– Torrence –
W ir mussten nicht lange laufen, bis wir das andere Ende der Höhle erreicht hatten. Dahinter lag ein riesiger kreisförmiger Platz, umgeben von Klippen, die mindestens fünfmal so hoch waren wie ich.
In der Mitte des Platzes führten breite Stufen hinauf zu einem eindrucksvollen Marmorpalast, dessen Eingang von hohen Säulen gesäumt wurde. Wölfe streiften am Fuße der Stufen umher, aber sie ließen uns ungestört passieren. Oben angekommen sahen wir eine Frau vor dem Palast sitzen – sie hatte lange dunkle Haare und sang vergnügt, während sie bunte Fäden durch ein riesiges Spinnrad zog. Kirke.
Als sie uns bemerkte, hörte sie abrupt auf zu singen und griff nach etwas neben ihr. Es war ein goldener Stab. Sie stand auf und rückte ihr Diadem zurecht. In ihrem gelben und blauen Gewand sah sie aus wie eine Göttin aus den Kinderbüchern über griechische Mythen.
„Willkommen, Reisende“, sagte sie mit einem Lächeln. „Was führt euch zu meiner bescheidenen Bleibe?“
Ich unterdrückte ein Lachen. Der Palast hinter ihr konnte kaum als bescheiden bezeichnet werden.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung“, begann Reed verlegen. „Wir sollten unseren Reiseleiter auf der Insel treffen. Aber wir konnten niemanden finden. Dann haben wir Ihren Gesang gehört und sind ihm hierher gefolgt. Wir haben gehofft, Sie könnten uns helfen.“
„Das Reiseunternehmen heißt Exuma’s Excellent Adventures “, warf Sage ein. „Haben Sie schon einmal davon gehört?“
„Ah, natürlich“, sagte Kirke. „Ich fürchte, ihr seid zu früh dran. Euer Reiseleiter wird frühestens in einer Stunde hier sein. Warum kommt ihr nicht rein und esst mit mir zu Mittag, während ihr wartet?“
Sie musste Magie in ihre Worte legen. Niemand, der bei klarem Verstand war, würde glauben, dass es zu früh für Reisetouren war. Oder Zeit fürs Mittagessen.
„Das wäre fantastisch!“ Ich lächelte und umklammerte mein Handtuch ein wenig fester. „Ich bin am Verhungern.“
Wir folgten ihr durch die hohen Säulen und durch eine prächtige Halle. „Ich heiße Kirke“, sagte sie, als sie die Türen zu einem überraschend gemütlichen Speisesaal öffnete. „Und ihr könnt mich ruhig duzen. Ich habe schon lange bevor sie zu einem Touristenziel wurde auf dieser Insel gelebt. Ich freue mich immer über Besuch.“
„Du hast ein wunderschönes Haus, Kirke“, sagte ich mit einem hoffentlich naiv aussehenden Lächeln.
„Danke, meine Liebe.“ Sie wies auf die gepolsterten Stühle. „Bitte, nehmt Platz. Ich bringe euch gleich etwas zu essen.“
Wir setzten uns und hielten unsere Handtücher griffbereit.
Fünf Minuten später rollte Kirke einen Wagen mit fünf Schalen Suppe, Löffeln und Weingläsern herein. Die Suppe war dunkelgelb und sie roch köstlich.
Die ganze Zeit über legte Kirke ihren Stab nicht aus der Hand. Es war so verlockend, sich sofort auf ihn zu stürzen. Aber wir mussten sie so unvorbereitet wie möglich erwischen. Wir mussten also warten, bis sie dachte, dass wir völlig von ihrer Magie benebelt waren.
„Käseeintopf, meine Spezialität“, sagte sie und stellte jedem von uns eine Schüssel hin. Ein süßer magischer Duft stieg von ihr auf. Er erinnerte mich an Honig. Kirke stellte die letzte Schüssel an das Kopfende des Tisches und setzte sich. „Guten Appetit!“
Hoffentlich funktioniert das Moly , dachte ich, als ich den Löffel zum Mund hob.
Der Eintopf schmeckte genauso gut, wie er roch. Auch die anderen seufzten und schlürften zufrieden.
Währenddessen stellten wir vier uns vor und erzählten Kirke von unserem angeblichen Urlaub auf den Bahamas. Es war nicht schwer, sich Details auszudenken, und sie schien nichts davon in Frage zu stellen. Wir rührten den Wein kaum an, taten aber trotzdem so, als wären wir langsam betrunken – denn vermutlich würde die Magie eine ähnliche Wirkung auf uns haben wie der Alkohol.
Als wir alle fertig gegessen hatten, legte Kirke ihren Löffel in ihre leere Schüssel. „Freut mich, dass euch der Eintopf geschmeckt hat“, sagte sie. „Und nun zum besten Teil: mein hausgemachter Dessertwein.“ Sie lächelte freundlich, stand mit ihrem Stab in der Hand auf und stellte unser schmutziges Geschirr zurück auf den Wagen. Dann schob sie ihn aus dem Raum.
In dem Moment, als sie uns den Rücken zuwandte, sprang Reed aus seinem Stuhl und schoss einen Schwall gelber Magie auf sie. Sage und Thomas verwandelten sich in Wölfe, und ich griff nach meinem Dolch.
Kirke wirbelte herum und schleuderte golden leuchtende Magie aus der Spitze ihres Stabes, um Reeds hellgelbe Magie abzuwehren. Gleichzeitig erzeugte sie mit der anderen Hand ein Kraftfeld, das Sage und Thomas mitten im Sprung zu Boden warf. Ich rannte nach vorne, um anzugreifen, aber die Spitze meines Messers prallte gegen eine fast durchsichtige Wand aus goldener Magie.
Reed stöhnte, und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, während er seinen magischen Strahl gegen den von Kirke drückte. Kirke dagegen schien sich nicht im Geringsten anzustrengen. Und ihre dunklere, goldene Magie drängte immer näher an ihn heran.
Ich konzentrierte mich und versuchte, die Magie einzusetzen, mit der ich mich vor Skylla geschützt hatte. Doch nichts passierte.
Reeds Barriere umfasste nur noch wenige Millimeter, und er schloss vor Anstrengung die Augen. Aber es war zwecklos. Ihre Magie verschluckte die seine und umschloss ihn in einer Kugel aus goldenem Licht.
Er schimmerte, sah mir ein letztes Mal in die Augen und verschwand. An seiner Stelle stand ein Schwein.
Kirke nahm das Kraftfeld weg, das uns festhielt, richtete ihren Stab auf Thomas und verwandelte ihn ebenfalls in ein Schwein.
Sage und ich nutzten die Chance für einen Gegenangriff. Aber das Kraftfeld war längst wieder aktiv.
„Ich weiß nicht, was für Zauberer ihr seid“, sagte Kirke, ihre Stimme deutlich weniger sanft als zuvor. „Aber ich bin stärker als ihr. Bleibt zurück, oder ich werde eure Liebhaber schlachten und euch zwingen, sie zum Abendessen zu verspeisen.“
Sage nahm wieder ihre menschliche Gestalt an und hob besiegt die Hände.
Ich legte vorsichtig mein Messer auf den Boden und tat dasselbe. Ich wusste nicht, ob Kirke auch Frauen in Schweine verwandelte. Aber im Augenblick wollte ich das nicht herausfinden.
Kirke nickte und senkte ihr Kraftfeld. „Ich habe einige Fragen an euch“, sagte sie. „Warum setzen wir uns nicht wieder hin. Und versucht nicht, mich ein weiteres Mal anzugreifen. Ich bin eine Frau, die zu ihrem Wort steht, und das Leben eurer Liebhaber bedeutet mir nichts.“
„Reed ist nicht mein Liebhaber“, murmelte ich.
„Bitte. Ich habe gesehen, wie du ihn angeguckt hast“, sagte sie. „Wenn er nicht dein Liebhaber ist, dann wünschst du, er wäre es.“
Ich presste die Lippen aufeinander und errötete, während ich das Schwein, das einmal Reed gewesen war, ansah. Sobald er und Thomas zurückverwandelt waren und wir mit Kirkes Stab davonsegelten, würde er mir das bestimmt übel nehmen.
Aber fest stand, dass wir gerade keine Chance hatten, Kirke zu besiegen. Wir mussten sie hinhalten und uns eine neue Strategie ausdenken. Wenn Kirke also reden wollte, umso besser. Wir würden reden.
Sage muss dasselbe gedacht haben, denn sie kehrte schweigend mit mir zum Tisch zurück.
Kirke nahm wieder ihren Platz am Kopfende des Tisches ein. „Den Dessertwein brauchen wir nicht mehr“, sagte sie. „Die Herren sollten ein besonderes Gebräu trinken, das sie in Schweine verwandelt. Aber das ist jetzt offensichtlich nicht mehr nötig.“ Sie warf einen stolzen Blick auf die Schweine, die hinter mir grunzten. „Ihr beide dagegen solltet ein Getränk bekommen, das euch weiter entspannt, damit wir uns hier auf der Insel miteinander amüsieren können. Später hätte ich eure Erinnerungen an euren Aufenthalt hier gelöscht und euch wieder abreisen lassen. Aber jetzt bezweifle ich, dass das funktioniert hätte. Immerhin hatte schon der Trank im Eintopf keine Wirkung auf euch. Ich würde gern wissen, warum. Also, erklärt es mir: Wie habt ihr das gemacht?“ Sie lehnte sich entspannt zurück, als hätte sie alle Zeit der Welt.
Nun, da sie unsterblich war, stimmte das sogar.
Sie darf nichts von dem Moly erfahren , dachte ich. Sonst wird sie einfach warten, bis seine Wirkung nachgelassen hat, und uns dann mit ihren Tränken verzaubern. Was bedeutet …
„Wir sind übernatürlich!“, sagte ich schnell. „Weil wir übernatürlich sind, sind wir immun gegen deine Tränke.“
Vielleicht stimmte das ja sogar. Sage nickte zustimmend.
Kirkes Augen verengten sich misstrauisch. „Die Übernatürlichen wissen nichts von den alten Unsterblichen, die unerkannt auf der Erde leben“, sagte sie. „Sie halten unsere Existenz für einen Mythos. Wenn ihr das seid, was ihr vorgebt zu sein, dann hättet ihr nicht einmal in der Lage sein sollen, meine Insel auch nur zu sehen . Und doch seid ihr hier. Und ich will wissen, warum.“