespielte Gelassenheit abnahm. »Ihr könnt ihn mitnehmen.« Er deutete auf Albert Kvist, der am Boden lag. »Betrug, Mord und Mordversuch.«
Der Kollege sah Christensen verdutzt an.
»Erklär ich euch alles später«, versicherte Christensen. »Jetzt nehmt ihr ihn erst mal mit, okay?«
Die beiden anderen Beamten zerrten Albert hoch, der dabei schon wieder halb zur Besinnung kam. Die linke Seite der Stirn hatte er sich auf dem Pflaster der Einfahrt blutig geschlagen, und auf der rechten Schläfe war der Abdruck einer Faust zu sehen. Der Kollege zog die richtigen Schlüsse und deutete auf Nicklas Balling.
»Sollen wir ihn auch gleich mitnehmen?«
»Nein, das wird nicht nötig sein. Das war Notwehr, ich kann’s bezeugen.«
Der Kollege schaute noch ein paarmal zweifelnd zwischen Nicklas Balling und Christensen hin und her, dann zuckte er mit den Schultern und drängte die anderen zum Aufbruch. Albert Kvist wurde auf die Rückbank des Streifenwagens verfrachtet, die Polizei fuhr davon, und dann kehrte wieder Stille ein.
»Ist die Waffe registriert?«, fragte Christensen den Alten.
»Nein.«
»Dann sollte ich sie den Kollegen bringen, als Beweisstück, wegen der Notwehr, Sie verstehen?«
»Ja, natürlich. Nicklas, gib ihm bitte die Waffe.«
Balling wischte den Griff der Pistole gründlich ab, bevor er sie Christensen überreichte.
»Und jetzt?«, fragte Vito Kvist.
»Na ja«, antwortete Søren Christensen, »früher in Kopenhagen hätte ich weitergebohrt, bis ich Sie drankriege, wegen Drogenhandels oder Geldwäsche oder was auch immer. Vielleicht auch wegen der Beteiligung an einem der Morde, die es in den vergangenen Wochen in Kopenhagen gab.«
Der Alte zuckte mit den Schultern und lächelte wehmütig.
»Diese Morde könnte man genau genommen auch meinem missratenen Sohn in die Schuhe schieben. Hätte er Ægir nicht verschwinden lassen, würden seither nicht all die Millionen brachliegen, die er waschen sollte. Und dann wäre keiner meiner Kollegen in Kopenhagen auf die Idee gekommen, dass sich irgendein Konkurrent dieses Geld unter den Nagel gerissen und alle Rivalen darum betrogen haben könnte. So kam’s zur ersten Leiche, und dann hat ein Mord zum nächsten geführt – wie das halt so ist, wenn bestimmte Leute nervös werden.«
»Geht das jetzt immer so weiter?«
»Nein, ich werde schauen, dass ich dem einen Riegel vorschiebe. Es ist ja auch ärgerlich, wenn einem ständig Mitarbeiter verloren gehen und man sich gar nicht mehr in Ruhe um seine Geschäfte kümmern kann, nicht wahr? Das Testament, in dem Ægir mich zum Alleinerben bestimmt, gibt es übrigens wirklich. Ich wollte die Sache nur eben lieber unter der Hand regeln. Zu viel Aufmerksamkeit ist in meiner Branche stets von Übel. Mir geht es nur um die Firmenanteile und die Vermögenswerte dieser Firmen. Was Ægir durch seine … nun ja … Transaktionen an Privatvermögen auf die Seite geschafft hat, interessiert mich nicht.« Er drehte sich zu Lisa und Fred. »Wären Sie so freundlich, seinem Neffen auszurichten, dass er diesen Teil des Erbes gern für sich beanspruchen kann? Soweit ich weiß, sollte es genügen, um seinen Verlag wieder flottzumachen und den Unterhalt seines skurrilen Schlösschen auf Jahre hinaus zu finanzieren.«
Ein Lächeln legte sich auf das faltige Gesicht von Vito Kvist, als er Lisa ansah.
»Aber vielleicht unterschreiben Sie doch lieber keinen Vertrag mit Hovens Verlag. Er ist ein Windbeutel, wissen Sie? Er schmeichelt Ihnen, bläst sich auf, tut ungeheuer wichtig – aber wenn es daran geht, Tantiemen auszubezahlen, hat er es plötzlich gar nicht mehr eilig. Es wäre schade um Ihre Krimis, wenn ausgerechnet Hoven die Hand auf der dänischen Übersetzung hätte.«
Lisas verdutztes Gesicht quittierte er mit einem noch breiteren Lächeln.
»Es ist gewissermaßen mein Job, möglichst viel über alle Leute zu wissen, mit denen ich zu tun habe«, fügte er noch hinzu, bevor er sich wieder an Christensen wandte.
»Kann ich zurück nach Kopenhagen?«
»Meinetwegen.«
Kvist schaute noch einmal in die Runde, dann blieb sein Blick an Knud Aalstrup hängen, und er fingerte eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche. Darauf waren eine Handynummer, eine Adresse in der Kopenhagener Egilsgade und der Firmenname VS Invest ApS abgedruckt.
»Er soll mich anrufen. Es würde mich wundern, wenn ich ihm nicht dabei helfen kann, dass er seinen Hof zurückbekommt.«
Vito Kvist nickte allen zum Abschied zu, winkte auch zu Knud hinauf und ließ sich schließlich von Nicklas aus der Einfahrt schieben.