KAPITEL 30

– Selena –

A ls ich am Nachmittag das Badehaus betrat, traf ich auf die letzte Person, die ich sehen wollte: Octavia.

Sie saß in der Badewanne, umgeben von Schaum und Blasen, die im Licht ihrer ozeanblauen Flügel schimmerten. Sie hatte ihren Kopf zurückgelehnt, und ihre Augen waren geschlossen. Es sah aus, als würde sie schlafen.

In der Regel ging sie nur kurz duschen, um schnell wieder zu ihren Mitstreitern zurückzukehren. Sie war eigentlich immer umgeben von anderen. Jetzt, wo sie alle weg waren, musste sie sich wohl keine Sorgen mehr machen, dass sich jemand gegen sie verschwören könnte. Sie konnte endlich allein sein.

Ich machte kehrt und lief auf Zehenspitzen zurück zur Tür – in der Hoffnung, zu verschwinden, bevor sie meine Anwesenheit bemerkte.

„Selena“, sagte sie und hielt mich auf. „Gehst mir wohl aus dem Weg, was?“

Ich drehte mich um. Sie hatte ihren Kopf gehoben und sah mich direkt an.

„Wir haben während der gesamten Spiele kaum miteinander gesprochen“, sagte ich. „Ich habe nicht die Absicht, das jetzt zu ändern.“

„Das überrascht mich nicht.“ Sie setzte sich auf, von Schaum bedeckt. „Du hältst dich für so viel besser als der Rest von uns, nicht wahr?“

„Nein. Das tue ich nicht.“

„Lügnerin.“

„Du bist diejenige, die von Anfang an mit ihren kleinen Lakaien durch das Haus marschiert ist, als ob du die Spiele schon gewonnen hättest“, sagte ich. „Aber sieh dich um. Wo sind deine Lakaien jetzt?“

„Tot.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wie du es sein solltest. Aber du bist einfach nicht totzukriegen … nicht wahr, Selena?“

Sie zerdrückte mit jedem Wort eine Schaumblase. Aber ihre Stimme klang säuselnd. Sie kicherte sogar ein wenig. Octavia war am Durchdrehen. Die Spiele hatten uns alle auf irgendeine Weise gebrochen, auch sie.

Aber sie war nicht von Anfang so gewesen. Zumindest glaubte ich das nicht. Und es gab eine Frage, die ich ihr die ganze Zeit schon hatte stellen wollen …

„Du wolltest mich vom ersten Tag an tot sehen“, sagte ich. „Warum?“

„Du hast keine Ahnung, wie mein Leben war.“ Sie lehnte sich in der Wanne nach vorne, ihre Augen verengten sich. „Mein Vater ist aus dieser gottverlassenen Stadt geflohen, als ich sieben Jahre alt war. Er war auf der Suche nach einem geheimen Zufluchtsort für Halbblüter – darüber erzählt man Halbblutkindern Geschichten, damit wir nachts besser schlafen können. Er hat versprochen, mich und meine Mutter nachzuholen, sobald er den Ort gefunden hat.“ Sie lachte halbherzig, und ich wusste, was sie als Nächstes sagen würde. „Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Wahrscheinlich wurde er von den Monstern im Norden zerfleischt.“

Ich wollte nichts über Octavias Leben hören. Ich wollte keinen Hauch von Mitleid für das Mädchen empfinden, das meine beste Freundin gefoltert und sie dabei auch noch verhöhnt hatte. Aber meine Füße waren wie angewurzelt.

„Und dann war da noch meine Mutter – meine arme , schwache Mutter.“ Sie lächelte, als hätte sie einen Scherz gemacht. „Sie hat zwei Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass mein Vater nicht zurückkommen würde. Danach war sie nie mehr ganz richtig im Kopf. Sie konnte kaum irgendetwas leisten, geschweige denn einen Job behalten. Da ihr Verstand zu nichts zu gebrauchen war, benutzte sie das Einzige, was sie noch hatte, um uns ein Dach über dem Kopf zu geben: ihren Körper.“

„Sie hat sich für die Feen prostituiert“, sagte ich.

„Nicht für die Feen.“ Octavia lachte wieder. „Meine Mutter war keine Kurtisane, jedenfalls nicht in ihrem Zustand. Also hat sie sich an andere Halbblüter verkauft. Dann, als ich elf Jahre alt war, hatte sie trotz ihres kaputten Verstandes einen Einfall. Weißt du, Männer zahlen einen anständigen Betrag für eine erwachsene Frau. Aber es gibt da draußen einige, die Lust auf Jüngere haben. Für Kinder bezahlen sie das Doppelte. Noch mehr, wenn das Kind eine Jungfrau ist.“

Auf einmal fühlte ich mich innerlich ganz taub. „Du hast doch nicht …“

„Nein.“ Sie lachte ein weiteres Mal auf, aber diesmal klang es düster. „Sie hat ihn in mein Zimmer geführt. Mir gesagt, ich solle auf ihn hören und alles tun, was er sagt. Dann hat sie mich mit ihm allein gelassen. Aber in dem Moment, als ich begriff, was er von mir verlangte … was sie geschehen lassen würde …“ Sie erschauderte, als wäre sie wieder in diesem Zimmer und würde jede einzelne schreckliche Sekunde noch einmal durchleben. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf mich. „Ich habe ihn getötet“, sagte sie. „Als er sich über mich gebeugt hat, habe ich ihm einen Stift von meinem Nachttisch in die Kehle gerammt. Immer und immer wieder. Ich hasste ihn, ich hasste meinen Vater, dafür dass er mich verlassen hatte, und ich hasste meine Mutter dafür, dass sie versucht hatte, meinen Körper zu verkaufen. Und jedes Mal, wenn ich den Stift in ihn rammte … jedes Mal, wenn ich ein weiteres blutiges Loch in seinem Körper hinterließ … fühlte ich mich besser. Ruhiger. Ich hatte die Kontrolle. Genau wie vor ein paar Wochen, als ich mir mit deiner lieben, süßen Cassia Zeit gelassen habe.“

Jedes Mitleid, das ich für Octavia empfunden hatte, erlosch in dem Moment, als sie Cassias Namen nannte.

„Du hast es genossen. Und du genießt es jedes Mal, wenn du jemanden tötest. Nicht wahr?“

„Du redest, als wärst du so viel besser als ich“, spottete sie. „Aber das bist du nicht. Oder hast du schon vergessen, was du mit Bridget gemacht hast?“

„Das … das war anders“, sagte ich mit zitternder Stimme.

„Warum?“

Ich öffnete meinen Mund und schloss ihn wieder. Denn warum war es anders? War ein Mord schlimmer als ein anderer, nur weil er auf eine andere Weise verübt worden war? Letzten Endes war ein Mord ein Mord. So oder so verlor eine Person durch die Hand einer anderen ihr Leben.

„Wir sind doch gar nicht so verschieden.“ Octavia schmunzelte. „Findest du nicht auch, Prinzessin ?“

Ich ging rückwärts zur Tür. Der Raum kam mir plötzlich eng und stickig vor, und ich musste raus.

„Willst du nicht den Rest hören?“, fragte Octavia. „Willst du nicht wissen, warum ich dich so sehr hasse?“

Elektrizität knisterte wütend unter meiner Haut. Ich war nicht wütend, weil sie mich verspottet hatte. Ich war wütend, weil ich mich ertappt fühlte. Sie hatte recht: Ich wollte wissen, warum sie mich hasste. Das hatte sie mir noch nicht beantwortet. Obwohl es mir widerstrebte, ihr Recht zu geben, blieb ich also stehen, wo ich war.

Sie lächelte, sichtlich zufrieden mit sich selbst. „Sobald er tot war – nachdem ich den Stift durch sein Herz gestoßen hatte –, packte ich meine Tasche und verschwand durch das Fenster“, fuhr sie fort. „Ich lebte auf der Straße, auf der anderen Seite der Stadt, wo meine Mutter mich nicht finden würde. Nicht, dass sie jemals nach mir gesucht hätte.“

„Das tut mir leid“, sagte ich, und das tat es wirklich. Nicht für die Octavia, die ich jetzt vor mir sah, sondern für das Kind, das sie einmal gewesen war.

„Und dann sieh dich an.“ Sie fuhr mit den Fingern durch die Blasen, die langsam im Wasser verschwanden. „Prinzessin Selena. Aufgewachsen in einem Schloss bei einem König und einer Königin, auf einer utopischen Insel. Tochter eines der mächtigsten Prinzen der Anderswelt und die erste Auserwählte des Jupiter. Ich habe dich schon gehasst, bevor wir die Villa betreten haben. Aber du willst einfach nicht sterben.“ Das Wasser schlug kleine Wellen um sie herum und plätscherte über den Rand der Wanne. „ Warum willst du nicht sterben?“

„Darauf läuft es also hinaus?“ Ich krümmte meine Finger, bereit, mich notfalls mit meiner Magie zu verteidigen. „Neid?“

„Nein.“ Das Wasser um sie herum begann zu sieden, ihre Wangen wurden rot vor Wut. „Es geht um etwas anderes. Nach allem, was ich durchgemacht habe – nach allem, was ich ertragen musste –, habe ich den Sieg verdient. Mein ganzes Leben hat mich auf die Spiele vorbereitet. Und das lasse ich mir von einer verwöhnten kleinen Prinzessin nicht wegnehmen. Besonders jetzt, wo ich dem Sieg so nahe bin, dass ich ihn schmecken kann.“

„Du wirst nicht gewinnen“, sagte ich. „Vielleicht hättest du es geschafft, wenn du Emmet statt Felix behalten hättest. Aber jetzt sind es drei gegen einen. Und das hast du dir selbst zuzuschreiben.“

Schlagartig beruhigte sich das Wasser. Es war unheimlich still. Octavia stand auf, Schaum und Wasser tropften von ihrem nackten Körper. Ihre Augen ließen mich nicht los. „Du glaubst wirklich, dass Felix auf deiner Seite steht“, sagte sie. „Nicht wahr?“

„Er hat mehr um Cassia getrauert als ich“, sagte ich. „Du hast ihn gesehen. Wir alle haben ihn gesehen.“

„Er ist ein großartiger Schauspieler.“ Sie stieg aus der Wanne und schlüpfte in ihren Bademantel. „Und ich bin auch nicht so schlecht.“

In meinem Magen kräuselte sich ein Gefühl des Grauens. „Was meinst du?“, fragte ich langsam.

„Du hast doch nicht geglaubt, dass mein kleiner Wutanfall in der Sauna echt war“, sagte sie, während sie den Gürtel ihres Bademantels zuband. „Oder?“

„Du warst eifersüchtig auf Cassia.“ Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Ich durfte mich von Octavia nicht aufwühlen lassen. „Das ist deine fatale Schwäche. Eifersucht. Und jetzt lügst du, um dein Gesicht zu wahren.“

Komm schon .“ Sie verdrehte die Augen. „Die ganze Sache war geplant. Habt ihr euch denn nicht gewundert, warum ich zufällig genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort war?“

„Du hast nach Felix gesucht …“, begann ich. Aber ich verstummte. Nein, darüber hatten wir nicht nachgedacht.

„Felix hat mir von eurem Treffen erzählt“, sagte sie. „Er wollte einen Riss in eure kleine Vierergruppe bringen. Seine Loyalität gilt mir, und zwar schon die ganze Zeit.“

„Nein.“ Nur mit Mühe konnte ich verhindern, dass Blitze aus meinen Handflächen schossen. „Er ist uns gegenüber loyal. Er war Cassia gegenüber loyal.“

„Du bist wirklich leichtgläubig, was?“

Ich machte mir nicht die Mühe, zu antworten. Stattdessen öffnete ich die Tür und warf Octavia einen Blick über die Schulter zu. „Nun komm schon“, sagte ich.

Sie lächelte vergnügt. „Wohin gehen wir?“

„Felix und Julian finden“, sagte ich. „Es ist Zeit, dass wir vier uns unterhalten. Damit Felix uns ein für alle Mal die Wahrheit sagen kann.“