KAPITEL 46

– Selena –

D ie Menge stand auf und brach in krachenden Jubel aus.

Mein Herz machte einen Sprung. Ich drehte mich zu Julian um und wollte ihn auf der Stelle küssen, egal, wer uns beobachtete. Aber er sah immer noch besorgt aus.

Warum?

Juno hob eine Hand, und die Menge setzte sich wieder. „Nicht so schnell“, sagte sie. „Ich muss noch bekanntgeben, wie diese neue Regel lautet.“

Ich trat näher an Julian heran, und er legte einen Arm um meine Schultern.

Bitte sei eine Regel zu unseren Gunsten , betete ich.

Ich konnte mich nicht dazu durchringen, Julians Familie anzusehen, aber ich war mir sicher, dass auch sie beteten.

„Wenn die seelenverwandten Wettkämpfer die letzten beiden verbliebenen Spieler sind, müssen sie nicht bis zum Tod kämpfen“, sagte Juno.

Jede Zelle meines Körpers erstarrte. Einerseits vor Freude, dass Julian und ich nicht kämpfen mussten. Andererseits in gespannter Erwartung dessen, was Juno als Nächstes sagen würde. Dem Publikum ging es wahrscheinlich ähnlich, denn anstatt wieder aufzustehen, saßen die Leute wie angewurzelt auf ihren Plätzen.

Bacchus lenkte seinen Streitwagen in die Mitte der Arena und ließ sich neben Juno nieder. „Die Spiele können nur einen Sieger haben“, sagte er und lehnte sich träge in seinem Plüschsitz zurück. „Das ist eine der Regeln. Es wäre langweilig, zwei zu haben.“

Juno warf ihm einen tödlichen Blick zu. „Wie die Auserwählten von Jupiter und Mars schon sagten: Es gibt keine Regel, die besagt, dass ich die Regeln nicht ändern darf“, sagte sie. „Und außerdem habe ich dich nicht nach deiner Meinung gefragt.“

Bacchus öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder.

Scheinbar zufrieden wandte Juno sich von ihm ab. „Wie ich bereits sagte, werden die seelenverwandten Wettkämpfer nicht getötet, zumindest nicht sofort“, fuhr sie fort, und mein Herz blieb stehen. ‚Nicht sofort‘ klang nicht gerade positiv. „Sie werden sich einer gefährlichen Herausforderung stellen müssen, um zu beweisen, dass sie es beide verdienen, die Feenspiele zu gewinnen. Wenn sie die Aufgabe erfolgreich bestehen, werden sie leben. Scheitern sie, werden sie sterben.“

Mein Herz pochte wie wild, während mich eine Vielzahl von Gefühlen auf einmal durchströmte. Erleichterung, dass Julian und ich uns nicht umbringen mussten. Dankbarkeit, dass uns Gnade zuteilwurde. Aber auch die Sorge, dass man uns eine unmögliche Aufgabe stellen würde. Den Göttern und den Feen traute ich alles zu.

Aber Julian und ich waren beide stark, und zusammen waren wir noch stärker. Wir würden alles schaffen, was sie uns auftrugen. Wir mussten es schaffen. Es gab kein Entkommen. Die Götter würden uns jagen und vernichten, wenn wir versuchten, zu fliehen. Julian stand felsenfest neben mir, und ich wusste, dass er gerade dasselbe dachte.

Bacchus setzte sich in seinem Wagen auf. Seine Augen leuchteten wieder. „Es gibt wohl Schlimmeres, als Gastgeber einer Prüfung zu sein“, sagte er und nippte an einem Glas Wein, das er aus dem Äther gezogen hatte. „So was ist immer unterhaltsam.“

„Wir brauchen keinen Gastgeber.“ Juno lächelte wissend. „Ich möchte, dass die Wettkämpfer ihre Aufgabe ohne Ablenkung von außen lösen. Das heißt, keine Kugeln und keine Übertragung. Ihr werdet ganz allein auf euren Weg geschickt, um … nun, was auch immer ihr tun werdet.“

Bacchus warf ihr einen bösen Blick zu, widersprach ihr aber nicht.

„Ich möchte, dass die Aufgabe der Anderswelt zugutekommt“, fuhr sie fort, und die Zuhörer murmelten zustimmend. „Deshalb werde nicht ich eure Aufgabe bestimmen. Diese Ehre wird eurer Kaiserin Sorcha zuteil.“

Alle Augen richteten sich auf die königliche Loge, wo Sorcha stolz auf ihrem Thron saß. Die Kugeln schwirrten um sie herum, und ihr Gesichtsausdruck war ungerührt wie immer. Als ob sie das erwartet hätte.

Prinz Devyn wirkte ebenfalls ruhig. Hatte er gewusst, was passieren würde? Hatte er sie vorgewarnt?

„Kaiserin“, sagte Juno. „Brauchen Sie Zeit, um über ihre Aufgabe zu entscheiden, oder wissen Sie schon, was sie tun sollen?“

Sorcha legte den Kopf schief, ihre blassen Augen schimmerten auf hinterhältige Feenweise. „Ich kann mir so viel Zeit lassen, wie ich möchte?“, fragte sie mit ihrer kindlichen Stimme.

„Natürlich nicht“, sagte Juno. „Ein Monat wird ausreichen. Sollen wir uns wieder treffen, wenn Sie bereit sind?“

„Nicht nötig. Ich weiß, was sie tun sollen.“ Sie stand auf, und alle Anwesenden taten es ihr gleich. Juno, Venus und Bacchus waren die einzigen, die sitzen blieben. „Sobald sie das Kolosseum verlassen, werden Julian und Selena aus der Zitadelle verbannt“, sagte sie und sah uns direkt an. „Sie können nur zurückkehren, wenn sie den Heiligen Stab der Ersten Königin zurückbringen.“

Die Menge keuchte kollektiv. Dann: Aufruhr.

„Ein Todesurteil!“, schrie jemand von hinten.

„Da draußen ist die Seuche!“

„Sie werden das nicht überleben!“

„Sie werden bei lebendigem Leib gefressen!“

„Der Heilige Stab ist ein Mythos! Er existiert nicht!“

Während sie untereinander stritten, drehte ich mich mit weit aufgerissenen Augen zu Julian um.

„Was ist los?“, fragte er.

„Es gibt eine Prophezeiung über Avalon“, sagte ich, unsicher, wo ich anfangen sollte. „Es ist zu viel, um es jetzt zu erklären. Aber es geht um einen Heiligen Stab.“

Seine Stirn legte sich in Falten. „Interessant“, sagte er schließlich. „Sobald wir außerhalb der Stadtmauern sind, werden wir Zeit und Ruhe haben. Erzähl es mir dann.“

Ich nickte, zu verblüfft, um noch mehr zu sagen. Denn die Leute im Publikum, die meinten, dass es den Zauberstab nicht gäbe, hatten Unrecht. Die Vision unserer Prophetin vor all den Jahren wäre sonst ein zu großer Zufall gewesen.

Sorcha starrte das zankende Publikum an, bis es von selbst zur Ruhe kam. Sobald sie schwiegen, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Julian und mir zu. „Meine Entscheidung ist endgültig“, sagte sie und schenkte uns ein kleines, ermutigendes Lächeln. „Ich wünsche euch beiden viel Glück.“