KAPITEL 15

– Torrence –

M eine Mutter fuhr uns zum Flughafen. Sage hatte den Montgomery-Jet bestellt, um uns direkt nach Nassau auf den Bahamas zu fliegen. Alle gesuchten Objekte befanden sich auf verschiedenen unbewohnten – nun ja, scheinbar unbewohnten – Inseln der Bahamas.

Weder Reed noch ich waren jemals auf den Bahamas gewesen, also konnten wir uns nicht dorthin teleportieren. Karten und Bilder zu studieren, um zu versuchen, uns zumindest in die Nähe zu teleportieren, war zu riskant. Es war gut möglich, dass wir mitten im Ozean landen würden. Also blieb es bei einer gewöhnlichen Reise. Und es war gut, dass wir mit einem Privatflugzeug flogen, denn mit all den Tränken und Waffen, die wir im Gepäck hatten, wäre es nicht einfach gewesen, durch die Sicherheitskontrollen der von Menschen geführten Flughäfen zu kommen.

Wir flogen über Nacht, und sobald wir uns angeschnallt hatten, schliefen wir der Reihe nach ein. Im Morgengrauen landeten wir am Flughafen von Nassau, wo ein Auto auf uns wartete, das uns zu einem Bootsverleih brachte.

Thomas hatte dort eine der größten Jachten gechartert. Sie wurde inklusive Crew vermietet, aber dank Thomas’ Macht über Elektronik brauchten wir keine Hilfe. Der Besitzer zögerte, uns die Jacht ohne Besatzung zu überlassen, aber Thomas schaffte es, ihn … zu überzeugen.

Wir beobachteten vom Oberdeck aus, wie die Jacht ablegte. Ich stützte meine Arme auf die Reling und atmete die salzige Meeresluft tief ein. Anders als bei den Vampirkönigreichen wagten wir uns hier auf unbekanntes Terrain. Und obwohl ich aufgeregt war, hatte ich auch Angst davor, was passieren könnte, wenn wir scheiterten.

Wir werden nicht scheitern , sagte ich mir. Wir werden König Devin seine Gegenstände bringen und Selena zurück nach Hause holen. Und dann wird alles wieder normal.

Ob wir Selena retten würden, hing von so vielen Dingen ab … Der Druck lastete unendlich schwer auf meinen Schultern. Alles, was ich tun konnte, war, mich auf einen Schritt nach dem anderen zu konzentrieren. Das bedeutete im Augenblick, der Karte zu folgen und das erste Objekt zu finden.

Wir konnten das schaffen.

Thomas stoppte die Jacht, als wir so weit von Nassau entfernt waren, dass die Insel kaum mehr als ein Punkt in der Ferne war. „Torrence und Reed“, sagte er. „Es ist an der Zeit, den Barrierezauber zu sprechen.“

Hexen konnten keine Barrierezauber um bewegliche Objekte legen. Aber Reed hatte geschworen, dass er als Magier mächtig genug war, um genau das zu tun – vor allem mit der Unterstützung durch meine Magie. Hoffentlich hatte er recht. Denn wenn wir erst einmal mit dem Einsammeln der Gegenstände begonnen hatten, konnten wir sie nur noch auf der Jacht lagern. Wir brauchten einen Barrierezauber, um zu verhindern, dass irgendjemand – oder irgendetwas – versuchte, sie zu stehlen.

Wir gingen unter Deck und stellten uns in der Mitte des modernen Wohnbereichs auf. Barrierezauber dehnten sich nach außen aus, also war es am besten, sie im Zentrum des Bereichs zu sprechen, den man schützen wollte.

„Nimm meine Hände“, sagte Reed und reichte mir seine.

Ich tat, was er sagte. Seine Hände waren erstaunlich weich, warm und beruhigend. Und die Art, wie er mich mit diesen dunklen, geheimnisvollen Augen ansah …

Hör auf , sagte ich mir. Du darfst nicht so über ihn denken. Er ist ein Idiot. Und er hat eine Freundin in Mystica.

„Torrence?“, sagte er und riss mich aus meinen Gedanken.

„Ja?“

„Bist du bereit, anzufangen?“

„Jep“, sagte ich. „Lass es uns tun.“

Gemeinsam sangen wir die lateinischen Formeln, um den Barrierezauber zu sprechen. Seine gelbe Magie und meine violette flossen aus unseren Händen, umschlangen sich gegenseitig und bildeten eine funkelnde Kugel um uns herum. Seine Augen waren auf die meinen gerichtet und hielten mich in seinem intensiven – und ermutigenden – Blick gefangen.

Wir sangen weiter, und meine Magie strömte schneller als je zuvor aus mir heraus. Sie wirbelte so wild um uns herum, dass mir die Haare ins Gesicht peitschten. Unsere Magie war ein Tornado, und wir standen mitten im Zentrum.

Meine Magie war schon immer stark gewesen. Aber sie hatte noch nie Wind erzeugt.

Reed packte meine Hände fester und sang lauter. Ich tat es ihm gleich. Seine Augen leuchteten mit seiner gelben Magie – und obwohl das bei Hexen normalerweise nie vorkam, taten meine Augen vermutlich das Gleiche. Denn plötzlich sah ich alles wie durch eine hellviolette Linse.

Er nickte mir zu, und ich spürte, was er damit sagen wollte.

Tu es jetzt.

Ich nickte. Wir ließen unsere Magie los, verbanden sie mit der Jacht und schufen eine schützende Blase um sie herum. Das gesamte Boot – und die Blase um es herum – blitzte gelb und violett auf, wie in einem elektrischen Sturm.

Die letzten Reste der Magie lösten sich aus unseren Händen, und wir hörten auf zu singen. Der bunte Schild um das Boot verblasste und wurde weitgehend durchsichtig. Man konnte ihn nur erkennen, wenn man wusste, wo man hinschauen musste.

Wow .

Mein Herz klopfte so schnell wie nach einem anstrengenden Workout. Irgendwie konnte ich Reeds Herzschlag durch meine Hände spüren, und er war mit meinem perfekt synchronisiert. Ich stand wie betäubt da, berauscht von einem unglaublichen Gefühl der Macht. Ich wusste, dass es ihm genauso ging. Was auch immer unsere Magie gerade getan hatte … es war nicht normal. Zumindest hatte ich noch nie von so etwas gehört.

„Torrence?“ Er sagte meinen Namen langsam, als würde er um Fassung ringen.

Ich blinzelte. „Hat es funktioniert?“, fragte ich.

„Thomas und ich werden das Boot wieder in Gang bringen, um es auszuprobieren“, sagte Sage. Sie ging auf die Treppe zu, die zum Oberdeck hinaufführte, hielt bei der ersten Stufe aber inne. „Komm mit, Thomas. Du bist der Kapitän von diesem Ding.“

„Die Steuerung ist komplett elektronisch. Ich kann dem Boot auch von hier aus sagen, wo es lang soll.“

„Aber von dort oben können wir besser sehen.“ Sage warf einen vielsagenden Blick auf mich und Reed, dann sah sie wieder zu Thomas. „ Komm schon .“

Thomas öffnete seinen Mund, um zu widersprechen. Aber dann nickte er bloß und folgte Sage.

Meine Wangen wurden heiß. Sie hatten uns absichtlich allein gelassen. Wie peinlich.

„Du kannst meine Hände jetzt loslassen“, sagte Reed. „Es sei denn, du versuchst ganz bewusst, meine Durchblutung abzuschneiden.“

Ich schaute auf unsere Hände. Und tatsächlich: Seine Finger waren schon ganz rot.

„Tut mir leid.“ Ich löste meinen Klammergriff und rieb mit den Handflächen über meine Jeans. „Das war …“

Ich brach ab und blickte mich im Wohnbereich um, immer noch verblüfft von der unglaublichen Magie, die wir gerade gewirkt hatten.

Er starrte mich an und wartete darauf, dass ich fortfuhr.

Konzentrier dich, sagte ich mir. Du klingst wie ein stammelnder Idiot.

„Hast du es auch gespürt?“, fragte ich.

„Was gespürt?“

„Die Magie …“, sagte ich. „Diese Macht . Es war unglaublich. Als würde sich unsere Magie gegenseitig befruchten. Sich irgendwie verstärken.“

Er erstarrte, ausdruckslos. Dann verengten sich seine Augen, und er sah mich an, als ob er sich vor mir ekelte .

Auf einmal hatte ich eine Gefühl von Enge in der Brust. Ich trat zurück und blickte auf die Stufen, die zum Oberdeck führten, bereit zu fliehen.

„Natürlich hat sich deine Magie verstärkt.“ Er ging zur Bar und schenkte sich ein kleines Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit ein. Irgendeine Art von hartem Alkohol. „Ich bin mächtiger als du. Du hast meine Magie gespürt – nicht deine. Dieser Zauber hat sich für mich nicht anders angefühlt an als jeder andere.“ Er nahm einen Schluck und verzog den Mund. „Verdammt“, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Die Menschen könnten noch einiges von den Botanikern in Mystica lernen …“

Er stellte das Glas angewidert zurück auf den Tresen.

Eine unbändige Wut stieg mir in den Kopf. Warum hatte Reed immer das Bedürfnis zu beweisen, dass die Magier alles besser konnten als die Übernatürlichen der Erde und Avalons?

„Ich weiß, dass Magiermagie stärker ist als Hexenmagie.“ Ich straffte meine Schultern und hielt seinem Blick stand. „Aber das macht dich nicht zu etwas Besserem.“

„Habe ich das gesagt?“, fragte er.

Nicht direkt .

Reed lächelte mich mitleidig an. „Keine Sorge, kleine Hexe. Es ist okay, wenn du dich nach dem Rausch meiner Macht sehnst. Ich werde es niemandem sagen.“

Und dann besaß er tatsächlich die Frechheit, zu zwinkern .

„Ich sehne mich nicht nach deiner Magie“, log ich.

Seinem amüsierten Gesichtsausdruck nach zu urteilen glaubte er mir kein Wort.

So ein Idiot.

Ich hatte genug von seiner Arroganz.

Ich marschierte zur Bar, starrte ihn herausfordernd an und nahm das Glas in die Hand, das er abgestellt hatte. Die Flüssigkeit darin roch nach Benzin, aber ich nahm trotzdem einen Schluck.

Es kostete mich all meine Willenskraft, nicht zu husten und das Gesicht zu verziehen. „Ich weiß nicht, wovon du redest. Das ist köstlich“, sagte ich und zwang mich, noch einen Schluck zu nehmen. Diesmal war ich ein bisschen besser vorbereitet. Aber trotzdem – igitt .

Er hob eine Augenbraue. „Du hast schon mal Whiskey getrunken?“

„Natürlich habe ich schon mal Whiskey getrunken.“ Ich warf mein Haar über die Schulter und lehnte mich gegen die Bar. „Ich lebe nicht nur auf Avalon, weißt du.“

„Richtig“, sagte er. „Du verbringst deine Wochenenden auf der Erde.“

„Genau.“ Ich nahm noch einen Schluck und merkte langsam, wie albern das war. Whiskey in meine Kehle zu zwingen, bewies gar nichts. Erst recht nicht, dass ich so stark war wie Reed. Oder dass ich nicht von seiner Magie berauscht werden würde, wenn wir in Zukunft noch einen weiteren Zauber zusammen wirken müssten.

Aber ich wollte jetzt keinen Rückzieher machen. Also nahm ich noch einen Schluck. Ich kippte den Whiskey hinunter, als wäre er das reinste Weihwasser.

Er grinste, als ob er darauf wartete, dass ich auch nur einen Hauch von Abneigung zeigen würde. Was ich nicht tat.

„Genieß deinen Whiskey“, sagte er schließlich. „Ich werde mir die Kojen ansehen und mich einrichten.“ Er nahm seine Reisetasche und machte sich auf den Weg zu den Zimmern, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Ich hörte, wie er eine Tür öffnete und sie wieder schloss.

Als ich sicher war, allein zu sein, nahm ich das Glas Whiskey, hielt meine Nase zu und schüttete den Inhalt in die Spüle.