KAPITEL 35

– Torrence –

S age und ich erzählten Kirke alles beim Frühstück, angefangen mit Selenas Entführung. So, wie sie an ihrem Tee nippte und geduldig zuhörte, schien sie zumindest interessiert zu sein. Ich seufzte erleichtert, als wir ihr die ganze Geschichte erzählt hatten, ohne dass sie uns wütend zu Schweinen gemacht hatte.

„Wir besitzen viele wertvolle Artefakte in den Gewölben von Avalon, die wir zum Tausch anbieten würden“, sagte Sage. „Wir bewahren sie dort auf, sicher vor jedem, der versuchen könnte, sie zu stehlen – für den Fall, dass wir sie in Zukunft einmal brauchen könnten.“

„Sehr vernünftig.“ Kirke nickte. „Was für Artefakte habt ihr?“

Ich sah Sage an. Ich wusste zwar, dass in den Gewölben Artefakte lagen, aber nicht, welche.

„Eine Rüstung, die einen vor allen körperlichen Verletzungen schützt“, sagte sie. „Einen Schild, der seinem Besitzer himmlischen Schutz gewährt. Einen Bogen, der nie sein Ziel verfehlt. Einen Dolch, der seinen Träger in Schatten hüllt. Ein Schwert, das nur diejenigen tötet, die es verdienen.“

„Das war’s?“, fragte Kirke.

„Sie sind alle sehr wertvoll“, sagte Sage. „Sie wurden uns von König Artus auf Avalon hinterlassen.“

„Für euch sind sie vielleicht wertvoll.“ Kirkes Griff um ihren Stab wurde fester. „Aber für mich haben sie keinen Wert. Außerdem würde ich meinen Stab niemals eintauschen. Es war töricht von euch zu denken, ich würde es tun.“

„Bitte“, flehte ich. „Es muss doch etwas geben, was du willst.“

Sie lächelte, langsam und verführerisch. „Es gibt etwas, das ich will“, sagte sie. „Euch beide, für den Rest des Jahres auf meiner Insel. Das habe ich bereits. Und obwohl eure Geschichte fesselnd ist, ist sie nicht mein Problem.“

So kamen wir nicht weiter. Es musste doch irgendetwas geben, das Kirke in Versuchung führen würde. Es gab immer einen Ausweg. Ich musste ihn nur finden.

„Und wenn du uns den Stab leihst ?“, fragte ich. „Sobald wir aus der Anderswelt zurück sind, können die Truppen Avalons ihn von König Devin zurückholen und ihn dir wiedergeben.“

„Du würdest für deine Mitarbeit fürstlich entlohnt“, fügte Sage hinzu, bevor Kirke antworten konnte.

Kirke schlug ihre Beine übereinander und sah zwischen uns hin und her. „Ihr macht viele Versprechungen im Namen eures Königreichs“, sagte sie. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass keiner von euch beiden dort das Sagen hat.“

„Unsere Aufgabe ist es, alles Nötige zu tun, um Selena sicher nach Hause zu bringen“, sagte Sage. „Der Erdenengel wird jede Abmachung einhalten, die wir in seinem Namen treffen, um diese Aufgabe zu erfüllen.“

Sie wirkte erstaunlich zuversichtlich, wenn man bedachte, dass sie sich das gerade nur ausgedacht hatte. Sicher, es war wahrscheinlich , dass der Erdenengel sein Bestes tun würde, um unsere Abmachungen einzuhalten. Aber das hatte sie nie ausdrücklich gesagt.

„Ich bin nicht daran interessiert, mit Avalon oder eurem Erdenengel zu verhandeln“, sagte Kirke schließlich. „Ich bin jedoch offen für ein Geschäft mit dir .“ Sie sah mich an.

Ein Schauer durchfuhr mich von meiner Wirbelsäule bis hinunter zu den Zehen. „Was … hast du dir denn vorgestellt?“ Ich hielt mich an der Stuhlkante fest, um mich auf das Kommende vorzubereiten.

Du musst nicht zustimmen , erinnerte ich mich. Wenn sie zu viel verlangt, kannst du nein sagen.

Und mir dann die Schuld geben, wenn Selena für immer in der Anderswelt festsitzen würde? Damit könnte ich nicht leben. Und ich war mir fast sicher, dass Kirke das wusste.

„Ich leihe euch meinen Stab für drei Monate“, sagte sie. „Wenn ihr ihn innerhalb dieser drei Monate nicht zurückbringt, kommst du zurück nach Aiaia und lebst hier bei mir.“

„Für wie lange?“, fragte ich.

„Für immer.“

Mir klappte die Kinnlade herunter.

„Ähnlich wie bei euch auf Avalon wirst du auf Aiaia unsterblich sein, für immer in deiner jetzigen Gestalt“, fuhr Kirke fort. „Egal, wo du bist – selbst wenn du während deiner Reise stirbst und in der Unterwelt landest –, wenn drei Monate vergehen und ich meinen Stab noch nicht wiederhabe, wirst du automatisch nach Aiaia transportiert. Die Magie unserer Abmachung wird dafür sorgen.“

Sie wartete geduldig auf meine Antwort. Aber meine Zunge fühlte sich taub an.

Das kann sie nicht von mir verlangen.

Aber das konnte sie. Und das hatte sie.

„Nimm nicht Torrence.“ Sage griff nach Kirkes freier Hand. „Nimm stattdessen mich.“

„Du bist verheiratet. Du bist befleckt“, spöttelte Kirke, zog ihre Hand zurück und richtete ihren Blick wieder auf mich. Ihre Augen wurden weicher. „Du, meine Liebe, bist unberührt und rein. Du bist diejenige, die ich will. Also sag mir … wie sehr willst du deine Freundin retten?“

Ich presste meine Lippen aufeinander, denn sie kannte die Antwort. Sie spielte mit mir. Und ich wollte ihr diese Genugtuung nicht geben.

„Versprichst du, dass du Thomas und Reed sofort nach Abschluss unseres Geschäfts wieder zurückverwandelst, uns den Stab leihst und uns vier die Insel mit unserer Jacht verlassen lässt, ohne uns zur Rückkehr zu zwingen?“

Ich hatte genug über magische Geschäfte gelernt, um zu wissen, dass es auf den genauen Wortlaut ankam.

„Ja.“ Sie lächelte. „Außer dich natürlich, wenn du meinen Stab nicht zurückbringst. Ich verspreche es.“

„Okay, ich mache es“, sagte ich, bevor ich es mir noch einmal anders überlegen konnte.

„Nein!“ Sage sah mich entsetzt an. „Es muss doch einen anderen Weg geben.“

„Gibt es nicht.“ Ich legte meine Handflächen flach auf den Tisch, um mich zu beruhigen. „Und selbst wenn doch – wir haben keine Zeit, um ihn zu finden. Selena hat keine Zeit. Ich tue das für sie. Das ist unsere beste Chance, und das weißt du.“

Sage starrte mich ernst an. „Wir werden diesen Stab innerhalb von drei Monaten zurückbekommen“, sagte sie und wandte sich an Kirke. „Dafür werde ich sorgen.“

„Nun gut.“ Kirke lächelte und stand von ihrem Stuhl auf. „Torrence. Komm, stell dich vor mich.“

Ich tat, was sie verlangte.

„Das Geschäft zu besiegeln ist einfach.“ Sie hob die Hand, die nicht den Stab hielt, und fuhr mir über die Wange. „Es braucht nur einen Kuss.“

Ich sah sie finster an und erstarrte zur Salzsäule. Wenn nur ein Kuss das Geschäft besiegeln konnte, bitte. Aber sie sollte genau sehen, dass ich keinerlei Freude daran hatte.

Sie kam näher und presste ihre Lippen auf meine. Sie waren eiskalt und schmeckten wie bitteres Gift. Ein Schauer durchfuhr meinen Körper, und mir wurde immer kälter, bis ich befürchtete, zu Eis zu werden. Ich versuchte, mich loszureißen, aber ich war wie erstarrt. Gelähmt.

Panik schoss durch meine Brust. Sie hatte uns betrogen. Sie wollte mich umbringen.

Sage , dachte ich. Tu etwas. Halte sie auf. Bitte!

Ich konnte nicht mehr atmen. Alles um mich herum verwandelte sich in einen milchigen Dunst. Mein Herz schlug immer langsamer und langsamer. Das war’s. Ich würde sterben.

Doch dann zog Kirke sich zurück. Wärme durchflutete mich. Mein Herz schlug wieder normal, und ich konnte atmen. Ich streckte meine Finger und war überrascht, wie leicht sie sich bewegen ließen.

„Das war doch gar nicht so schwer.“ Kirke legte den Kopf schief und klimperte mit den Wimpern. „Oder?“

„Nein.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln. „War es nicht.“

Ihre roten Lippen kräuselten sich mit boshaftem Vergnügen. Dann wanderte ihr Blick zu meinen Haaren. Sie griff nach einer losen Strähne und wollte sie mir über die Schulter ziehen, aber ich schlug ihre Hand weg.

„Jetzt zeigst du dein wahres Gesicht.“ Sie zog ihren Arm zurück. „Das gefällt mir.“

Sage war sofort an meiner Seite, ihre Finger in Krallen verwandelt. „Bring uns zu Thomas und Reed, verwandele sie zurück und lass uns gehen“, forderte sie.

„Natürlich.“ Kirke richtete ihren Stab auf sie, was Sage einen Schritt zurücktreten ließ. „Ich bin eine Frau, die zu ihrem Wort steht. Normalerweise würde ich euch Glück wünschen, aber in diesem Fall ist es wohl nicht nötig, euch mit Höflichkeiten aufzuhalten. Denn ihr wisst beide, wie sehr ich hoffe, dass ihr scheitert.“

Sie senkte ihren Stab. Dann schenkte sie mir ein weiteres verführerisches Lächeln, machte auf dem Absatz kehrt und führte uns zum Strand.