KAPITEL 38

– Selena –

B acchus wandte sich der nächstgelegenen Kugel zu, rückte seine purpurne Toga zurecht und zeigte sein typisches Grinsen. „Willkommen zum letzten Tag der Feenspiele!“, sagte er. „Dieser Wettbewerb um den Kaiserkranz ist das erste der drei Ereignisse, die heute stattfinden. Anders als bei den vorherigen Wettbewerben ist auch die scheidende Kaiserin der Villa teilnahmeberechtigt.“ Er warf mir einen Blick zu und wandte sich dann wieder an die Kugel. „Danach findet in der Arena der Finalkampf statt, der aus zwei Teilen besteht. Der Gewinner des Kaiserkranzes wird in der ersten Runde nichts zu befürchten haben. Wie immer werden die drei anderen Auserwählten kämpfen, bis einer von ihnen tot ist. Aber sofort im Anschluss wird der Kaiser selbst die Arena betreten, und die drei Finalisten werden so lange kämpfen, bis nur noch einer übrig ist – der Gewinner der diesjährigen Feenspiele!

Es war seltsam, seinen üblichen Enthusiasmus ohne eine jubelnde Menge im Hintergrund zu hören. Aber er ließ sich von der Stille nicht im Geringsten beirren.

„Der letzte Kaiser-Wettbewerb ist einfach“, fuhr er fort. „Seht ihr die Höhle da drüben?“ Die Kugeln vor der Höhle leuchteten heller und wetteiferten um den besten Blickwinkel. „In ihr wartet der Minotaurus. Ihr habt richtig gehört, der Minotaurus – wir haben ihn aus seinem Labyrinth geborgt, damit er heute bei uns sein kann!“

Bacchus hob sein Zepter und schoss seine violette Magie auf die Höhle. Der Eingang schimmerte, und auf einmal vibrierte der Boden im gleichmäßigen Rhythmus riesiger Schritte. Heraus kam das furchterregendste Monster, das ich je gesehen hatte. Es war so groß wie ein Haus, hatte den Kopf eines Stiers und den Körper eines haarigen Trolls. Mit den beiden Hörnern, die aus seinem Kopf ragten, war es anscheinend noch nicht gefährlich genug – eine seiner Hände hatte grausige Fingernägel, so lang und spitz wie Schwerter. Sein anderer Unterarm endete nicht in einer Hand, sondern in einer Axt.

Der Minotaurus knurrte uns an und verzog die Lippen, um uns seine scharfen, spitzen Zähne zu zeigen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass er uns dank göttlicher Magie nicht töten konnte, hätte ich gedacht, er wollte uns fressen.

Er machte vier weitere Schritte nach vorne, aber die Ketten an seinen Füßen spannten sich und hinderten ihn daran, weiterzugehen. Uns waren keine Waffen gegeben worden, das heißt, wir sollten den Minotaurus allein mit unserer Magie bekämpfen. Ich war heilfroh, dass Julian mit seiner Magie Waffen aus dem Äther ziehen konnte.

„Der Minotaurus wird während des gesamten Wettbewerbs in Ketten liegen“, sagte uns Bacchus. „Er wird nur angreifen, wenn er provoziert wird. Wer immer ihn tötet, gewinnt den Kaiserkranz. Die Frage ist also: Wer will diesen Wettbewerb am meisten gewinnen?“

Ich nicht , dachte ich starrte das Monster an.

Bacchus kletterte zurück in seinen Streitwagen. „Das werden wir gleich herausfinden“, sagte er, und die Panther hoben ihn vom Boden hoch. „Denn der Wettkampf beginnt … jetzt!

Keiner von uns rührte sich.

Ich schaute zu Octavia hinüber.

Sie stand einfach da, die Arme verschränkt, und lächelte spöttisch. „Nun macht schon“, sagte sie und neigte den Kopf in Richtung des Minotaurus. Das Ungeheuer wartete geduldig. „Es sei denn, ihr habt beide zu viel Angst, mir in der Arena allein gegenüberzutreten?“

„Natürlich nicht“, sagte Julian. „Wir denken nur strategisch.“

„Oder feige.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist das Letzte, was ich von den auserwählten Wettkämpfern von Mars und Jupiter erwartet hätte. Aber hey, selbst Götter können sich manchmal irren, meint ihr nicht auch?“

„Du kannst es sein lassen“, sagte ich ihr. „Wir lassen uns nicht provozieren.“

Felix ging zu Octavia hinüber, nahm ihre Hände und sah sie so verträumt an, als wäre sie das Licht seines Lebens. „Sie werden es nicht tun“, sagte er. „Aber du bist stark genug, um allein gegen sie zu kämpfen. Du kannst sie in beiden Runden in der Arena besiegen.“

„Ich weiß.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen sanften, langanhaltenden Kuss auf die Lippen.

„Dann hilf mir, diesen Wettbewerb zu gewinnen.“ Er unterlegte seine Stimme eindeutig mit seiner Magie. Sie war unendlich sanft. „Lass uns die letzten Spieler des Turniers werden. Dann kann deine Hand diejenige sein, die mich ins Elysium schickt. So, wie wir es uns gewünscht haben.“

Für mich hörte sich das wie Blödsinn an. Felix wollte die Spiele gewinnen, genau wie der Rest von uns. Und wenn er und Octavia es in die Endrunde schafften – was Julian und ich verhindern würden –, dann würde er wahrscheinlich die übliche Strategie der von Venus Auserwählten verfolgen.

Er hoffte, dass Octavia viel zu verliebt war, um ihm das Leben zu nehmen. Hoffte, dass sie sich stattdessen selbst umbringen würde. Octavia kam mir nicht wie jemand vor, der so etwas Selbstloses tun würde. Aber so sehnsüchtig, wie sie ihm in die Augen schaute, schien seine Strategie zu funktionieren.

Sie blinzelte und trat einen Schritt zurück, als ob sie Abstand zwischen sich und ihn bringen müsste, um klar denken zu können. „Ich weiß, dass ich stark bin“, sagte sie. „Aber wir müssen die letzten Zwei werden. Und das heißt … ich werde dafür sorgen, dass garantiert keiner von uns beiden diesen Wettbewerb gewinnen kann.“

Sie zog ihre Faust zurück und setzte zu einem Schlag gegen Felix’ Kopf an.

Mist. Wenn sie erst Felix und dann sich selbst kampfunfähig macht, haben Julian und ich keine Wahl mehr.

Julian war in weniger als einer Sekunde zur Stelle. Er stieß Felix zur Seite und Octavias Schlag traf ins Leere.

Felix drehte sich um. Schock und Verrat glänzten in seinen Augen, als er zu Octavia aufsah. Das hielt sie nicht davon ab, erneut zu versuchen, ihn niederzuschlagen. Aber Julian hielt sie auf. Die beiden kämpften nur mit ihren Körpern – ohne Waffen und ohne Magie. Dieser Nahkampf war eine Art Tanz. Sie verletzten sich nicht wirklich. Denn sie wollten beide, dass der andere körperlich in der Lage blieb, den Minotaurus zu besiegen.

Felix beobachtete die beiden mit gehörigem Abstand.

„Nur einer kann die Feenspiele gewinnen“, rief Octavia zwischen zwei Fausthieben zu mir. „Und du wirst Julian nichts antun können. Lass mich ihn für dich in der Arena töten!“

Julian stieß Octavias Bein zur Seite und warf sie auf den Rücken. Dann zog er zwei Schwerter aus dem Äther und warf mir eines davon zu.

„Hilf Felix, zu gewinnen“, sagte er. „Ich lenke die Eiskönigin ab.“

Octavia stand auf und schoss Wasser auf ihn. Aber er hielt binnen einer Sekunde einen Schild vor sich und wehrte ihren Angriff ab.

„Sei nicht dumm, Selena“, knurrte Octavia, während sie weiter versuchte, Julian mit ihrem Wasser umzuwerfen. Aber egal, wie sehr sie sich anstrengte, er hielt mit seinem Schild dagegen. „Meine Magie ist stärker als seine. Du weißt, dass ich ihn für dich töten kann.“

„Das sieht im Augenblick nicht danach aus“, sagte ich.

Sie hörte auf, ihn mit Wasser zu beschießen, und wechselte zu Eiszapfen. Er wehrte sie so leicht mit dem Schild ab, dass ich vermutete, er hätte nebenher auch ein Buch lesen können. „Nur weil ich gerade nicht riskieren kann, ihn umzubringen“, sagte sie. „Gewinn diesen Wettbewerb, Selena. Schick ihn mit mir und Felix in die Arena und lass mich tun, was du nicht kannst.“

Julian stürzte sich auf sie und zerschnitt ihre Eiszapfen mit dem Schwert, bis er nahe genug war, um ihr die Hände abzuschneiden. Aber stattdessen drehte er sein Schwert um und rammte ihr den Knauf in die Kehle. Sie fiel zurück auf den Boden, die Hände um den Hals, und schnappte nach Luft.

Julian beugte sich über sie, das Schwert in der Hand. Aber er nutzte den Moment nicht, um sie kampfunfähig zu machen. Wir brauchten sie, falls Felix’ Versuch, den Minotaurus auszuschalten, fehlschlug. Julian leistete hervorragende Arbeit, sie unter Kontrolle zu halten, ohne sie ernsthaft zu verletzen.

Ich drehte mich zu Felix um, der ängstlich an der Seite stand. Sein typisches Selbstvertrauen war verschwunden. Alles, was ich sah, war ein erschrockenes Mäuschen.

„Willst du diesen Wettbewerb gewinnen?“, fragte ich.

Er warf einen Blick auf Octavia und Julian. Dann richtete er sich auf und grinste, wieder ganz der Alte. „Und ob ich das will.“

„Das habe ich mir schon gedacht.“ Ich warf ihm das Schwert vor die Füße, kam ihm aber nicht nahe. Ich glaubte zwar nicht ernsthaft, dass er mich angreifen würde, aber es konnte nicht schaden, etwas Abstand zwischen uns zu halten. Nur für den Fall. „Nimm das Schwert. Ich werde mit dir zum Minotaurus gehen und dich beschützen. Ich beschieße ihn mit meinen Blitzen, und wenn er betäubt ist, holst du zum tödlichen Schlag aus.“

Er hob das Schwert auf und hielt es vor sich, um sich an sein Gewicht zu gewöhnen. „Klingt einfach“, sagte er, obwohl die Zuversicht aus seinem Tonfall verschwunden war.

„Der Minotaurus wird bewusstlos sein. Dir kann nichts passieren.“

Er blickte zu dem Minotaurus hinüber. Das Ungeheuer verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Es sah genauso ungeduldig aus wie ich, die Sache hinter sich zu bringen.

„In Ordnung“, sagte er. „Geh du voran.“

Ich warf einen Blick zurück auf Julian und Octavia. Die beiden waren ganz miteinander beschäftigt. Perfekt. Bisher lief alles genau so, wie wir es uns gewünscht hatten.

Ich gab Felix ein Zeichen und ging auf den Minotaurus zu. Felix folgte mir auf den Fersen. Der Minotaurus trat vor und zerrte immer stärker an den Ketten, je näher wir kamen. Er war das größte Monster, dem ich je gegenübergestanden hatte.

Das bedeutete, dass ich eine Menge Blitze auf ihn schießen musste, um ihn auszuschalten. Ich kam ihm so nah wie möglich, ohne in seine Reichweite zu geraten, und sammelte meine Magie. Spinnweben aus knisterndem Licht tanzten über meine Haut und bettelten darum, losgelassen zu werden.

Die Kugeln umschwirrten mich, und ich lächelte sie an, auch wenn ich sie hasste. Eine von ihnen flackerte kurz. Vielleicht eine Störung? Ich hätte nicht gedacht, dass sie Störungen haben konnten. Immerhin waren sie von den Göttern geschaffen worden. Aber das war nicht mein Problem. Ich hatte wichtigere Dinge, auf die ich mich konzentrieren musste. Zum Beispiel Felix zu helfen, dieses Monster zu töten.

Ich wandte den Blick von den Kugeln ab, hob meine Hände und schleuderte zwei Blitze auf die Brust des Minotaurus. Sein wütendes Brüllen schallte über das Feld. Sein ganzer Körper glühte hell. Ich roch den scharfen, fauligen Geruch von verbranntem Haar und verbrannter Haut. Aber er zerrte weiter an seinen Ketten und weigerte sich, zu Boden zu gehen. Ich hielt die Lichtbögen auf seiner Brust fest und drückte noch mehr Magie in sie hinein. Das Licht leuchtete so hell, dass ich kaum noch etwas sehen konnte.

Er brüllte erneut, und dann hörte ich ein lautes Knacken aus seiner Richtung. Ein weiteres Brüllen, ein weiteres Knacken.

„Selena!“, rief Felix warnend.

Ich senkte meine Hände gerade noch rechtzeitig, um die Hand des Minotaurus vor mir zu sehen. Einer seiner Nägel kam auf mich zu, um mir den Kopf abzuschlagen. Ich konnte ihm gerade noch ausweichen. Was war los? Er sollte mich gar nicht erreichen können. Ein Blick auf seine Füße verriet mir die Antwort: Er hatte sich von den Ketten gelöst.

Oh nein.

Plötzlich spürte ich einen Schlag in die Magengrube. Mir stockte der Atem, und ich blickte nach unten. Einer seiner Nägel hatte sich durch meinen Bauch gebohrt.

Ich blinzelte verwirrt, während ich wie betäubt auf den Nagel in meinem Bauch starrte. Das elektrische Licht auf meiner Haut flackerte zweimal, dann erlosch es. Ich hob den Kopf. Das Monster schaute ruhig auf mich herab, und etwas blitzte in seinen Augen auf … Schuldgefühle vielleicht?

Dann zog er seinen Nagel langsam aus mir heraus. Ein scharfer, stechender Schmerz durchfuhr mich, schlimmer, als ich es je erlebt hatte. Ich öffnete meinen Mund, um zu schreien, aber es kam nichts heraus.

Dann verschwand der Schmerz. Meine Hände wanderten zu meinem Bauch, und ich stolperte zurück, bevor ich auf den Boden sackte. Warme, klebrige Nässe floss durch meine Finger. Blut. So viel Blut.

Wenn ich so stark blutete, warum tat es dann nicht weh? Mein Kopf kippte zur Seite. Felix hatte sein Schwert fallen lassen, und sein Mund stand vor Schreck offen. 

Meine Sicht trübte sich an den Rändern. Ich versuchte, die Augen offen zu halten, aber die Welt verblasste weiter. Ich wollte fester auf meinen Bauch drücken, um das Blut zu verlangsamen. Aber nicht einmal dazu hatte ich die Kraft. Ich konnte mich nicht bewegen. Der Versuch, zu denken, fühlte sich an wie das Waten durch Treibsand. Alles, was ich tun konnte, war, ins Vergessen wegzudriften.

Fühlt es sich so an, wenn man stirbt?

Ein tiefer, kehliger Schrei tönte durch meinen Kopf.

Julian .

Seine verschwommene Gestalt flog durch die Luft, und dann wurde alles dunkel.