KAPITEL 36

– Torrence –

S age, Thomas, Reed und ich beobachteten vom Oberdeck aus, wie die Insel immer kleiner wurde. Ich hielt den Stab mit beiden Händen fest und fühlte seine Kraft durch mich hindurchpulsieren. Kirke stand am Strand, ihr Kleid und ihr Haar wehten im Wind. Sie warf mir einen Handkuss zu, begleitet von einem Zwinkern.

Ich wandte meinen Blick nicht von ihr ab. Drei Monate , dachte ich, und mein Griff um den Stab wurde fester. Ich werde ihn dir in weniger als drei Monaten zurückgeben.

„So, wie sie dich ansieht, würde ich sagen, dass du sie verzaubert hast“, sagte Reed mit finsterer Stimme.

Ich riss mich von Kirke los und konzentrierte mich auf ihn. Alles an ihm war ruhig, bis auf seine Augen. Sein Blick tobte vor Gefühlen.

„Und was, wenn?“, fragte ich. Ich wollte selbstbewusst klingen. Dabei musste ich Ekel hinunterschlucken wenn ich daran dachte, was ich tatsächlich getan hatte.

„Dann bist du nicht besser als die Dirnen im Turm.“

Ich wich angewidert von ihm zurück. „Ich glaube, du vergisst, dass du ohne mich und Sage für immer als Schwein auf dieser Insel festsitzen würdest.“

„Wir hätten schon einen Weg gefunden, uns zurückzuverwandeln“, sagte er.

Ich verdrehte die Augen. Wie arrogant konnte man bitte sein?

„Du kannst nicht einmal danke sagen, was?“

„Du bist in Kirkes Bett gestiegen, um ihren Stab zu holen.“ Er sah mich voller Abscheu an. „Ich hätte Besseres von dir erwartet.“

Ich knallte das Ende des Stabes auf den Boden. „Ich habe getan, was ich tun musste, um den Stab zu bekommen“, sagte ich. „Das ist weit mehr, als man von dir sagen kann.“

Er hielt meinen Blick fest. „Du hättest das Kleid behalten sollen, das sie dir im Turm gegeben haben“, sagte er schließlich. „Offenbar passt es zu dir.“

Thomas stellte sich neben uns. „Genug“, sagte er und sah zwischen uns beiden hin und her. „Du“, sagte er zu Reed. „Hör auf, Mutmaßungen anzustellen.“

Ich richtete mich auf und grinste Reed an.

„Und du“, sagte Thomas zu mir. „Hör auf, ihn zu reizen. Das bringt uns nicht weiter.“

„Ich reize gar nicht …“

„Das tust du“, sagte er schlicht. „Würdest du uns jetzt verraten, wie genau du Kirke dazu gebracht hast, ihren Stab auszuhändigen?“

Die Realität meiner Abmachung brach wieder über mich herein. Es war gut, dass ich den Stab hatte, denn ich brauchte etwas, woran ich mich festhalten konnte. Was ich eben getan hatte, würde Konsequenzen für mich haben. Ich wusste es tief in meiner Seele.

Sage stellte sich zu mir und legte ihre Hand sanft auf meinen Arm. „Lasst uns nach unten gehen“, sagte sie. „Ich denke, wir sollten uns hinsetzen, wenn wir das erklären.“

 

Thomas verstaute den Stab zusammen mit Aphrodites Gürtel im Schrank. Dann setzten wir uns zu viert an den Tisch, und Sage und ich erzählten, was passiert war, nachdem die beiden in Schweine verwandelt worden waren.

„Das war der Deal, den Kirke angeboten hat“, sagte ich und beendete die Geschichte. „Und ich habe die Bedingungen angenommen.“

Reeds Augen waren eiskalt. „Wende das Boot“, sagte er zu Thomas. „Wir geben Kirke den Stab zurück.“

„Nein“, sagte ich. „Das werden wir nicht. Zumindest nicht, bevor Selena wieder zu Hause ist und wir den Stab von König Devin zurückgeholt haben.“

Thomas stützte seine Ellbogen auf den Tisch und seufzte. „Vielleicht bekommen wir den Stab von König Devin nicht zurück“, sagte er.

„Natürlich werden wir das“, sagte ich. „Avalon ist mächtig. Wir sind mit ihm verbündet. Wir werden schon einen Weg finden.“

„Ja, wir sind mit dem Turm verbündet“, sagte er. „Und dieses Bündnis ist für Avalon wichtiger als du.“

Seine Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube. „Ich gehe das Risiko ein, um Selena zu helfen“, sagte ich. „Die Prophetin hat mich für diese Mission ausgewählt. Avalon wird mich im Gegenzug beschützen.“

„Selena ist die Tochter des Erdenengels“, sagte er. „Sie wurde gegen ihren Willen entführt. Du bist diese Abmachung aus freien Stücken eingegangen. Wenn du versagst, wird von dir erwartet, dass du dein Wort hältst.“

„Wir werden nicht scheitern“, sagte Sage.

„Richtig, das werden wir nicht.“ Reed stand auf und ging auf die Treppe zu. „Weil wir den Stab an Kirke zurückgeben werden. Und zwar jetzt gleich.“

„Du kannst die Jacht nicht steuern“, sagte Thomas ruhig. „Sie steht unter meiner Kontrolle.“

Reed hob eine Hand und beschoss Thomas mit seiner Magie.

Thomas prallte gegen die Wand hinter ihm und sackte zu Boden.

Sage verwandelte sich und stürzte sich auf Reed, der sie aber noch in der Luft zu Boden warf.

„Halt!“ Ich rannte zu Reed und packte seine Handgelenke. Gegen mich setzte er seine Magie nicht ein. „Was tust du da?“

„Ich tue, was nötig ist, um das Boot zurück zur Insel zu bringen, damit wir diesen verfluchten Stab zurückgeben können.“

Ein paar Sekunden lang standen wir so da, wie Statuen. Seine Augen waren unendlich tief, seine Haut wohlig warm. Die Erinnerung an den Kuss kribbelte auf meinen Lippen, während seine Magie nach mir rief. Ihre unsichtbaren Ranken kitzelten meine Haut und baten mich, sie hereinzulassen. Ein Windhauch umwehte uns. Seine Magie war so roh, so mächtig, so lebendig . Wenn ich sie zuließ, wusste ich, dass sie mich völlig verzehren würde. Er würde mich völlig verzehren.

Also stellte ich mir vor, dass mich ein Schild aus meiner violetten Magie umgab und ihn abblockte.

„Was kümmert es dich, wenn ich für alle Ewigkeit auf Aiaia lande?“ Ich suchte in seinem Blick nach Antworten, aber ich fand keine. „Du hasst mich.“

Er löste sich aus meinem Griff und trat einen Schritt zurück. Die Luft um uns herum war wieder ruhig. „Du bist eine der impulsivsten Personen, denen ich je begegnet bin, und ich finde dich verdammt frustrierend“, sagte er. „Aber du hast es nicht verdient, für alle Ewigkeit an diesem Ort zu landen. Niemand hat das.“

„Dann hilf mir, den Stab von König Devin zurückzubekommen, bevor die drei Monate vorbei sind.“

Plötzlich schossen Sage und Thomas hervor und umzingelten uns von beiden Seiten. Sage hielt Kirkes Stab in der Hand, und seine Spitze war auf Reed gerichtet. „Wenn du deine Magie noch einmal gegen uns einsetzt, verwandle ich dich wieder in ein Schwein“, sagte sie.

„Willst du mir sagen, dass es für dich in Ordnung ist, was Torrence getan hat?“

„Es war meine Entscheidung“, sagte ich. „Ich bin alt genug.“

„Es war eine dumme Entscheidung“, sagte Reed.

Thomas trat vor und streckte beide Hände aus, um den Streit zu beenden. „Was geschehen ist, ist geschehen“, sagte er. „Wir haben den Stab, und wir vier haben es unbeschadet von der Insel geschafft. Wir dürfen die Mission nicht weiter hinauszögern. Wir müssen weitermachen und uns zu gegebener Zeit um die Folgen von Torrence’ Entscheidung kümmern.“

„König Devin ist zu einem Tausch bereit: die Gegenstände, die wir brauchen, um in die Anderswelt zu gelangen, gegen die von ihm gewünschten Gegenstände der Mythologie“, sagte ich. „Sobald unsere Mission beendet ist, müssen wir ihm nur einen weiteren Tausch anbieten. Dann können wir Kirke ihren Stab zurückbringen, bevor die drei Monate um sind.“

„Deine Zuversicht ist entweder mutig oder naiv“, sagte Reed. „Ich bin mir noch nicht sicher, was davon.“

„Das werden wir wohl in den nächsten drei Monaten herausfinden“, antwortete ich.

„Ich schätze, das werden wir“, sagte er. „Allerdings – wenn ich mich nicht in ein Schwein hätte verwandeln lassen, wärst du gar nicht erst in diese Lage gekommen. Es ist also nur recht und billig, dass ich an deiner Seite bleibe, bis der Stab wieder in Kirkes Händen ist.“

Ich starrte ihn ungläubig an. Das war das Letzte , was ich von ihm erwartet hatte.

„Danke“, sagte ich schließlich. „Das ist sehr aufmerksam von dir.“

Er nickte nur und wandte sich an Thomas. „Es tut mir leid, dass ich meine Magie gegen dich eingesetzt habe“, sagte er und blickte auch Sage an. „Gegen euch beide . Es wird nicht wieder vorkommen.“

Sage ließ den Stab sinken. „Danke für die Entschuldigung“, sagte sie.

„Ja“, stimmte Thomas zu. „Danke.“ Dann drehte er sich zu mir um. „Dein Handeln heute war mutig.“

„Ich habe getan, was nötig war, um Selena zu helfen.“

„Das hast du“, sagte er. „Und wenn sie erst einmal sicher zu Hause ist, verspreche ich, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um mich auf Avalon für dich einzusetzen. Ich werde sie überzeugen, dir bei der Rückgabe des Stabs jede erdenkliche Unterstützung zukommen zu lassen, die du brauchst.“

Ich lächelte, denn ich hatte Vertrauen zu Avalon. Avalon war meine Familie. Sie würden mich nicht einfach so hängen lassen.

„Jetzt müssen wir uns auf die Mission konzentrieren“, sagte Thomas. „Denn wir haben noch zwei weitere Objekte zu finden – und da wir drei Tage auf der Insel verloren haben, müssen wir sie schnell finden.“