KAPITEL 43

– Selena –

A lles um mich herum verschwamm. Der Boden verschwand unter meinen Füßen, und ich schwebte in einem großen, leeren Nichts. Es war ein ähnliches Gefühl, wie wenn man von einer Hexe teleportiert wurde.

Sekunden später wurde meine Sicht wieder klar. Ich war zurück in dem Glaskasten. Die Tür war geschlossen, und ich starrte auf denselben von Hecken gesäumten Weg wie zu Beginn.

Ich wusste, dass die Götter mächtig waren. Aber hatten sie mich gerade in der Zeit zurückgeschickt?

Ich sah mich panisch um. Felix’ Familie war aus ihrer Box verschwunden. Und Julian saß nicht mehr in der königlichen Loge.

Ich war nicht in der Zeit zurückgeschickt worden. Natürlich nicht. Übernatürliche Wesen waren zu vielem fähig, aber Zeitreisen waren selbst für sie unmöglich.

Bacchus schwebte in seinem Streitwagen über der Mitte des Kolosseums. „Felix, der auserwählte Wettkämpfer der Venus, ist besiegt!“, verkündete er mit dröhnender Stimme. „Seine Seele ist auf dem Weg ins Elysium, wo er bis in alle Ewigkeit als Gott verehrt werden wird. Möge seine Überfahrt in die Unterwelt friedlich verlaufen!“

„Möge seine Überfahrt in die Unterwelt friedlich verlaufen!“, wiederholte das Publikum.

Bacchus schaute ein paar Sekunden lang ernst. Dann grinste er bösartig. „Aber der Spaß fängt gerade erst an“, sagte er. „Wer ist bereit für den letzten Kampf der diesjährigen Feenspiele?“

Die Menge brach in Begeisterungsstürme aus. Feenfrüchte und bunte Rosenblätter schwebten vom Baldachin herab. Sie wurden von gierigen Händen aus der Luft gerissen. Honigwein regnete herab, und die Feen hoben ihre Gläser, um ihn aufzufangen. Es hörte erst auf, Wein zu regnen, als ihre Gläser überquollen.

„Wie ihr wisst, ist dieser Arenakampf anders als die vorherigen“, fuhr Bacchus fort. „Denn die auserwählten Wettkämpfer von Neptun, Mars und Jupiter werden so lange kämpfen, bis nur noch einer von ihnen am Leben ist. Und dieser Auserwählte wird der Gewinner der diesjährigen Feenspiele sein!“

Mehr Beifall. Gläser klirrten aneinander, der Wein wurde getrunken. Zigtausende Füße stampften so heftig, dass der Boden bebte.

„Dieses Labyrinth wird anders sein als das vorherige.“ Bacchus richtete die Spitze seines Zepters nach unten. Violette Magie strömte in dichten, nebligen Wolken aus ihm heraus, bis mein Glaskasten davon umgeben war. Alles, was ich sah, war Lila.

Der Nebel lichtete sich, und es säumten nicht mehr grüne, blühende Hecken den Weg. An ihre Stelle waren krumme, knorrige Äste getreten, die so dicht miteinander verflochten waren, dass sie wie Mauern wirkten. Der Weg war schmaler, dunkler und gruseliger. Ein unheimlicher Schauer lief mir über den Rücken.

Die Götter und die Feen wollen nicht, dass Monster die Auserwählten töten . Daran hatte mich Vejovis vorhin erinnert. Sie wollen sehen, wie die Auserwählten sich gegenseitig töten.

Ich durfte mich von der neuen Umgebung nicht beeinflussen lassen. Die einzige wirkliche Bedrohung in diesem gruseligen Labyrinth würde Octavia sein.

„So ist es besser.“ Bacchus sah ausgesprochen zufrieden mit seinem Werk aus. „Nun … lasst den letzten Kampf beginnen!

Die Glastür schwang auf. Und wie beim letzten Mal verschwand der Lärm der jubelnden Menge, sobald ich den Boden betreten hatte. Ich verschwendete keine Zeit damit, hochzuspringen. Diesmal musste ich schneller sein. Also lief ich den Weg hinunter, bog rechts ab und dann noch einmal rechts. Als ich das dritte Mal rechts abbog, erreichte ich eine Sackgasse.

Ein ozeanblauer, kristalliner Schlüssel tauchte aus den verschlungenen Ästen auf und schwebte in Hüfthöhe vor mir. Er hatte die gleiche Farbe wie Octavias Flügel. Er war etwas größer als meine Hände, und seine Oberfläche war mit verschnörkelten Spiralen verziert.

Was hat das zu bedeuten?

Ich hatte keine Ahnung. Aber Felix hatte sich im letzten Labyrinth ein Schwert genommen, und es schien ihm nichts Schlimmes angetan zu haben. Vielleicht sollte ich ihn nehmen? Es war nur ein Schlüssel. Wie könnte er mir schon schaden? Es fühlte sich nicht richtig an, ohne den Schlüssel weiterzugehen.

Ich blickte zu Prinz Devyn auf, der stoisch in der königlichen Loge saß. Seine Augen waren auf mich gerichtet, aber er machte keine Anstalten, mir irgendeinen Hinweis zu geben.

Vertraue dir selbst und deinem Instinkt. Wenn du das tust, hast du die besten Chancen, die Spiele zu gewinnen.

Das hatte er mir damals gesagt, bevor er mich für die Feenspiele nominiert hatte. Und in diesem Moment sagte mir mein Instinkt, dass ich den Schlüssel nehmen sollte.

Ich lief den Weg hinunter und schnappte ihn mir, bevor ich zu viel darüber nachdenken konnte. Dann hielt ich den Atem an und wartete darauf, dass etwas Schreckliches passieren würde. Aber nichts geschah.

Okay , dachte ich. Es geht dir gut. Vollkommen gut. Es ist nur ein Schlüssel. Er wird dir nicht wehtun.

Ich untersuchte ihn in der Hoffnung, einen Hinweis darauf zu finden, wofür er verwendet werden sollte. Aber da war nichts. Es sah so aus, als müsste ich das Labyrinth weiter erkunden.

Mit dem Schlüssel in der Hand lief ich durch die Gänge und hielt mich an meinen Plan, immer rechts abzubiegen. Kein Tier näherte sich mir, kein Schmetterling landete auf mir, und ich stieß auf keine Gärten oder Lebensmittel. Das dunkle Labyrinth war völlig tot.

Ich hatte kein Gefühl dafür, wo ich war. Doch gerade, als ich überlegte, ob ich meine Schritte zurückverfolgen sollte, bog ich in eine Sackgasse ein. Sie führte direkt zu einer stahlgrauen Holztür. Die Tür war etwas größer als ich und oben abgerundet. An den knorrigen Ästen ringsum wucherten krumme, abgestorbene Ranken. Und ein großes Schlüsselloch befand sich direkt über der Klinke.

Ich rannte nach vorne und steckte meinen Schlüssel hinein. Aber als ich versuchte, ihn zu drehen, rührte er sich nicht. Natürlich nicht. Der Schlüssel hatte die Farbe von Octavia, und die Tür hatte die Farbe von Julian. Ich brauchte wahrscheinlich einen passenden Schlüssel, um die Tür zu öffnen. Und ich wusste zwar nicht, wohin die Türen führen würden, aber ich würde mich viel wohler damit fühlen, durch Julians Tür zu gehen anstatt durch Octavias.

Wozu brauche ich überhaupt einen Schlüssel? , dachte ich, als ich die Elektrizität in meinen Adern rauschen fühlte. Ich kann meine Magie benutzen, um die Tür aufzusprengen.

Ich hob meine freie Hand und schoss einen Blitz auf die Tür. Das Holz verkohlte, aber es zerbrach nicht. Also feuerte ich einen weiteren Blitz ab und legte noch mehr Magie hinein. Wieder hinterließ er nur einen dunklen, verkohlten Kreis.

Frustration machte sich in mir breit, und ich schoss einen Bolzen auf die dichte Wand aus Ästen oberhalb der Tür. Wenn ich schon nicht die Tür durchbrechen konnte, dann vielleicht die Wand. Ein weiterer verkohlter Kreis. Ich verschwendete Zeit. Ich musste Julians Schlüssel finden.

Also verließ ich die Sackgasse und hielt mich weiter rechts, während ich durch das Labyrinth lief. Im Gegensatz zum vorherigen Labyrinth verschoben sich die Wände diesmal nicht. Meine Strategie, mich rechts zu halten, hätte eigentlich funktionieren müssen. Aber es fühlte sich an, als ob es ewig dauern würde.

Endlich stieß ich auf eine weitere Sackgasse mit einem Schlüssel. Einem stahlgrauen Schlüssel. Ich rannte nach vorne und griff nach ihm. Im selben Moment verschwand der ozeanblaue Schlüssel aus meiner Hand und tauchte an der Stelle auf, an der der graue Schlüssel gerade geschwebt hatte. Ich griff nach dem blauen Schlüssel, und der graue Schlüssel nahm wiederum seinen Platz ein.

Ich konnte immer nur einen Schlüssel gleichzeitig mitnehmen. Also schnappte ich mir wieder Julians Schlüssel. Der von Octavia nahm seinen Platz ein, und ich verließ die Sackgasse. Wenn ich zu Julians Schlüssel gekommen war, indem ich immer rechts abgebogen war, dann sollte ich seine Tür wiederfinden, wenn ich jetzt immer nach links ging.

Ich beschleunigte meine Schritte und hielt mich links. Hoffentlich würde ich Julian hinter der Tür finden. Dann könnten wir uns zusammentun und Octavia gemeinsam zur Strecke bringen.

Schließlich erreichte ich die Sackgasse. Die Tür vor mir war ozeanblau . Und sie hatte einen verkohlten Kreis über sich. Ich befand mich an der gleichen Stelle wie zuvor. Aber die Türen hatten sich bewegt.

Ich sah auf Julians Schlüssel in meiner Hand hinunter und wusste, dass er Octavias Tür nicht öffnen würde. Ich versuchte es trotzdem. Er rührte sich nicht.

Mist. Mist, Mist, Mist .

Der Wind peitschte um mich herum, während ich die Tür anstarrte. Wenn ich Irrgärten vorher gehasst hatte, dann verabscheute ich sie jetzt. Aber wütend dazustehen, brachte mich garantiert nicht ans Ziel.

Also rannte ich weiter, den Schlüssel in der Hand. Dieses Mal nahm ich jeden beliebigen Weg, der mir richtig erschien. Ich rannte und rannte und rannte, aber schon bald wusste ich nicht mehr, wo ich war. Ich schwitzte, war noch verlorener und noch frustrierter als zuvor. Die Wege sahen alle gleich aus, und keiner von ihnen führte mich irgendwohin. Schlimmer noch, ich war mir fast sicher, dass ich immer wieder durch dieselben Abschnitte gelaufen war. Und da ich bisher weder Octavia noch Julian begegnet war, vermutete ich, dass ich sie nur finden konnte, wenn ich eine dieser verdammten Türen öffnete.

Ich schoss einen wütenden Blitz gegen die nächstbeste Wand und hinterließ einen schwarzen Kreis. Auf einmal kam ich mir vor wie der größte Idiot der Welt. Weil ich regelmäßig die Wände verkohlen konnte, um zu markieren, wo ich gewesen war. Wie Hänsel und Gretel, nur mit Blitzen statt Brotkrümeln.

Motiviert von der neuen Idee rannte ich weiter und schoss bei jeder Weggabelung Blitze gegen die Wände. Endlich hatte ich das Gefühl, Fortschritte zu machen.

Dann landete ich wieder an der Stelle, wo Octavias Schlüssel in der Luft schwebte. Ich schoss einen Blitz auf die Wand über dem Schlüssel. Es wäre so befriedigend gewesen, den Schlüssel zu pulverisieren, aber ich hatte meine Lektion gleich am ersten Tag der Spiele gelernt – mit den Kugeln. Ich war nicht so weit gekommen, um jetzt disqualifiziert zu werden. Also atmete ich durch und lief weiter.

Schließlich, nachdem ich mir ziemlich sicher war, dass ich alle möglichen Wege ausgeschöpft hatte, fand ich sie endlich. Julians Tür.

Ich steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und öffnete die Tür. Ich wurde von einer Wand aus dichtem grauem Nebel begrüßt. Ich blinzelte und versuchte, hindurchzusehen, aber ich konnte nichts erkennen.

Ich warf einen Blick über meine Schulter. Ich wollte auf keinen Fall weiter in diesem schrecklichen Labyrinth im Kreis herumlaufen. Aber was, wenn das ein Trick war? Was, wenn ich Julian durch seine Tür irgendwie schaden würde?

Ich konnte es nicht wissen. Aber Julians Tür fühlte sich sicherer an als die von Octavia. Sie fühlte sich richtig an. Außerdem hatte ich ewig gebraucht, um mit dem richtigen Schlüssel hierher zu gelangen. Wer wusste, wie lange ich brauchen würde, um Octavias Schlüssel wiederzufinden und zu ihrer Tür zu kommen?

Es war gut möglich, dass Julian und Octavia längt gegeneinander kämpften, während ich mich im Labyrinth verlor und mir Fragen stellte, die ich nicht beantworten konnte.

Der Wind rauschte an meinen Ohren vorbei. Los , konnte ich ihn fast flüstern hören. Also sammelte ich Magie in meinen Händen, richtete meinen Blick geradeaus und trat in den stahlgrauen Nebel.