– Selena –
I ch riss die Augen auf und wurde von hellen Lichtstrahlen geblendet. Also schloss ich sie schnell wieder. Wie viel Zeit war vergangen? Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Und gleichzeitig nur wie ein paar Sekunden.
Ich öffnete meine Augen erneut, diesmal langsamer. Ich lag im Bett. Julian saß neben mir, seine eisblauen Augen voller Sorge. Er trug einen goldenen Kranz auf dem Kopf.
All das fühlte sich verschwommen und verträumt an. Als ob ich nicht wirklich da wäre. Aber Julian hielt meine Hand, und ich drückte sie fester, wie um mich an ihm in der Realität festzuhalten.
Von meinem Magen ging eisige Kälte aus. Plötzlich erinnerte ich mich wieder. Der Minotaurus. All das Blut … so viel Blut.
„Sind wir tot?“, fragte ich Julian.
„Nein.“ Er sah mich erstaunt an. „Du bist geheilt. Wir sind beide am Leben.“
„Obwohl du tot wärst“, sagte ein Mann mit tintenschwarzem, lockigem Haar, der neben Julian saß. Seine Haut war vollkommen glatt, und seine Gesichtszüge scharf geschnitten. Er musste irgendein Übernatürlicher sein. „Wenn es nach dem Minotaurus ginge.“
„Wer bist du?“ Ich drückte meine freie Hand auf meinen Bauch. Er war mit einer dicken Schicht Salbe bedeckt.
„Ich bin Vejovis“, sagte er. „Der Gott der Heilung.“
Ich setzte mich auf und erkannte, wo wir uns befanden – in der Heilkammer der Villa. Ich wusste, dass Vejovis uns heilte, wenn wir verletzt waren, aber ich hatte den geheimnisvollen Gott noch nicht persönlich kennengelernt.
„Normalerweise verlasse ich meine Patienten, bevor sie aufwachen“, fuhr er fort. „Aber du brauchtest eine intensivere Überwachung. Du warst schon fast tot, als ich zu dir kam. Hätte Julian den Kaiser-Wettbewerb nicht gewonnen, wärst du tot gewesen.“
Ich schaute wieder zu Julian, und mir wurde klar, was der Kranz auf seinem Kopf bedeutete. „Felix oder Octavia hätten gewinnen sollen!“, keuchte ich. „Warum hast du gewonnen?“
„Der Minotaurus hat versucht, dich zu töten .“ Sein Griff um meine Hand wurde fester. „Während des Kampfes gegen Octavia stand ich mit dem Rücken zum Minotaurus. Aber dann hielt sie plötzlich inne, und ich wusste, dass irgendetwas passiert war. Ich drehte mich um, und da warst du …“ Er brach ab, sein Blick ging in die Ferne. „Du lagst verblutend auf dem Boden. Du lagst im Sterben, Selena. Also tat ich das Einzige, was ich tun konnte: Ich stieß mein Schwert durch das Herz des Minotaurus und beendete den Wettkampf.“
„Es ist gut, dass er das getan hat“, sagte Vejovis. „Denn erst wenn die Wettkämpfe vorbei sind, darf ich kommen und die Auserwählten heilen. Indem er gewonnen hat, hat Julian den Wettbewerb beendet und dein Leben gerettet“.
„Ich liebe dich“, sagte ich zu Julian. Denn das bedeutete weit mehr als jedes Wort des Dankes. Langsam verstand ich, warum die Feen ein einfaches ‚Danke‘ als ungenügenden Ausdruck von Dankbarkeit ansahen.
Vejovis blickte zwischen uns hin und her. „Wir alle haben Julians Muttermal gesehen, als Minervas Auserwählte es uns in der Arena zeigte“, sagte er. „Ich habe deines gesehen, als ich dich geheilt habe. Seelenverwandte hat es bei den Spielen noch nie gegeben.“
„Das ist doch keine Neuigkeit mehr“, sagte ich. „Die Kugeln waren dabei, als ich Julian davon erzählt habe. Das war nach der zweiten Woche der Spiele. Sicherlich weiß es inzwischen die ganze Anderswelt.“
„Ich bin durch den Bann verpflichtet, keinem von euch etwas über die diesjährigen Spiele zu verraten“, sagte er. „Ihr könnt meinen Kommentar so auffassen, wie ihr es für richtig haltet.“
Ja, natürlich. Wenn er mir etwas sagen wollte, dann konnte er das nur tun, indem er einfache Tatsachen aussprach. Es war die gleiche Art und Weise, mit der Rufus – das Halbblut, das vor meinem ersten Arenakampf für mich verantwortlich gewesen war – den Bann umgangen hatte.
„Die Götter zensieren die Live-Übertragungen“, sagte Julian. „Wahrscheinlich macht das Bacchus, denn er ist für die Unterhaltung zuständig. Und wir haben absichtlich nie erwähnt, dass wir Seelenverwandte sind, wenn jemand anderes dabei war.“
„Außer Vesta und Venus“, erinnerte ich ihn.
„Es scheint, dass sie sich darüber bedeckt gehalten haben“, sagte er. „Denn anscheinend weiß sonst niemand in der Anderswelt, dass wir Seelenverwandte sind.“
„Das bedeutet …“ Wir schenkten einander wissende Blicke.
„Ja“, sagte er. „Bacchus – oder wer auch immer darüber entscheidet, was den Feen gezeigt wird – muss seine Gründe haben, ihnen das vorzuenthalten. Das könnte sich am Ende sogar besser für uns auswirken, als wir geplant hatten.“
„Vielleicht.“ In meiner Brust wuchs Hoffnung. Aber Vejovis durfte nicht wissen, was wir geplant hatten. Niemand durfte das. Aber vielleicht konnte er mir noch etwas anderes sagen …
„Die Monster sollen uns bei den Kaiser-Wettbewerben nicht töten“, sagte ich schnell, bevor er Rückfragen hätte stellen können. „Aber der Minotaurus hat versucht, mich zu töten.“
„Das hat er.“ Vejovis nickte. „Und das ist sehr beunruhigend.“
„Er war nicht der erste, der das versucht hat“, sagte ich. „Die Chimäre hat ebenfalls versucht, mich zu töten.“ Ich warf Julian einen vielsagenden Blick zu, denn er hatte mir das nicht geglaubt, genau wie die anderen Auserwählten.
„Ich hätte dir glauben sollen.“ Seine Worte erfüllten mich mit großer Genugtuung. „Es tut mir leid.“
„Ich verstehe, warum du daran gezweifelt hast“, sagte ich. „In all den Jahrhunderten, seit die Spiele begonnen haben, hat noch nie ein Monster versucht, einen Auserwählten in einem Kaiser-Wettbewerb zu töten. Und niemand sonst hat meinen Kampf mit der Chimäre gesehen.“ Wahrscheinlich niemand in der ganzen Anderswelt , dachte ich jetzt, wo ich erfahren hatte, dass die Übertragungen zensiert wurden. „Es war viel wahrscheinlicher, dass ich einfach paranoid war.“
„Aber du bist meine Seelenverwandte“, sagte er. „Ich hätte dich nie in Frage stellen dürfen.“
„Mach es bloß nicht noch einmal“, sagte ich grinsend.
„Das werde ich nicht“, sagte er. „Ich verspreche es.“ Dann richtete er seinen Blick wieder auf Vejovis. „Das hätte nie passieren dürfen“, sagte er. „Was werden die Götter nun tun?“
„Was sollen sie denn deiner Meinung nach unternehmen?“, fragte er. „Alle außer einem werden heute sterben.“ Er richtete seinen Blick auf mich. „Wenn du stirbst, spielt das keine Rolle. Wenn du lebst, hast du dir deine Belohnung verdient. Warum die Dinge verkomplizieren?“
„Technisch gesehen wurde ich längst umgebracht“, sagte ich, während sich in meinem Kopf ein neuer Plan formte. „Das sollte bedeuten, dass ich aus den Spielen ausscheide.“
„Ich kann nicht glauben, dass ich noch nicht daran gedacht habe!“ Julians Augen leuchteten auf. „Wir müssen mit Juno reden. Sie dazu bringen, dass …“
„Wenn Juno dich begnadigen wollte, hätte sie es schon getan“, unterbrach Vejovis. „Die Olympier geben keine Fehler zu. Außerdem wollen sie lieber sehen, wie sich die Auserwählten gegenseitig aus den Spielen eliminieren. Die einzige Ausnahme ist, wenn jemand die Regeln bricht und sich damit selbst aus dem Rennen nimmt. Mit weniger werden sie sich nicht zufrieden geben.“
„Offensichtlich würde einer von ihnen das doch“, sagte ich. „Denn nur so konnte der Zauber auf den Monstern gelockert werden, richtig? Das muss ein Olympier getan haben.“
„Diana ist die Göttin, die die Ungeheuer verzaubert“, sagte Vejovis. „Sie ist eine der Barmherzigsten unter den Olympiern. Sie hat keinen Grund, deinen Tod zu wollen.“
Das stimmte nicht.
„Ich habe ihre Auserwählte in der ersten Woche in die Arena geschickt“, sagte ich. „Es ist meine Schuld, dass Molly tot ist.“
Im Augenblick bedauerte ich es sehr, Molly nie richtig kennengelernt zu haben. So, wie ich vieles von dem, wozu ich während der Spiele gezwungen worden war, zutiefst bedauerte.
Ich hatte gelernt, meine Magie zu kontrollieren. Aber die Macht, die mir nun zur Verfügung stand, hatte mich verändert. Zu Beginn der Spiele hatte ich mir geschworen, dass ich niemals Freude am Töten haben würde. Aber seit ich gesehen hatte, wie Cassia von Octavia gefoltert und ermordet worden war, hatte ich mir immer wieder vorgestellt, wie befriedigend es sein würde, mich endlich an ihr zu rächen. Ich erkannte mich kaum wieder. Und das machte mir mehr Angst, als ich zugeben wollte.
„Diana würde dir nicht die Schuld an Mollys Tod geben“, sagte Vejovis. „Die Götter wissen genau, dass ihre Auserwählten die Spiele wahrscheinlich nicht lebend überstehen. Dianas Auserwählte gewinnen selten, und sie hat noch nie einen Spieler für den Tod ihres Favoriten verantwortlich gemacht.“
„Nun, irgendjemand will mich offensichtlich tot sehen“, sagte ich.
„Es ist nicht Diana.“ Vejovis schien sich sicher zu sein, also glaubte ich ihm.
Es hieß, dass die Götter Halbblüter auswählten, die ihnen ähnlich waren. Molly war ausgesprochen lieb gewesen, und sie hatte eine starke Abneigung gegen Gewalt gehabt. Wahrscheinlich war Diana wirklich nicht rachsüchtig.
„Vielleicht nicht Diana.“ Julian starrte Vejovis an, als könnte er mit seinem Blick eine Antwort aus ihm herauspressen. „Aber es gibt elf andere Olympier. Einer von ihnen muss es sein.“
Ich wusste nicht genug über die Götter, um zu erraten, um welchen es sich handeln könnte. Und ihrem Schweigen nach zu urteilen, wussten Julian und Vejovis es auch nicht.
„Es könnte einer der Olympier sein.“ Vejovis zuckte mit den Schultern. „Oder auch nicht. Aber wie ich schon sagte, die Götter wählen seit Jahrhunderten Wettkämpfer für die Spiele aus. Sie haben noch nie eine der Regeln gebrochen. Warum sollten sie jetzt damit anfangen?“
„Aber der Minotaurus hat versucht, mich zu töten.“ Ich setzte mich aufrechter hin, und in meinen Handflächen bildeten sich frustrierte elektrische Funken. „Alle haben es gesehen!“
Wieder Schweigen.
„Ich fürchte, ich bin länger geblieben, als ich sollte.“ Vejovis stand auf, holte einen feuchten Waschlappen und wischte damit die Salbe von meinem Bauch. „So gut wie neu“, sagte er mit einem Lächeln. „Jetzt muss ich mich verabschieden. Ich wünsche euch beiden viel Glück für den letzten Kampf.“