KAPITEL 22

– Torrence –

W ir versammelten uns um den Tisch, auf dem die Karte ausgebreitet lag.

„Die Insel der Kirke ist nicht weit von hier.“ Thomas zeichnete den Weg mit seinem Finger nach. „Fünfundvierzig Minuten, höchstens. Ich halte das Boot an, bis wir uns überlegt haben, wie wir an ihren Stab kommen.“

Der Motor der Jacht wurde augenblicklich ruhig.

„Sieht so aus, als könnten wir gleich zwei Objekte an einem Tag bekommen.“ Sage lehnte sich zurück und lächelte. „Wenn das so weitergeht, sind wir im Handumdrehen in der Anderswelt.“

„Wir sollten nicht übermütig werden“, sagte Thomas. „Kirke ist kein gewöhnliches Ungeheuer. Sie ist eine unsterbliche Zauberin. Sie ist stärker als Hexen und Magier. Ihren Stab zu stehlen, wird bestimmt nicht leicht.“

„Wir haben das Moly, um ihrer Magie zu widerstehen“, sagte ich. Moly war das Kraut, das Odysseus in der Odyssee benutzt hatte, um sich vor Kirke zu schützen. Zum Glück führte meine Mutter eine sehr umfangreiche Hausapotheke. „Das ist zumindest ein guter Anfang.“

„Vielleicht sollten wir uns ein Beispiel an Odysseus nehmen“, sagte Thomas. „Der hat zunächst sein Schwert gegen Kirke gezogen – aber sie hat ihn eingeladen, mit ihr ins Bett zu gehen. Sobald Kirke schläft, kann Reed den Stab stehlen, und dann machen wir uns aus dem Staub.“

Reed schreckte auf. „Ich?“

„Kirke wird in sämtlichen Berichten als unglaublich schön beschrieben“, sagte Thomas. „Eine Nacht mit ihr wäre sicher nicht das Schlimmste auf der Welt.“

„Wenn du das denkst, warum tust du es dann nicht?“

„Weil ich meine Gefährtin nie betrügen würde.“ Thomas rückte näher an Sage heran und griff unter dem Tisch nach ihrer Hand.

„Und ich würde meine Verlobte nie verraten.“ Reed starrte ihn herausfordernd an.

„Verlobte?“ Ich legte den Kopf schief und musterte Reed. Ich spürte Eifersucht in mir hochkochen. „Du hast eine Verlobte ?“

„Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass in Mystica jemand auf mich wartet“, sagte er.

„Ich dachte, du hättest eine Freundin. Keine Verlobte.“ Das Wort fühlte sich auf meiner Zunge seltsam an. Reed war siebzehn. Wer verlobte sich schon mit siebzehn? War das überhaupt legal?

„Du bist eifersüchtig“, sagte er schlicht.

„Ach was. Warum sollte ich eifersüchtig sein?“

Reed machte sich nicht die Mühe, die Frage zu beantworten. Stattdessen starrte er mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich nicht zu deuten wusste. Vor dem heutigen Tag hätte er jetzt definitiv einen sarkastischen Kommentar zum Besten gegeben. Seit dem Zauberspruch hatte sich definitiv etwas zwischen uns verändert. Und so sehr er es auch abstreiten mochte, ich war mir sicher, dass er es ebenso spürte.

„Nun.“ Sage unterbrach grinsend die Spannung zwischen uns beiden. „Wer auch immer dein Herz in Mystica gestohlen hat, muss ein glückliches Mädchen sein.“

„So ist es nicht“, sagte er. „Die Prinzessin und ich sind verlobt, seit wir Kinder waren.“

Toll! Er ist nicht nur verlobt, sondern auch noch mit einer Prinzessin. Wie viel schlimmer kann das noch werden?

Ich konnte ihn nicht einmal ansehen. Er hatte mich für heute schon genug gedemütigt. Und das wollte viel heißen, denn ich war nicht der Typ Mädchen, der sich den Kopf über Kerle zerbrach.

„Es handelt sich also um eine politische Heirat“, vermutete Thomas.

„So ist es.“ Reed nickte. „Aber die Heirat wird nicht nur meiner Familie zugutekommen. Ich kenne die Prinzessin schon so lange, wie ich denken kann. Sie ist eine meiner engsten Freundinnen. Ich werde sie nicht entehren, indem ich einen One-Night-Stand mit einer Zauberin habe. Ganz gleich, wie bezaubernd diese Zauberin angeblich sein soll.“

„Du liebst sie also nicht?“ Die Worte purzelten aus meinem Mund, bevor ich sie aufhalten konnte.

Er erstarrte, riss sich aber schnell wieder zusammen. „Ich respektiere sie, und ich schätze unsere Freundschaft“, sagte er. „Aber nein, ich liebe sie nicht. Zumindest nicht im romantischen Sinne.“

„Und das weiß sie?“

„Sie sieht das genauso“, sagte er. „Warum das plötzliche Interesse an der Politik von Mystica?“ 

Weil der Gedanke, dass du jemanden heiratest, den du nicht liebst, mich krank macht. Du verdienst etwas Besseres.

„Wie du während deiner Zeit auf Avalon sicher gemerkt hast, unterscheiden sich eure Bräuche in Mystica sehr von unseren“, schaltete sich Sage ein. „Ein wenig Neugierde sollte dich nicht überraschen.“

„So ist es in den adligen Familien von Mystica schon immer gehandhabt worden.“ Er richtete sich auf und schien geradezu stolz auf die mittelalterlichen Sitten seines Reiches. „Die einzige Ausnahme wäre …“ Seine Augen fixierten die meinen und ließen mir den Atem stocken. Aber er fuhr nicht fort.

„Die einzige Ausnahme wäre was?“, fragte ich.

„Schon gut.“ Er winkte die Frage ab. „Es ist unwichtig, und wir sind vom Thema abgekommen.“

„Ich wollte gerade dazu zurückkehren“, sagte Thomas, und alle Augen richteten sich auf ihn. „Während ihr drei geplaudert habt, habe ich nachgedacht. Wenn wir Kirke nicht verführen können, sollten wir die Sache vielleicht auf die altmodische Art angehen.“

„Welche Art ist das?“, fragte ich.

„Wir starten einen Überraschungsangriff, töten Kirke und nehmen ihren Stab“, sagte er, als läge das auf der Hand.

„Genau mein Gedanke“, sagte Sage.

Ich schaute schockiert zwischen den beiden hin und her. „Das kann doch nicht euer Ernst sein“, sagte ich, obwohl es nicht im Entferntesten so aussah, als hätten sie einen Witz gemacht.

„Ich weiß, dass es schwierig wird, Kirke zu töten“, sagte Thomas. „Aber sie ist allein und wir sind zu viert. Wenn wir sie unvorbereitet erwischen, sehe ich keinen Grund, warum wir es nicht schaffen sollten.“

„Das habe ich nicht gemeint“, sagte ich.

„Was ist dann das Problem?“

„Das Problem ist, dass Kirke kein hirnloses Monster oder ein Dämon ohne Gewissen ist“, sagte ich empört. „Sie ist eine Person. Mit Gedanken und Gefühlen. Wir können sie nicht kaltblütig töten. Das verstößt gegen alles, was man uns auf Avalon beigebracht hat.“

Sage wandte sich mir zu, ihre Augen waren sanft. „Auf Avalon wird uns beigebracht, keine Unschuldigen zu töten“, sagte sie. „Aber Kirke ist keine Unschuldige. Seit Tausenden von Jahren verwandelt sie die Männer, die sich auf ihre Insel verirren, in Tiere. Wenn wir Kirke ein Ende setzen, retten wir alle Männer, die in Zukunft auf ihre Insel stoßen.“

„Und wenn wir ihren Stab bekommen, haben wir eine Chance, Selena zu retten“, fügte Reed hinzu. „Deshalb sind wir doch hier, oder?“

„Natürlich sind wir das.“ Ich kniff die Augen zusammen. Reed wusste viel zu genau, was er sagen musste, um mich zu überzeugen. „Also gut.“ Ich wandte mich an Thomas. „Wie genau sollen wir diesen Überraschungsangriff durchführen?“

„Ich bin froh, dass du fragst“, sagte er lächelnd, und dann erzählte er uns von seinem Plan.